Materialien 1948

Die große Zeit

Für Ursel Herking. Prospekt: Globus, der in Hälften auseinander bricht.
Aus der Bruchstelle fließt Blut. Musik: Mit Paukenschlägen.

So groß wie heute war die Zeit noch nie.
Sie passt nicht in die Zeit, so groß ist sie.
Der Fortschritt taumelt durch Blut und durch Dreck.
Seht hin – er ist blind! Wir erstarren vor Schreck.
Die Luft, liebe Freunde, wird knapp.
Wir sind wieder mal übern Berg hinweg.
Nun geht’s mal wieder bergab!
Es geht bergab mit Schwung.
Der Globus hat ’nen Sprung!
Wir stehn auf der Haut des Erdenballs
und denken weiter gar nichts als:

So groß wie heute war die Angst noch nie.
Kein Metermaß ist groß genug für sie.
Der Krieg ist noch nah und der Frieden noch weit.
Die Dummheit stolziert im Feiertagskleid:
Die Hoffnung hat sich verirrt.
Die Zeit ist groß, und es wird prophezeit,
dass sie noch viel größer wird!
Die Welt ist aus dem Lot.
Die Kinder schrei’n nach Brot.
Der Zukunft werden die Füße kalt.

Und noch im Traum stöhnt jung und alt:
So groß wie heute war die Zeit noch nie.
Man müsste sie verkleinern – aber wie?
Die einen sind dumm, und die andern sind schlecht,
und jeder weiß alles, und keiner hat recht.
Das Tun reicht nicht zur Tat.
Nicht mal das Herz im Leib ist echt,
nicht mal das Herz weiß Rat.
Es geht bergab mit Schwung.
Der Globus hat ’nen Sprung.
Was ist denn bloß, und was ist denn los?
Der Mensch ist zu klein! Und die Zeit ist zu groß!


Erich Kästner, Wir sind so frei. Chanson, Kabarett, Kleine Prosa. Werke in neun Bänden, Bd. II. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke, München/Wien 1998, 385 ff.

Überraschung

Jahr: 1948
Bereich: Kommunismus

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