Materialien 1947
Not
Die Zerstörungen durch den Krieg waren in Bayern auf die großstädtischen Ballungsgebiete Mün-
chen, Würzburg, Nürnberg und Augsburg konzentriert. Die Lebensmittelversorgung Münchens wäre im Vergleich zu anderen Großstädten günstiger ausgefallen, wurde aber durch den über-
durchschnittlichen Flüchtlingszustrom negativ beeinflusst.
Ende Juni 1945 hielten sich 20.000 in erster Linie sudetendeutsche Flüchtlinge in München auf, in Bayern waren es 1,5 Millionen.1 Ende August 1946 lebten 28.026, Ende Februar 1947 43.925, Ende März 45.452 und am 1. Januar 1948 47.020 Flüchtlinge in München, dies waren über fünf Prozent der gesamten Einwohnerzahl.2
Der Bedarf an lebenswichtigen Gütern übertraf das Produktionsvermögen bei weitem, so dass auch durch amerikanische Interventionen versucht wurde, die industrielle Produktion sehr schnell zu reaktivieren. Das Bewirtschaftungssystem der Behörden, eine Verwaltung des Mangels, vereinigte die Erfassung von Roh- und Hilfsgütern der Produktion, ihre Zuteilung an Produzenten, die Erfas-
sung der Produkte und die Verteilung an die Verbraucher.3 Die Gewerkschaften sahen ganz im Ge-
gensatz zu ihrer Tradition zunächst in einer Ausweitung der Produktionssteigerung den Weg, die dringendste Not zu lindern. Dies konnte natürlich nur über die Disziplinierung der Arbeitskraft geschehen.
Die Gewerkschafter Schiefer und Reuter fuhren November/Dezember 1946 ins oberbayrische Re-
vier und beschworen die Knappen, mehr Kohle nach München zu liefern. Die erste Antwort war sehr negativ. Die Bergarbeiter verwiesen darauf, dass in der Stadt überwiegend nicht gearbeitet, sondern schmarotzt und geschoben werde, wieso also sollten sie da Sonderschichten fahren. Auf der Rückkehr nach München dachte Schiefer über eine Art von Arbeitsdienstpflicht nach.4
Der im Winter 1946/47 infolge der Schwäche des Verteilungssystems auf das Niveau des Vorjahres gesunkene Standard der Produktion erholte sich erst wieder im Herbst 1947. Die geplanten Kür-
zungen der Lebensmittelrationen führten zu heftigen Protesten in den Betrieben. „In kurzen loka-
len ‚Proteststreiks’ kam der Unwille (der Bevölkerung, d.V.) zum Ausdruck. Um die Bewegung in geordnete Bahnen zu lenken und unseren Forderungen an die Bayerische Staatsregierung einen größeren Nachdruck zu verleihen, beschloss der Bundesausschuss für Freitag, den 23. Januar, eine 24stündige Arbeitsruhe.“5
Auf der Kundgebung erschallten Rufe nach Sozialisierung und Bodenreform; die Hungerdemon-
stration mündete in politischen Protest.6 Unter dem Druck der öffentlichen Meinung wurden die Kürzungen zum Teil zurückgenommen; das Bayerische Wirtschaftsministerium gestand den Ge-
werkschaften 20 bis 30 Prozent der Mitglieder in den Beiräten der bestehenden Landesvertretun-
gen zu.7 Wirkliche Verbesserungen bei der Lebensmittelversorgung waren aber nicht in Sicht.
Für die Gewerkschaften kam in der Folge ein weiterer Streik nicht in Frage. Sie balancierten zwi-
schen der letztendlichen Befehlsgewalt der Militärregierung und dem berechtigten Unwillen der Mitgliedschaft, sie rangen einerseits um nachhaltige Verbesserungen8 und wussten andererseits um ihre Verantwortung für die Versorgungslage der Bevölkerung, die durch Streiks zusätzlich verschärft wurde: „ Wir können uns im Augenblick nicht dazu entschließen, von dem letzten Mit-
tel, nämlich dem Streik, Gebrauch zu machen.“9 Schließlich war man ja von den Lebensmittelim-
porten der Amerikaner abhängig und durfte sie nicht verstimmen.
