Materialien 1946

Von der Prinzregentenstraße aus ...

gelangt man in wenigen Minuten zum Königsplatz

… Ein Musikkorps ist bemüht, Aufstellung zu nehmen. Der kalte Sonnenschein funkelt in den Instrumenten, und aus dem Mund der Bläser strömt ein weißer Nebel. Geht man über diesen unendlichen Platz mit seinem Belag aus gewaltigen Quadersteinen, dann wird man das Gefühl nicht los, dass man sich innerhalb eines Hauses bewegt, die übergroße Vorhalle eines verschlos-
senen Schlosses betritt, von dem man gelegentlich zu träumen pflegt. Deshalb wirken auch die schweren amerikanischen Lastwagen, die in schneller Fahrt längs der weißen Verkehrsschleifen unter dem Triumphbogen hindurchfahren in dieser Umgebung mehr als verlogen.

Vor dem Musikkorps haben sich ein paar hundert Menschen eingefunden. Sie bibbern vor Kälte. Bei ihnen steht auch ein weiblicher amerikanischer Korrespondent in Uniform, eines jener selt-
samen Wesen, die mit der Kamera auf die Welt gekommen zu sein scheinen. Zwei Lastwagen sind hinter dem Musikkorps aufgefahren und bilden mit ihren aneinandergereihten Ladeflächen für Journalisten und Redner eine Tribüne. Allmählich füllt sich der Platz und gegen zehn Uhr stehen zehntausend Menschen da und warten.

Das Musikkorps intoniert einen Marsch, der in der Kälte zittert und Münchens Journalisten spitzen ihre Federn. Diese Vertreter von merkwürdigen und tapferen Zeitungen, denen es an Telephonen, Schreibmaschinen und Arbeitsräumen fehlt, die aber trotzdem auf eine fast mystische Weise zustande kommen. Sie werden in Kellern gedruckt, wo einem das Wasser bis zum Knöchel steht, wenn es regnet und wo das Druckereipersonal in Gummistiefeln herumlaufen muss …

Die Journalisten spitzen also ihre Federn, das Gemurmel verstummt, die Musik schweigt. Über die Lautsprecher heißt ein Mann irgendeinen anderen willkommen, der den Mantel abgelegt hat, sich erhebt und über das Podium steif zum Mikrophon geht. Es wird noch stiller. Totenstill wird es. Etwas von der Spannung vor einem noch nicht abgefeuerten Pistolenschuss vibriert oberhalb des Münchener Königsplatzes in der kalten Luft.

Der Mann, der vor dem Mikrophon steht, ist Doktor Kurt Schumacher, Vorsitzender der deutschen Sozialdemokraten.

Als er dann mit seiner Rede einsetzt, wird der eingetretene Zauber gebrochen. Man versteht, warum er seinen Mantel abgelegt hat. Doktor Schumacher ist ein Redner, der auch im Jackett sprechen kann, ohne zu frieren, obwohl es zehn Grad kalt ist. Im Kästner-Kabarett der Schau-Bude kommt eine Schumacherkarikatur vor: Ein neuer Führer, der wie der alte mit den Armen fuchtelt und mit derselben Hysterie aufheult. Die Karikatur geht schon deshalb daneben, weil dieser „neue Führer“ zwei Arme, Doktor Schumacher aber nur einen Arm hat. Diesen aber benutzt er auf eine faszinierende Weise. Außerdem ist es nicht wahr, dass Doktor Schumacher schreit. Das, was bei ihm einen so starken Eindruck macht, ist eher seine zurückhaltende Leidenschaft, seine geradezu störrische Haltung, sein vollkommener Mangel an Sentimentalität im Ton. Dieser wiederum er-
laubt es ihm, Sentimentalitäten zu sagen, die wie bittere Wahrheiten klingen. Und seine knorrige Bärbeißigkeit, die so leicht mit Verlässlichkeit verwechselt werden kann, erlaubt es ihm zuweilen, Halbwahrheiten zu sagen, die sich wie ganze Wahrheiten anhören.

Doktor Schumacher wird auch von den politischen Gegnern als eine ehrenwerte Persönlichkeit betrachtet und besitzt ohne Zweifel eine wirklich redliche Kühnheit. Aber trotz allem verkörpert er auf seine Weise die Tragödie des deutschen Politikers, und die besteht hier darin, dass er ein so guter Redner ist. Während er redet, bekommt man den Eindruck, dass Doktor Schumacher von seinem Publikum verführt wird, dass die herben Formulierungen, die er reichlich einfließen lässt, mehr ein Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen seinen eigenen Stimmungen und denjenigen des Publikums sind als die Frucht seiner eigenen Reflexionen und politischen Erfahrung.

