Materialien 1947
Christian Dior führt den kurzen Rock ein
Wissen Sie, was mir neulich aufgefallen ist? Dass sich eigentlich niemand mehr wegen der Mode aufregt. Was gab es doch früher für heiße Diskussionen, wenn die Modeschöpfer ihre neuen Kollektionen vorstellten. Erinnern Sie sich noch an die Courrège-Mode, die mit den strengen geometrischen Formen? Oder die Mini-Mode, gegen die wurde manchenorts sogar demonstriert, man befürchtete den Verfall von Anstand und Sitte. Und die Jeans, die hat man sich in den Fünfziger Jahren als junger Mensch regelrecht erkämpfen müssen.
Ganze 42 cm ü.B., also über Boden, versetzten am 6. September 1953 die gesamte Modewelt in Aufregung. Ungewöhnlich viel Bein durfte somit die Dame vom Boden ab gemessen zeigen. Der berühmte Modemacher Christian Dior hatte mit seiner neuen Kollektion den Vogel abgeschossen, blieben seine Konkurrenten mit der Rocklänge doch deutlich darunter. Man muss sich das mal vorstellen, 42 cm ü.B., das war kurz unterm Knie, wo der Rock geendet hat, während er bei den anderen Modemachern mindestens bis zum Wad’l reichte. Als „Ligne Vivante“, also lebhafte Linie, ist diese Kollektion mit den weiten, versteiften Röcken und den überdimensionalen Schleifen bekannt geworden und die deutsche Modezeitschrift Madame hat damals ganz aufgeregt berichtet: „Betroffen sahen zunächst die Presseleute und kaugummilutschenden Amerikaner die ersten Modelle vorüberschweben … Manets Lola schien mit ihrem runden Rock, der gerade die Knie versteckte, lebendig geworden zu sein.“
Das war beileibe nicht das erste Mal, dass Christian Dior mit einer seiner Kollektionen aufgefallen wäre. Fast jedes Jahr war er für eine Überraschung gut. Im Frühling 1953 beispielsweise erfand er die figurbetonte „Tulpenlinie“: das Oberteil mit dem tiefen Dekolleté sollte die Blüte darstellen, der enge Rock mit den Bundfalten war der Blumenstiel. Berühmt wurde auch sein „Dior-Schlitz“, der den Damen in superengen, wadenlangen Röcken wenigstens etwas Bewegungsfreiheit gab. Aber für den meisten Wirbel sorgte wohl 1947 die erste eigene Kollektion von Dior, denn sein „New Look“ löste heftige Proteste aus. Fast überall in Europa herrschte damals noch Hunger, Not und Elend, die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs prägten das Bild vieler Städte. Im besetzten Zonendeutschland war alles kontingentiert, konnte nur über Bezugsscheine ergattert werden, auch die Kleidung. In München standen 1947 für dreihunderttausend Frauen aber gerade sechsund-
zwanzig Kostüme zur Verfügung. Deshalb musste man sich mit allerlei Improvisation und viel Einfallsreichtum behelfen. Da wurden Militärdecken, Uniformen, Tischtücher oder Vorhänge gefärbt und umgearbeitet, alte Kleidungsstücke immer wieder aufgetrennt und brauchbare Teile neu zusammengesetzt, das einzige gute Kleid durch verschiedenste Accessoires abgewandelt und verändert. Sogar für die begehrten, aber unerschwinglichen Seidenstrümpfe mit der Naht gab es eine Lösung: frau färbte sich die Beine dunkel und malte mit einem Stift die Naht dazu, was den unzweifelhaften Vorteil hatte, dass dieselbe nicht verrutschen konnte. Und ausgerechnet in solchen Notzeiten entwarf der Modeschöpfer Dior wadenlange, weitschwingende Kleider und Röcke. Was für eine Stoffverschwendung! Selbst in Paris kam es daraufhin zu erregten Tumulten auf offener Straße.
Und heute? Heute kann man sich solche Aufregungen wegen der Mode überhaupt nicht mehr vorstellen. Ob kurz oder lang, schmal oder weit, alles schon mal da gewesen. Im übrigen misst man die Rocklänge heute auch ganz anders herum, also nicht vom Boden nach oben, sondern von der Taille abwärts bis zum Rocksaum, und da genügt beispielsweise schon eine Handbreit Stoff. So ändern sich die Zeiten.
Karin Sommer