Das im Frühsommer 1947 durch das Office of Military Government of US-Zone (OMGUS) erlas-
sene Brauverbot löste bei allen Gewerkschaftern, dem Brauwirtschaftsverband und dem Brauer-
bund einen Proteststurm aus. Der Gewerkschafter Georg Fiederl versprach „zusammen mit den Brauwirtschaftsverbänden alles (zu) tun, was geeignet ist, der bayerischen Arbeiterschaft das wenn auch fragwürdige Volksgetränk Bier zu erhalten.“10 Bis in den Frühsommer 1947 wurde Bier mit 1,5 bis 1,7 Prozent Stammwürze getrunken.11 Sowohl der Vorstand des Bayerischen Gewerk-
schaftsbundes (BGB) als auch Fiederl wandten sich an den bayerischen Militärgouverneur Murray D. van Wagoner, der ihnen verständnisvolle Unterstützung zusagte.
Im Sommer 1946 fiel zu wenig Regen; die Ernte war dürftig. Versprochene Einfuhren blieben aus, und das Bewirtschaftungssystems funktionierte kaum. Die Ernährungslage wurde katastrophal. Die Münchner Gewerkschafter überzeugten die Militärregierung davon, dass die gelieferten Lebensmittel nicht ausreichten, um den Mindestbedarf eines Arbeiters mit achtstündiger Arbeits-
zeit zu decken.12 Mit nahezu wertlosen Reichsmark war auf dem Schwarzen Markt in der Möhl-
straße nichts zu bekommen, nur der Tausch mit Sachwerten war profitabel. An das Landwirt-
schaftsministerium appellierten die Gewerkschaften daher, die Ablieferungspflicht auf dem Lande zu verbessern.
Zwar hatten die gewerkschaftlichen Vertreter in den Beiräten der Bewirtschaftungsstellen keinerlei Einfluss, doch konnten sie immerhin dem BGB Einblicke in die Entscheidungsprozesse der Bewirt-
schaftung vermitteln, die die Gewerkschaftsführung darin bestärkten, dass auch durch Streiks keine nachhaltige Verbesserung der Ernährungssituation erreicht würde.
In den meisten Münchner Betrieben war im Frühjahr 1947 die 45- bis 48-Stunden-Woche trotz der reduzierten Leistungsfähigkeit infolge des Nahrungsmangels üblich. Die Aktion der Gewerkschaf-
ten „Hunger zwingt zur 40-Stunden-Woche“ wurde begleitet von Verhandlungen mit Arbeitge-
bern13 im Zentralausschuss für Arbeitsbedingungen im Arbeitsministerium.14 Die Arbeitgeberor-
ganisationen weigerten sich zunächst, tarifliche Abschlüsse zu tätigen. Nachdem der Gewerkschaf-
ter Lorenz Hagen mit der Streikbereitschaft der Gewerkschaftsmitglieder drohte, konnte eine Vereinbarung getroffen werden, die die wöchentliche Arbeitszeit auf 40 Stunden mit Ausnahme besonderer Wirtschaftszweige bei teilweisem oder vollem Lohnausgleich und der Beibehaltung der Zahl der Lebensmittelzulagekarten regelte.15
642 Münchner Betriebe mit 68.118 Arbeitnehmern gingen zur 40-Stunden-Woche über, 143 Be-
triebe mit 163.182 Beschäftigten erhielten bei einer Arbeitszeit von 45 bis 48 Stunden zusätzliche Lebensmittelrationen von täglich 300 Kalorien, sogenannte „Mehrproduktionszulagen“ (Mepro).16 Da die Aktion „Hunger zwingt zur 40-Stunden-Woche“ bei verkürzter Wochenarbeitszeit einen vollen oder teilweisen Lohnausgleich erbrachte, ordnete OMGBY eine Kündigung der Mepro-Ver-