Es kann ihm natürlich nicht entgangen sein, dass seine Stellung gefährlich ist, ja sogar lebensge-
fährlich, weil er zum Vermittler von Stimmungen wird, die von Grund auf nicht mit der politischen Linie seiner Partei übereinstimmen. Es wäre naiv anzunehmen, dass diese Zehntausend da auf dem Königsplatz lauter Sozialdemokraten sind, wenn darüber Beifall ausbricht, dass Doktor Schumacher von „den sieben Millionen Kameraden in der Gefangenschaft“ spricht, wenn er bei dem schändlichen Münchner Abkommen verweilt (das ist hier besonders effektvoll, stehen doch die zehntausend Zuhörer mit dem Rücken zu jenem Gebäude, in dem es unterzeichnet worden ist), wenn er die Saar zurückfordert, das Ruhrgebiet, Ostpreußen und Schlesien. Es ist auch eine Illusion zu glauben – und das ist noch mehr zu beklagen – , dass sich die Mehrzahl dieser Zehntau-
send auch nur ein bisschen um die demokratischen Ideale kümmert, die Doktor Schumacher unter anderem auch verkörpern will. Die Erklärung für Doktor Schumachers Erfolge als Politiker und die Erklärung dafür, dass er zusammen mit Churchill im Herzen vieler zweifelnder Deutscher einen Platz eingenommen hat, der beim Zusammenbruch vakant geworden war, liegt vor allem darin, dass es ihm geglückt ist, eine gemeinsame Wellenlänge zu finden, auf der sich so gut wie alle Deutschen, unabhängig von ihrer politischen Einstellung, verständigen können. Die Einseitigkeit in Doktor Schumachers politischer „Verkündigung“ macht diese auch für Deutsche akzeptabel, die immer noch nicht ihren Nazismus überwunden haben und dies auch gar nicht wünschen. Hält man an der Annahme fest, die einige Wahrscheinlichkeit für sich hat, dass nämlich der Fall Schumacher in gewisser Weise ein Fall der Verführung eines sehr geschickten Redners durch das Publikum ist, dann drückt sich dieses Phänomen hier in München so aus, dass sich der Redner von Anfang an gegen jeden Einwand von Seiten seiner Zuhörer verwahrt. Das heißt: Er hält sich stur an die terri-
torialen Ungerechtigkeiten, die auch die gleichgültigste deutsche Masse als empörend empfinden muss. Nur ein einziges Mal kommt aus dieser Volksmenge ein schwacher Protest. Es ist ein Kom-
munist, der den Russen Ostpreußen überlassen will. – Die sind wegen mir hierher gekommen. Die wollen mich hören und nicht dich, antwortet Doktor Schumacher mit knurrigem Humor und unge-
fähr neuntausendsiebenhundert Lacher stehen auf seiner Seite.

Ja, Doktor Schumacher ist ohne Zweifel seiner Partei von großem Nutzen, aber es stellt sich dabei die Frage, ob er vielleicht nicht zu gut ist, das heißt – gefährlich. Das gilt in erster Linie nicht für seine Ansichten, die schließlich auch von Neumann in Berlin, Paul Löbe und von anderen füh-
renden Leuten der Sozialdemokratie ganz offen vertreten werden. Sondern diese Gefährlichkeit kommt aus seiner enormen Popularität, die der Partei vielleicht Wahlsiege sichert, aber man muss doch dabei fragen — was sind das für Siege?

Es ist nämlich ein frommer, aber riskanter Selbstbetrug, wenn die deutsche Sozialdemokratie ihre Wahlerfolge als einen Beweis dafür wertet, dass das deutsche Volk für die Demokratie eintritt. Denn in den sozialdemokratischen Wählerscharen gibt es durchaus Leute, die von dem Gedanken geradezu entzückt sind, deutschnationale Ansichten dadurch behaupten zu können, dass sie einer demokratischen Partei ihre Stimme geben …

Als Doktor Schumacher seine Rede beendet hat, kann ein jeder erkennen, wie hilflos doch dieser großgewachsene und gebrechliche Mann mit dem vergrämten Gesicht ist. Die Rede hat ihn auf-
rechterhalten, die Rede hat ihn erwärmt, jetzt sinkt er plötzlich in sich zusammen. Irgend jemand eilt hinzu, wickelt einen Schal um seinen Hals und hilft ihm in den Mantel. Allein begibt er sich auf dem Wege zu seinem Auto in die Volksmenge. Er wird gegrüßt, kümmert sich aber nicht darum. Man bestürmt ihn mit Fragen, auf die er keine Antwort gibt. Es ist der Tag vor seiner Abreise nach England und irgend jemand ruft: „Vergeßt nicht, Doktor Schumacher, all das auch in London zu sagen!“ Doktor Schumacher nickt, lächelt aber nicht …

Man kann diesem begabtesten deutschen Politiker, der gleichzeitig mit den reinsten Händen dasteht, wohl kaum seine Ansichten über die Ungerechtigkeiten anlasten, welche die alliierte Politik heute in Deutschland treibt. Nämlich die Produktion durch schlecht organisierte Demonta-
ge zu lähmen, den Deutschen Almosen in Gestalt von Lebensmitteln zu geben, anstatt der deut-
schen Friedensproduktion auf die Beine zu helfen, damit die Deutschen ihre Lebensmitteleinfuhr selbst bezahlen können, und dann die Kriegsgefangenen zu Zwangsarbeit zu nötigen, was gegen die Haager Landkriegsordnung verstößt. Auch das ist ein höchst ungeeignetes Mittel, dem deutschen Volke beizubringen, diese Ordnung für alle Zeiten zu respektieren; von den harten Grenzverände-
rungen nicht zu reden, welche vitale deutsche Interessen bedrohen.

Was man aber nun endlich gegen Doktor Schumacher einwenden kann, ist, dass er in seinen Weltuntergangspredigten gegen die Siegermächte eine begrenzte nationale Perspektive statt einer sozialistischen und internationalen entwickelt. Dagegen kann zwar eingewandt werden, dass es berechtigte nationale Forderungen gibt, die nichts mit Nationalismus oder Chauvinismus zu tun haben. Aber hat uns nicht gerade das deutsche Schicksal gelehrt, dass die Grenze zwischen der Propaganda für nationale Interessen und dem manifest gehässigen Nationalismus in Deutschland dafür dazusein scheint, um überschritten zu werden? Sollte es nicht gerade Teil einer demokrati-
schen Erziehung sein, die im übrigen seltene Kunst zu lehren, diese Grenze intakt zu halten?“


Stig Dagerman, Deutscher Herbst ’46, Köln-Lövenich 1981, 105 ff.

Überraschung

Jahr: 1946
Bereich: SPD

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