Materialien 1946

Offener Brief an die Gewerkschaftsmitglieder

Kolleginnen und Kollegen!

In der heutigen Zeit der Zwangsbewirtschaftung fast aller lebensnotwendigen Güter ist wohl keinem von Euch der Weg zu einer Dienststelle erspart worden, sei es die Inanspruchnahme der Lebensmittel-Verteilungstelle, des Wirtschaftsamtes oder sonst einer Dienststelle. an die Ihr berechtigte Wünsche oder Forderungen heranzutragen hattet.

Ihr habt mit vielen Mitmenschen Schlange gestanden, seid oft nach stundenlangem, vergeblichem Warten an die Reihe gekommen und vielfach – ohne den Zweck Euerer Bemühungen zu erreichen – wieder nach Hause gegangen. Ihr habt dies selbstverständlich als eine unbillige Härte em-
pfunden, Ihr habt aus Euerer Meinung kein Hehl gemacht und – geschimpft. Ihr habt Euch die Schimpfkanonaden auch der anderen Leute angehört und der Vorwurf der Gleichgültigkeit oder der Unfreundlichkeit war wohl der geringste, welcher der betreffenden Dienststelle gemacht wurde. Aber viele von Euch gingen weiter – Bestechlichkeit, Schieberei, „Nazi“-Methoden, Drohungen – das ist nur eine kleine Auslese aus dem Blütenstrauß der „Liebenswürdigkeiten“,
die an die Dienststellen herangetragen wurden.

Aber in diesen Dienststellen sitzen Menschen hinter den Schaltern; Menschen wie Ihr, die unter den heutigen Entbehrungen und Nöten ebenso unverschuldet zu leiden haben: Frauen, deren Männer oder Söhne noch vielfach in Gefangenschaft sind und von denen sie nicht wissen, ob und wann sie einmal nach Hause kommen; Frauen, die „nebenbei“ noch Kinder und einen Haushalt
zu versorgen haben; Frauen, die alleinstehen und im harten Kampf ums tägliche Brot arbeiten; Männer, die Familienväter sind wie Ihr und die gleichen Sorgen und Lasten tragen; Männer, die wie Euch der Wahnsinn eines Hitler auf die Schlachtfelder jagte, und die heute unter der schweren körperlichen und seelischen Belastung der Kriegsversehrten ihren Dienst versehen; Männer, die durch das Inferno der Konzentrationslager gingen oder den Verfolgungen des Naziregimes ausgesetzt waren.

Und die überwiegende Zahl dieser Frauen und Männer bemüht sich redlich, ihren Dienst so zu
tun, wie man es billigerweise von ihnen erwarten und verlangen kann, sie gehören ja zu Euch, sie kennen Euere Nöte und Sorgen, die ja auch die ihrigen sind, und haben Verständnis dafür, sie begreifen Euere Wünsche und Forderungen und tun sie nicht mit einem Achselzucken ab.

Ausnahmen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Ist dies aber ein Grund, gegen alles Krieg zu führen, was Amt oder Behörde heißt, diese Männer und Frauen maßlos zu beleidigen, zu beschimpfen und zu bedrohen oder es zuzugeben, dass dies an „anderen“ geschieht?

Ihr seid doch Gewerkschaftler, und wenn Ihr es nicht nur dem Namen nach seid und die klägliche Rolle des „Mitläufers“ spielt, dann habt Ihr Euch doch auch um die Zusammensetzung der Ge-
werkschaft interessiert. Dann aber wisst Ihr auch, dass unter den Männern und Frauen „hinter dem Schalter“ eine ganze Reihe solcher sitzt, die nicht nur mit Euch allen Not und Sorgen dieser Zeit auf sich lasten fühlen, sondern auch gewerkschaftlich zu Euch gehören, Euere Kollegen sind, Euere Gefährten, die auch hier mit Euch am gleichen Strang ziehen und mit Euch in und für unsere Gewerkschaft arbeiten.

Denkt wenigstens Ihr daran, Kolleginnen und Kollegen. wenn Ihr mit diesen Männern und Frauen zu tun habt, übt auch hier die Solidarität, die die Gewerkschaftler verbindet und sie zu dem Faktor werden lässt, der bestimmend in unser soziales und wirtschaftliches Leben eingreift und in seiner Achtung vor dem schaffenden Menschen der Träger einer wahren Demokratie ist.

gez. Eduard Meyer
Betriebsratsvorsitzender des Ernährungs- und Wirtschaftsamtes der Stadt München


Gewerkschaftszeitung. Organ der Bayerischen Gewerkschaften 4 vom 5. Oktober 1946, München, 10.