Materialien 1947
Wir kamen nach Deutschland ...
mit dem erklärten Ziel, dem Volke die Demokratie zu bringen oder ihm wenigstens zu helfen, sich eine Demokratie zu schaffen. Aber Deutschland ist ein ganz besonderes Land. Es ist so besonders geartet, weil es seit der blutigen Unterdrückung seines Bauernaufstands im Jahre 1525 niemals fertiggebracht hat, eine erfolgreiche demokratische Revolution zu machen. Die Versuche in den Jahren 1848 und 1918 ergaben keine wirklichen Veränderungen. Ähnlich wie in Japan, wurde das moderne Kartellsystem auf die Reste des alten, nie ganz beseitigten Feudalismus aufgepfropft. Und wie die Japaner an ihren Tenno glauben, so sehnte sich der Durchschnittsdeutsche nach einem Führer, der ihm die Verantwortung abnehmen und ihm gestatten würde, das zu sein, was ihm am bequemsten war – ein kleiner Mann, der die größtmögliche Zahl von Befehlen und Anordnungen gerne entgegennimmt, solange man ihm nur die kleinstmögliche Last an Eigenverantwortung aufbürdet.
Es ist aber viel leichter, über eine Masse von kleinen Leuten zu herrschen als über eine gleich große Zahl von verantwortungsbewussten Bürgern. Die Versuchung unserer Militärgouverneure, das Katzbuckeln eines Haufens von Ja-Sagern als einen Erfolg ihrer Regierungstätigkeit zu betrachten, ist entsprechend groß – besonders da unsere Militärregierung in der Mehrzahl aus Militärs be-
steht, die sowieso wenig Verständnis für widersprechende Meinungen haben.
Aber nur ein wirklich demokratisches Deutschland wird ein friedliches Deutschland sein. Wenn wir, die alliierten Armeen, Deutschland nicht auf Dauer besetzt halten wollen, müssen wir diesem Lande endlich die so lange versäumte demokratische Revolution ermöglichen. Diese Revolution muss nicht notwendigerweise blutig sein. Sie kann herbeigeführt werden durch grundlegende ökonomische, agrarwirtschaftliche und administrative Reformen und eine vollständige Umgestal-
tung des deutschen Erziehungssystems – wobei nicht nur das Lehrpersonal, sondern das eigent-
liche Wesen dieses Systems geändert werden müssen.
Schon einmal in der Geschichte brachte eine fremde Armee eine Revolution nach Deutschland. Aber Napoleon, der nach 1804 seinen Gesetzescode und die französische Landreform über den Rhein trug, machte vor der Elbe halt. Und selbst in seiner eigenen Besatzungszone tat er keine gründliche Arbeit, da er selber bereits aufgehört hatte, der Vorkämpfer der Revolution zu sein, die ihn geschaffen hatte.
Wir aber könnten diese Arbeit leisten. Das würde natürlich bedeuten, dass Schluss gemacht wird mit der Bequemlichkeit der Armsessel der Militärregierung, und für die meisten unserer höheren Offiziere würde so etwas radikal und überhaupt erschrecklich erscheinen. Denn diese Arbeit, nimmt man sie wirklich ernst, würde in der deutschen: Bevölkerung eine echte demokratische Aktivität entstehen lassen und würde sich mitunter auch gegen unsere eignen Befehle und Ver-
ordnungen kehren. Aber dies wäre eine gesunde Opposition, entstanden aus einem neugebo-
renen deutschen Verantwortungsbewusstsein und aus einer wahrhaften Bereitschaft, mit uns zusammenzuarbeiten – statt der schlauen, hinterhältigen Opposition der notdürftig demokratisch Übertünchten, mit der wir es jetzt zu tun haben.
Der zweite Grundwiderspruch in unserer Besatzungspolitik ergibt sich also aus der besonderen geistigen Haltung so vieler Deutscher, die geprägt ist durch ihre mangelnde revolutionäre Ver-
gangenheit, wie aus unserer eigenen, sehr menschlichen Neigung, den leichter gangbaren Weg zu wählen. Aber wir können nicht Demokratie in Deutschland schaffen wollen und zugleich uns mit der Unterwürfigkeit des kleinen Mannes begnügen.
Stefan Heym, Wege und Umwege, Streitbare Schriften aus fünf Jahrzehnten, Frankfurt am Main 1983, 177 f.