einbarungen für den 30. September 1947 an, da dies gegen die Bestimmungen der Direktive 14 verstieß.17 Die Enttäuschung angesichts des Beginns erfolgversprechender Verhandlungen zwi-
schen den zukünftigen Tarifpartnern unter der Federführung des Arbeitsministeriums war groß. Immerhin: Bis zum 30. September hatte man einen kleinen Erfolg erzielt. Um die Ernährungslage zu verbessern, setzten die Gewerkschaften auch auf konzertierte Aktionen. Aber viele Münchner Gewerkschaftsmitglieder kritisierten die auf Drängen der Gewerkschaften am 19. Mai 1947 gegrün-
dete Arbeitsgemeinschaft zwischen dem Bayerischen Bauernverband18 und dem BGB; sie be-
fürchteten einen Verzicht auf die Interessenvertretung der Verbraucher gegenüber den Erzeugern und den Verzicht auf eine Bodenreform.19
Auf einer Großkundgebung des Bauernverbandes und des BGB am 21. Juli 1947 im Kongreßsaal des Deutschen Museums verwiesen der Präsident des Bauernverbandes Dr. Fridolin Rothermel und Alois Schlögel, der Generalsekretär des Verbandes und spätere Landwirtschaftsminister (26. Februar 1948 bis 14. Dezember 1954) unter Dr. Hans Ehard, Hagen und Reuter auf ihre grund-
sätzliche Übereinstimmung. Am 5. September 1947 stellte die Arbeitsgemeinschaft ein Notpro-
gramm zur Behebung der Folgen der großen Trockenheit des Sommers 1947 auf, das aber nur gewerkschaftliche und bäuerliche Forderungen – soweit sie übereinstimmten – wiedergab.
Wo Gegensätze vorhanden waren, wurden sie elegant umschifft. So blieb es bei einem Appell, den landwirtschaftlichen Dienstboten ausreichend Lohn zu gewähren, der in der Forderung verpackt war, bäuerliches Eigentum und Rentabilität zu sichern.20 Kommissionen, die vom Landwirt-
schaftsministerium eingesetzt waren und aus Vertretern der Ernährungsämter, des Bauernverban-
des und der Gewerkschaften bestanden, registrierten nach Hofbegehungen bis zum 13. November 1947 rund 60 Prozent des Gesamtbedarfs an Kartoffeln für München.21 Sie stellten alle Kartoffel-
mengen fest und erfassten, was über den Selbstverbrauch und die für die neue Aussaat benötigte Menge von Saatkartoffeln hinausging.
Für 1948 initiierte der bizonale gewerkschaftliche Ernährungsausschuss, in dem von Seiten des BGB Bachmann und der Vorsitzende der Landesgewerkschaft Land- und Forstwirtschaft Hans Hörner darauf drangen, ein neues Erfassungssystem für die Landwirtschaft in der Bizone. Ein einheitliches „Getreidemaß“, das allen anderen landwirtschaftlichen Produkten kompatibel war, setzte das Gesamtablieferungssoll für den Betrieb fest. Prämien kompensierten eine Übererfül-
lung.22
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1 Vgl. Bayerisches Statistisches Landesamt (Hg.), Statistisches Handbuch für Bayern, München 1946, 17.
2 Vgl. Statistisches Amt der Landeshauptstadt (Hg.), Münchner Statistik 2/1947, 72, 30; 3/1948, 55; 4/1948, 79.
3 Vgl. Die Quelle 1/1984, 2 ff. – Im Spätherbst 1945 erhielt ein erwachsener Münchner pro Monat im Durchschnitt 800 g Fleisch, 400 g Fett, 125 g Käse, 600 g Nährmittel, 500 g Zucker, 30 g Mehl. Vgl. Schröder, a.a.O., 34.
