Materialien 1948

Deutschland ohne Volksentscheid: Die Entscheidungen des Parlamentarischen Rats gegen Formen direkter Demokratie

Ein persönlicher Bericht über eine Entdeckungsreise in der Wissenschaft
und was man dabei erleben kann

Vorgeschichte

Warum haben wir in Deutschland keinen Volksentscheid? Weil der Parlamentarische Rat 1948/49 aufgrund der negativen „Weimarer Erfahrungen“ mit Volksbegehren und Volksentscheid von der Aufnahme plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz abgesehen hat. Diese Antwort hörte ich 1966 ff. in den Staatsrechtsvorlesungen. Zwar stand im Grundgesetz, dass das Volk, soweit es nicht durch besondere Organe handele, die Staatsgewalt selbst in Wahlen und „Abstimmungen“ ausübe. Aber dies tat der Altmeister Maunz mit der Bemerkung ab, die in Art. 20 GG „gewählten Worte“ entsprächen „mehr einer traditionellen Formulierung als der gegenwärtigen Verfassungslage“1.

Mochte ich auch ahnen, dass dies keine Verfassungsinterpretation, sondern eine Missachtung des normativen Gehalts einer fundamentalen Verfassungsbestimmung war, so „muckte“ man seiner-
zeit als Jurastudent nicht gegen einen Grundgesetz-Kommentator „auf“. Ich hörte damals – es war an der Universität Würzburg – auch Bayerisches Staatsrecht und erfuhr, dass die Verfassung des Freistaates von 1946 Volksbegehren und Volksentscheid vorsah. Dies sei so – beschieden uns die akademischen Lehrer – „im Unterschied zum Grundgesetz“. Aufgeklärt wurde die Diskrepanz nicht. 1968 lernte ich auch die Praxis kennen, als der Volksentscheid über die Einführung der Christlichen Gemeinschaftsschule anstand. Dabei abzustimmen war meine erste staatsbürgerliche Handlung; zum Wählen kam ich erst bei der Bundestagswahl 1969.

Später bemerkte ich, dass nicht nur die bayerische, sondern alle Landesverfassungen von 1946/47 Elemente der direkten Demokratie enthielten und zudem alle Verfassungen in der Amerikanischen und Französischen Besatzungszone durch Volksabstimmung verabschiedet worden waren.

Meine Untersuchung über „Die Entscheidungen des Parlamentarischen Rats gegen Formen direkter Demokratie“

Zur systematischen Erforschung dieser Zusammenhänge kam ich erst, als ich mich, gefördert von der Stiftung Volkswagenwerk, von Mitte 1989 an zwei Jahre lang der Thematik widmen konnte. Inzwischen habilitiert für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte, konnte ich guten Mutes ver-
suchen, aufzuklären, was damals eigentlich vor sich gegangen war. Meine Hauptergebnisse:

Die Verfassungspläne des Exils und des Widerstandes, die Landesverfassungsgebung der Jahre 1946/47 und die Parteiprogrammatik der ersten Nachkriegszeit zeigen, dass man nirgendwo mit negativen „Weimarer Erfahrungen“ gegen Volksbegehren und Volksentscheid argumentierte.

Als bei dem Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee und während der Beratungen des Parla-
mentarischen Rates alle Formen direkter Demokratie gestrichen wurden, sahen die Akteure nicht zurück, sondern zur Seite: auf die Aktivitäten von SED und KPD im begonnenen Kalten Krieg.

Das Grundgesetz wurde entgegen den alliierten Vorgaben nicht zum Referendum gestellt, weil
man befürchtete, mit der Weststaatsgründung nicht bestehen zu können, wenn SED und KPD
im Abstimmungskampf „die nationale Karte spielen“ würden.

Die Volksgesetzgebung wurde in die neue Verfassung nicht aufgenommen, weil man fürchtete, die bei Wahlen bisher wenig erfolgreichen Kommunisten würden versuchen, mit „attraktiven“ Themen auf dem Wege von Volksbegehren und Volksentscheid politisch Boden zu gewinnen. Eine plebis-
zitäre Quarantäne sollte insoweit den neuzugründenden Teilstaat in der Übergangszeit vor Anfech-
tungen schützen.

Zugrunde lagen dem jeweils nur situative Erwägungen: Die Eltern des Grundgesetzes nahmen für diese Restriktionen nicht das Prädikat grundlegender verfassungspolitischer Weisheit in Anspruch. Deshalb wurde in Art. 20 GG die Strukturoption beibehalten, dass das Volk die Staatsgewalt u.a.
in „Abstimmungen“ ausüben könne. Die „Vision“ der Gründer der Bundesrepublik für später war eindeutig: Wenn die Kommunisten domestiziert wären und die Teilung überwunden sei, sollte auf dem überlieferten Wege einer Nationalversammlung und/oder Volksabstimmung eine deutsche Verfassung gegeben werden, die dann selbstverständlich auch Elemente direkter Demokratie ent-
halten würde.

