Materialien 1950

Der Trojanische Wallach

Aus einem Brief an den Bund in Bonn

»1. Februar; z.Z. Ägypten
… und vernehme ich mit besonderer Genugtuung und stolzer Freude, dass Sie endlich wieder ein Gesetz zur Wahrung unserer gemeinsamen Interessen vorbereiten. Am Nil schneit es. Bei Ihnen soll Frühling sein. Die Frösche sind auch nicht mehr wie früher. Nur Sie und ich, wir bleiben die alten. Auf baldiges und frohes Wiedersehen mit Ihnen und Ihren Damen!
Ihr unverwüstlicher Klapperstorch.«

Was mag er meinen? Worauf spielt er an, der stelzfüßige Schwerenöter, der die Damen nachts ins Bein zu beißen pflegt? Er meint, das steht außer Frage, das Schmutz- und Schundgesetz, das gegenwärtig in Bonn und anderswo ausgearbeitet wird. Es heißt, man wolle mit Hilfe dieses Gesetzes den Magazinen und den Aktfotos an den Kragen. Den abgebildeten Fräuleins, die auch den letzten Zweifler unter uns einwandfrei – wenn auch nicht immer in einwandfreien Posen – davon überzeugen wollen, dass der Busen keine poetische Lizenz verderbter Dichter, sondern eine mehr oder weniger unumstößliche Tatsache ist, mit der man rechnen muss. Man will mit des Gesetzes Schärfe jene Fotografien verbieten, worauf sich Mannequins der Entkleidungsbranche schelmisch Medizinbälle, Teddybären, Muffs oder große Haarschleifen vor den Nabel halten. Der Staat will seine Bürger zwingen, wieder rot zu werden und sich zu entrüsten, wo es genügte, zu lachen oder die Achseln zu zucken. Will er das? Ja. Will er nichts weiter? Doch.

Hinter dem Gesetz verbirgt sich eine Tartüfftelei. Man will nicht nur dem weiblichen Akt an die Gurgel. Man will dem natürlichen Menschen zuleibe. Zur Bekämpfung des Vertriebs eindeutiger Zweideutigkeiten genügen, auch nach Meinung namhafter Juristen, nach wie vor die einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuchs, der Staatsanwalt und die Polizei. Die Antragsteller und die Auftraggeber wollen ein Kuratelgesetz gegen Kunst und Literatur zuwege bringen. Sie sagen »Schmutz« und meinen »Abraxas«. Da zwar für sie beides ein und dasselbe ist, nicht aber fürs Strafgesetzbuch, brauchen sie ein Sondergesetz zur Entmündigung moderner Menschen. Da helfen keine Schwüre, das Gesetz werde großzügig gehandhabt werden. Nicht einmal dann, wenn es keine falschen Schwüre wären. Denn der jetzigen Regierung werden andere folgen. Vielleicht solche, denen es noch viel besser in den Kram paßt, die Kunst, die Bürger und den Feierabend zu dressieren.

Die freien Künste dürfen nicht zum staatlich betriebenen Flohzirkus werden. Um nicht im Bilde zu bleiben: Dass es bestimmte Kreise juckt, aus der Wiege unserer Verfassung das schönste Patengeschenk, die Freiheit, wegzuzaubern, liegt in der Natur, genauer, in der Unnatur der Sache, um die es diesen Kreisen und ihren Kreisleitern geht. Sie wurde schon einmal und fast von den gleichen Leuten in den zwanziger Jahren unseres fatalen Jahrhunderts betrieben.

Damals, zwischen Inflation und Hitlerei, gelang es ihnen, durch ein ähnliches Gesetz mit dem gleichen ungezogenen Titel, das Ansehen der freien Künste in den Augen der Bevölkerung so herabzusetzen, dass es etliche Jahre später keiner sonderlichen Anstrengungen bedurfte, angesichts von Bücherverbrennungen und Ausstellungen »entarteter« Kunst das erforderliche Quantum Begeisterung zu entfachen.

Nun holt man also wieder zu einem ganz gewaltigen Streiche aus, zu dem gleichen Schildbürgerstreich wie 1926. Herrn Brachts fromme Erfindung, die geschlechtslose Badehose mit dem Zwickel, werden wir, gelingt der Streich, in der Sommersaison gleichfalls wiedersehen. Uns tun jetzt noch die Lachmuskeln weh. Aber wenigstens eins haben wir im letzten Vierteljahrhundert hinzu gelernt: Lächerlichkeit tötet nicht! Es sei denn die Lacher. Deshalb dürfen wir uns diesmal nicht mit Gelächter begnügen.