4 Vgl. Stadtrat, 10.12.1946, 1701 f., Bürgermeister und Rat, Stadtarchiv. – Der erste große Konflikt zwischen Arbeitern und Gewerkschaft war die Abstimmung der Ruhrbergarbeiter über den Vorschlag der Gewerkschaftsführung der IG Bergbau, Sonderschichten zu fahren. 89,9 Prozent votierten im November 1946 dagegen.
5 Geschäftsbericht des Bayerischen Gewerkschaftsbundes für 1947, 71.
6 Rudolf Stescal zum Verfasser am 19.5.1983.
7 Vgl. 4. Bericht des Vorläufigen Ausschusses der Bayer. Gewerkschaften an Loriaux, Manpower OMGB vom 8.1.1947, Manuskript, 1, OMGBY 13/35-3/1. – Dieser Teilerfolg und die im Februar 1947 erstreikte Mitbestimmung in der Montan-Industrie der britischen Zone hätte den „Zusammenhang zwischen Massenaktionen und gesellschaftspolitischen Erfolgen“ zeigen müssen. W. L. Bernecker, Die Neugründung der Gewerkschaften in den Westzonen, in: J. Becker/T. Stammen/P. Waldmann (Hg.), Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Kapitulation und Grundgesetz, München 1979, 282.
8 Vgl. Besprechung mit dem Staatsminister für Ernährung Dr. Baumgartner am 27.2.1947, in Nachlass Dr. Josef Baum-
gartner, Bd. 105, IfZ.
9 Reuter im Rundschreiben Nr. 9, Serie A, Informationsdienst des Vorläufigen Ausschusses der Bayerischen Gewerk-
schaften vom 28.2.1947, Ordner „Bayerischer Gewerkschaftsbund 1947/48“, Archiv des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Düsseldorf (DGBA).
10 Die Quelle 1/1948, 14.
11 Vgl. Geschäftsbericht, a.a.O., 168.
12 Vgl. Geschäftsbericht, a.a.O., 71.
13 Die Unternehmer bildeten zwei noch provisorische Gruppen. Die eine plante reine Unternehmerverbände, wie sie vor 1933 existierten, die andere erstrebte „sozialrechtliche Arbeitsgemeinschaften, gebildet aus den Vereinen der gewerblichen Wirtschaft“. Communique des Bundesvorstandes des BGB vom 26.5.1947, Manuskript, 1, OMGBY 13/35-3/15, BayHStA.
14 Vgl. Geschäftsbericht, a.a.O., 80.
15 In der Metallindustrie wurde dies durch Betriebsvereinbarungen schon Monate vorher festgelegt. Vgl. Geschäftsbericht, a.a.O., 165.
16 Vgl. Entwurf: Der O.A. München 1950, a.a.O., 8 und Der Bayerische Gewerkschaftsbund. Vorgeschichte und Geschichte, a.a.O., 4 f.
17 Vgl. Geschäftsbericht, a.a.O., 80 f.
18 Es dürften vor allem die genossenschaftlich organisierten Bauern gewesen sein, die das Bündnis befürworteten. Vgl. Gewerkschafts-Zeitung 20/1947, 9.
19 Vgl. Geschäftsbericht, a.a.O., 73.
20 Vgl. a.a.O., 73 ff.
21 Informationsdienst Sonderrundschreiben des BGB Bundesvorstands vom 13.11.1947, Ordner „Bayerischer Gewerk-
schaftsbund 1947/48“, DGBA.
22 Vgl. Geschäftsbericht, a.a.O., 70.
Günther Gerstenberg, Trümmer, Hunger, Solidarität. Gewerkschaften in München von 1945 bis 1950, Münchner Skizzen 2, München 1997, 46 f.