Dies war nicht der einzige Beweggrund für jene Entscheidungen des Parlamentarischen Rates -
die bayerischen Mitglieder etwa hatten noch die Sondermotivation, den künftigen Bundesstaat möglichst schwach zu halten, ferner war nach der NS-Zeit ein generelles elitäres Misstrauen gegenüber dem „verführbaren“ Volk weitverbreitet -, aber es war der maßgebliche: der SED/KPD keine Chance zu geben.

Ich habe dies in meinem Buch „Grundgesetz und Volksentscheid“ niedergelegt.2 Das geraffte Ergebnis hatte ich schon vorher als Aufsatz veröffentlicht.3

Auseinandersetzungen um dieses Buch

Die erste Aufnahme

Erschienen die Ergebnisse meiner Untersuchung „in rechtshistorischer und verfassungspolitischer Hinsicht einigermaßen spektakulär“4, war nicht zu erwarten, dass sie ungeteilten Beifall finden würden. Die Leute mit den herrschenden Meinungen, zumal wenn diese wie hier geradezu kate-
chismusartig verfestigt sind, pflegen nicht ohne weiteres umzudenken. So reichten die ersten Besprechungen von „begeistert“ bis „gequält anerkennend“. Während die einen lobten, dass ich, „soweit es um historische Informationen geht, wissenschaftliches Neuland“ betreten hatte5, ver-
suchten andere, meine Argumentation ad absurdum zu führen6 oder mir Widersprüche nachzu-
weisen. Ein Kritiker nannte meine einschlägige These eine „Spekulation“7, weil ich vorsichtig formuliert hatte, es handele sich um „eine sehr gut belegte Vermutung“. Dabei ist es durchaus ein wissenschaftlicher Fortschritt, wenn eine Lehrmeinung, für die überhaupt keine Quellen sprechen, durch eine solche qualifizierte Vermutung ersetzt wird.

Quellengestützt – ich habe für meine Untersuchung immerhin in 23 Archiven gearbeitet – hat bislang niemand meine Forschungsergebnisse in Zweifel gezogen. Als ein Staatsrechtslehrer meine Ergebnisse zu widerlegen versuchte, fiel er vom wissenschaftlichen Stand der Juristischen Zeitge-
schichte zurück auf die vergleichsweise schlichte „Entstehungsgeschichte“ des Grundgesetzes. Immerhin stellte auch er jener Weimar-Legende den Totenschein aus: Diese Entscheidung des Parlamentarischen Rats lasse sich „nicht, wie es eine stereotype Erklärung will, monokausal auf üble Erfahrungen mit den plebiszitären Elementen der Weimarer Verfassung zurückführen“8.

Die langfristige Rezeption

Neuere Arbeiten sind erfreulicher. Ein Historiker konstatiert für die Zeit bis zur Gründung der Bundesrepublik: „Ein Schreckgespenst der ‚Weimarer Erfahrungen’ mit Volksentscheid und Volksbegehren ist nicht aufzufinden.“9

Er datiert diese „Erfahrungen“ ein Jahrzehnt später auf den Streit um die Wiederbewaffnung: „Weniger die gleichsam ‚authentische’, direkt tradierte und bewusst reflektierte Primärerfahrung der Weimarer Demokraten lag dem ‚Weimarer’ Argument zugrunde als vielmehr die dezidierte, sekundäre Konstruktion. Die bis dahin schärfste politische Polarisierung in der bundesrepubli-
kanischen Geschichte erheischte die historisch argumentierende Unterfütterung einer neuen verfassungspolitischen Identität.“10

In zwei großen verfassungsgeschichtlichen Arbeiten wird betont, dass die „Weimarer Erfahrung“ für den Parlamentarischen Rat „bei weitem nicht die Bedeutung (hatte), die ihr in der überwie-
genden Mehrheit der späteren wissenschaftlichen Darstellungen beigemessen wurde“11, bezie-
hungsweise „dass Weimarer Altpolitiker Weimarer historische Daten aus ihrer persönlichen, wissenschaftlich ungeprüften Sicht im Sinne ihrer parteipolitischen aktuellen Zielsetzung ver-
wendeten … Der Umgang mit Weimarer Verfassungstradition war letztlich politisch gewillkürt.“12

Die Auseinandersetzungen um „Weimarer Erfahrungen“ mit Volksbegehren und Volksentscheid werden jeweils der wissenschaftlichen Diskussion nach 1949 zugeordnet.

