Materialien 1949
Die Affäre Adolf Bleibtreu
Wie aus einem anonymen Leserbrief ein Presseskandal wurde
Die „Möhlstraße“ war ein Begriff. Von 1946 an blühte hier, im Nobelviertel Bogenhausen, der größte Schwarzmarkt Deutschlands. Etwa eine Million Zigaretten, 20 bis 30 Tonnen Kaffee und Hunderttausende von Schokoladetafeln täglich, aber auch Luxusgüter bis hin zu Autos und Diamanten wurden in Buden und Kellern gehandelt. Zwar schwärmten dort deutsche Polizei und US-Militärpolizei jeden Tag zu etwa 150 Razzien aus, aber dabei durften nur deutsche Staatsbürger festgenommen werden.1 Die meisten Händler waren nämlich ausländische oder staatenlose Nazi-Opfer. Dieser Umstand führte zu erheblichen Irritationen in der Bevölkerung, auch zu neuem Antisemitismus.
Am 9. August 1949 veröffentlichte die „Süddeutsche Zeitung“ drei Leserbriefe zu einem ausgewogenen Leitartikel „Judenfrage als Prüfstein“ von Wilhelm Emanuel Süskind2, der in der NS-Zeit ein Buchverbot, aber auch Bucherfolge erlebt hatte. Zwei der Zuschriften brachten Zustimmung zum Ausdruck, die dritte aber war offensichtlich eine bösartige Provokation. Sie zielte auf die Juden im Allgemeinen und auf die „Blutsauger“ in der Möhlstraße im Besonderen ab.
„Ich bin beim Ami beschäftigt und da haben Verschiedene schon gesagt, dass sie uns alles verzeihen, nur dies eine nicht, und das ist: dass wir nicht alle vergast haben, denn jetzt beglücken sie Amerika“, ließ der Briefschreiber wissen. Er gab sich als „100 % Deutscher“ zu erkennen und nannte sich „Adolf Bleibtreu. Ausgewählt und zur Veröffentlichung freigegeben hatte ihn der Leitartikler Süskind selbst. Er wollte den dummen Hetzer und seine Gesinnungsgenossen offenbar bloßstellen.
Doch die neue publizistische Offenheit – erst im Mai hatten die Besatzer die Lizenzpflicht für Presseerzeugnisse aufgehoben – wurde zum großen Presseskandal. In der Möhlstraße setzten sich am nächsten Tag rund 3.000 erzürnte Menschen zum Marsch auf das Pressehaus in Bewegung. Sie trugen Transparente mit Aufschriften wie „Nieder mit dem Stürmer3 von 1949“. Panzerfahrzeuge der US-Militärpolizei riegelten die Zufahrtsstraßen ab, deutsche Polizei wurde ferngehalten. Am Friedensengel kam es zur Straßenschlacht. Auf der Strecke blieben drei jüdische Demonstranten mit Bauchschüssen und 21 verletzte Polizisten.
In einer Resolution verkündeten die Demonstranten anschließend: „Niemand von uns denkt daran, noch länger in diesem Land zu bleiben. Wir wollen nicht auf dieser Erde sitzen bleiben, die mit jüdischem Blut befleckt ist.“ Die Auswanderungsbüros Münchens hatten in den folgenden Wochen alle Hände voll zu tun. Der „Superschwarzmarkt“ in der Möhlstraße aber löste sich noch lange nicht auf.
Das Pressehaus in der Sendlingerstraße indes erlebte wegen der „Bleibtreu-Affäre“ böse Anwürfe. Eine nachträgliche Erklärung im Blatt konnte kaum als Entschuldigung verstanden werden: Es sei doch abwegig, bei der Wiedergabe eines auf gefächerten Meinungsspektrums der Leser, aus „jener einen, missliebigen“ Zuschrift auf die Meinung des Blattes zu schließen. Man sei durchaus nach den „Richtlinien für guten Journalismus“ verfahren.
Personelle Konsequenzen waren allerdings nicht zu vermeiden. Lizenzträger Edmund Goldschagg (SPD), unter dessen Verantwortung der verhängnisvolle Brief erschienen war, wurde in dieser Funktion abgelöst durch den linksliberalen Werner Friedmann, der am fraglichen Tag in Rom gewesen war und sich gleich danach in seiner eigenen „Abendzeitung“ von der Affäre distanzierte. Außerdem verklagte er einen Chefredakteurskollegen in Passau, der behauptet hatte, Friedmann selbst habe den Bleibtreu-Brief manipuliert.
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1 Weyerer, Benedikt: München 1933 – 1949, 1996. Außerdem wurde für dieses Kapitel als Quelle verwendet: Müller-Meiningen, Ernst jr.: Orden, Spießer, Pfeffersäcke, 1989; Stankiewitz, Karl: Nachkriegsjahre, 2006.
2 Wilhelm Emanuel Süskind galt wegen seines Buches „Vom ABC zum Sprachkunstwerk“ unter Journalisten als Stilpapst. Er ist der Vater der Autoren Martin E. und Patrick Süskind.
3 Der „Stürmer“ war das antijüdische Hetzblatt von Julius Streicher.
Karl Stankiewitz, Weißblaues Schwarzbuch. Skandale, Schandtaten und Affären, die Bayern erregten, München 2019, 107 f.