Die Geschichte vom Trojanischen Pferd ist bekannt. Das Schmutz- und Schundgesetz ist ein neues Trojanisches Pferd. Man hat, züchtig gesenkten Blicks, an dem hölzernen Sagentier ein bisschen herumgehobelt. Bis ein sittlicher Wallach draus wurde. Nun steht der Trojanische Wallach, mit Kulturkämpfern bemannt, vor den Toren. Die Stadt heißt diesmal nicht Troja. Sie heißt Schilda.
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Wären’s nur die Reaktionäre verschiedener Fehlfarben, die das Schundgesetz fordern, ginge es noch an. Denn in Bonn sitzen auch andere Leute. Aber es kommen weitere Fürsprecher hinzu: die sogenannten Dünnbrettbohrer. Wenn’s schon nicht gelingt, die tatsächlichen Probleme zu lösen, die Arbeitslosigkeit, die Flüchtlingsfrage, den Lastenausgleich, das Wohnungsbauprogramm, den Heimkehrerkomplex, die Steuerreform, dann löst man geschwind ein Scheinproblem. Das geht wie geschmiert. Hokuspokus – endlich ein Gesetz! Endlich ist die Jugend gerettet! Endlich können sich die armen Kleinen am Kiosk keine Aktfotos mehr kaufen und bringen das Geld zur Sparkasse! Dadurch werden die Sparkassen flüssig, können Baukredite geben, Arbeiter werden eingestellt, Flüchtlinge finden menschenwürdige Unterkünfte, und die Heimkehrer werden Kassierer bei der Sparkasse. Ja?

Ich will mir, bevor man mir’s umbindet, kein Feigenblatt vor den Mund nehmen! Ich habe Flüchtlingsbaracken gesehen, worin Familien dutzendweise nebeneinander hausten, aßen und schliefen. Die einzelnen Wohnquadrate schamhaft durch an Stricken aufgehängte Pferdedecken abzugrenzen, wurde verboten. Die Decken seien nicht als Komfort geliefert worden, sondern für die Bettstellen. Glaubt man, dass die Halbwüchsigen und die Kinder aus diesen Baracken durch Aktfotos sittlich noch zu gefährden sind? Weiter: Ich lese die ständig steigenden Ziffern gerade der jugendlichen Arbeitslosen und bewundere die frischfröhliche Art, mit der man diese Lawine verniedlicht. Prostituieren sich junge Mädchen, die es in normalen Zeiten gewiß nicht täten, weil man ihnen Magazine zeigt, worin andere junge Mädchen, aus ähnlichen sozialen Anlässen, die kaufkräftige Öffentlichkeit, vor allem natürlich ärmliche Kinder und Waisen, anschaulich damit überraschen, daß sie den Busen vorn und nicht auf dem Rücken haben? Sind Menschen, die dergleichen zu glauben vorgeben und deswegen ihr Schand-, nein, ihr Schundgesetz durchpeitschen wollen, ehrliche Leute?

Sie bohren das Brett an der dünnsten Stelle. Das ist das ganze Geheimnis. Ein paar tausend Maler, Schauspieler, Schriftsteller, Bildhauer und Musiker, die dagegen protestieren, braucht man nicht sonderlich ernst zu nehmen. Das Volk der Dichter und Denker hat seine Dichter und Denker nie ernst genommen. Warum sollten’s die Volksvertreter tun?

Wenn das Schmutz- und Schundgesetz – man sucht übrigens krampfhaft nach einem weniger blamablen Namen – ratifiziert sein wird, werden die Antragsteller den Dünnbrettbohrern zeigen, was sie meinten, als sie für die Jugend in den Kampf zogen.

Der Trojanische Wallach steht vor den Toren. Klopft, ihr Toren, dem Tier auf den Bauch! Er ist hohl, aber nicht leer.

»Das PEN-Zentrum Deutschland wendet sich mit Entschiedenheit gegen Maßnahmen und Tendenzen in allen Teilen Deutschlands, die das freie literarische Schaffen beeinträchtigen. Die direkte oder indirekte Zensur widerspricht der internationalen PEN-Charta. Wir protestieren auch heute schon gegen die Einführung eines sogenannten Schmutz- und Schundgesetzes, weil wir seine missbräuchliche Anwendung fürchten.«

Erich Kästner
Münchener Illustrierte vom 4. Februar 1950, 12.


Erich Kästner, Wir sind so frei. Chanson, Kabarett, Kleine Prosa. Werke in neun Bänden, Bd. II. Hg. von Hermann Kurzke in Zusammenarbeit mit Lena Kurzke. München/Wien 1998, 198 ff.

Überraschung

Jahr: 1950
Bereich: Zensur

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