Aus einer juristischen Habilitationsschrift stammt das Urteil, der beginnende Kalte Krieg mit seiner raschen Eskalation in der Berlin-Blockade sei „ein, wenn nicht sogar der entscheidende Grund für die bemerkenswerte plebiszitäre Abstinenz des Grundgesetzes“ gewesen.13

Den „Weimarer Erfahrungen“ jedenfalls sei „keine entscheidende Bedeutung zugekommen“.14

Schluss

Bei manchen der Vorwürfe, die gegen die quellengesättigte Untersuchung eines habilitierten Zeit-
historikers von Kritikern erhoben wurde, die bisher nicht durch zeitgeschichtliche Forschungen in Erscheinung getreten waren, liegt der Verdacht nahe, dass die Logik von Christian Morgensterns Palmström waltete („dass nicht sein kann, was nicht sein darf“). Dass die Betreffenden damit letztlich nur eine erodierende verfassungs- und geschichtspolitische Konstruktion aufrechterhalten wollten, ist eine bittere Pointe. In der neueren Forschung setzen sich meine Forschungsergebnisse zunehmend durch.

PD Dr. Otmar Jung,
Privatdozent am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin

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1 Vgl. Maunz, Theodor: Deutsches Staatsrecht. Ein Studienbuch, München Berlin 15. Auflage 1966, S. 305 (§ 34 I 1.a).

2 Jung, Otmar: Grundgesetz und Volksentscheid. Gründe und Reichweite der Entscheidungen des Parlamentarischen Rats gegen Formen direkter Demokratie, Opladen 1994.

3 Jung, Otmar: Kein Volksentscheid im Kalten Krieg! Zum Konzept einer plebiszitären Quarantäne für die junge Bundesrepublik 1948/49, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 45/92 v. 30. 10. 1992, S. 16-30.

4 Vgl. Sarcinelli, Ulrich: Weiterentwicklung des Grundgesetzes, in: Annotierte Bibliographie für die politische Bildung 1995, H. 1 Nr. 60.

5 Vgl. Wilms, Heiner: [Rezension], in: Zeitschrift für Rechtspolitik 29 (1996), S. 112.

6 Vgl. Preuß, Ulrich K.: [Rezension], in: Archiv des öffentlichen Rechts 121 (1996), S. 280 ff.

7 Vgl. Oberreuter, Heinrich: Plebiszitäre Elemente – Bewährung und Probleme, in: Demokratie lebendiger gestalten. Ettersburger Gespräche am 10. und 11. November 2000 im Hotel Amalienhof Weimar, hrsg. vom Thüringer Landtag,
Erfurt 2001 (XI. Ettersburger Gespräche), S. 101-113 (102 FN 3).

8 Vgl. Isensee, Josef: Der antiplebiszitäre Zug des Grundgesetzes – Verfassungsrecht im Widerspruch zum Zeitgeist, in: Verfassung in Zeiten des Wandels. Demokratie – Föderalismus – Rechtsstaatlichkeit. Symposion zum 60. Geburtstag von Heinz Schäffer, hrsg. v. Metin Akyürek u. a., Wien 2002, S. 53-83 (64).

9 Vgl. Wirsching, Andreas: Konstruktion und Erosion: Weimarer Argumente gegen Volksbegehren und Volksentscheid,
in: Gusy, Christoph (Hrsg.): Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden 2003 (Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat Bd. 29), S. 335 – 353 (337).

10 Vgl. Wirsching, a. a. O., S. 345 f. (Hervorhebung i. O.).

11 Vgl. Schwieger, Christopher: Volksgesetzgebung in Deutschland. Der wissenschaftliche Umgang mit plebiszitärer Gesetzgebung auf Reichs- und Bundesebene in Weimarer Republik, Drittem Reich und Bundesrepublik Deutschland
(1919 – 2002), Berlin 2005 (Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Bd. 71), S. 283.

12 Vgl. Wiegand, Hanns-Jürgen: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte, Berlin 2006 (Juristische Zeitgeschichte Abt. I Bd. 20), S. 233.

13 Vgl. Rux, Johannes: Direkte Demokratie in Deutschland. Rechtsgrundlagen und Rechtswirklichkeit der unmittelbaren Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland und ihren Ländern, Baden-Baden 2008, S. 205.

14 Vgl. Rux, a. a. O., S. 208 FN 2.


Festschrift „Mehr Demokratie e.V.“, Berlin 2008, 70 ff. –
www.mehr-demokratie.de/festschrift-otmar-jung.html

Überraschung

Jahr: 1948
Bereich: Bürgerrechte

Referenzen