Flusslandschaft 1945
Nazis
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Herbert Hösl: Rötelzeichnung 1944
Es sind zunächst alte Gewerkschafter, dann Sozialdemokraten, Kommunisten und ehemalige Wi-
derstandskämpfer, die in München wie in vielen anderen Städten Antifaschistische Ausschüsse bilden. In Dachau bilden die Hitlergegner und Überlebenden des Konzentrationslagers Georg Scherer, Jakob Schmid, Alois Seitz und Richard Titze mit weiteren Mitstreitern den Antifaschi-
stischen Arbeitsausschuss. Ihre Ziele sind: Aufspüren nationalsozialistischer Funktionsträger, Versorgung mit Lebensmitteln, Schutz der Einwohner vor Plünderungen, Bestattung toter KZ-
Häftlinge und die Verwaltung der Stadt. Der Kommunist Scherer ist vom 30. April bis 31. Januar 1946 zweiter Bürgermeister.
Die US-amerikanische Besatzungsbehörde befürchtet, dass die Antifaschistischen Ausschüsse einen eigenen Machtanspruch anmelden. Oft werden die Antifaschisten als Kommunisten, als getarnte Nationalisten oder gar als Banditen angesehen. Wie in anderen Großstädten auch ver-
bieten die Amerikaner die Münchner Ausschüsse am 16. Mai.
Isaac Deutscher bereist als Korrespondent der britischen Zeitungen Observer und Economist das besiegte Deutschland. Er berichtet von der Hilflosigkeit antinazistisch eingestellter Menschen.2
Am Montag, dem 28. Mai 1945 ist an der Stirnseite der Feldherrnhalle in großen weißen Buchsta-
ben zu lesen: „KZ Dachau – Velden – Buchenwald – ich schäme mich, dass ich ein Deutscher bin.“ Später steht an der Residenz gegenüber „Keine Scham, nur Vergeltung! – Hakenkreuz – Schand-
kreuz“ und wiederum Tage später hier darunter: „Goethe, Diesel, Haydn, Rob. Koch. Ich bin stolz, eine Deutscher zu sein!“
„Warnung – Vor den Nazis bescheideneren Kalibers warnt Franz Hoffmann, München 22, Possart-
straße 7/3: ‚Ein beträchtlicher Teil unserer kleinen und mittelgroßen Hitler hat seine heroische Haltung, zu der wir noch vor kürzester Zeit zu erziehen waren, und seine starken Herzen unerwar-
tet rasch verloren. Dagegen entwickelt er heute einen wachsenden Eifer, von dem von oben her auferlegten Zwang zu sprechen, uns der Unwissenheit über alle möglichen Geschehnisse zu versi-
chern und von jeglicher früherer ideeller Verbindung mit dem Nationalsozialismus entschieden abzurücken. Das Gedächtnis hat über Nacht einen tiefen Riss erlitten. Sie wissen plötzlich nicht mehr, wenn sie in einem Fragebogen Auskunft geben sollen, wann sie in die NSDAP eingetreten sind oder wann sie die Aufnahme beantragt haben. Ja, sie geraten in schwere Gewissensnot, wenn es beispielsweise zu beantworten gibt: »Traten Sie in die Partei aus Überzeugung oder aus Zwang – persönlicher oder wirtschaftlicher Art – ein?« Manche unter ihnen liegen aber auch schon heute wieder auf der Lauer, unter arglistiger Verschleierung ihres Vorlebens, mit der Politik schmutzige Geschäfte zu machen und ebenso wie im Frühling 1933 als Märzveilchen oder als Maiglöckchen ihre wahre Gesinnung zu tarnen und ihr Lippenbekenntnis wie ein Stück Wäsche zu wechseln. Der von der Militärregierung gewählte Stichtag (1.4.33) erscheint ihnen hierzu nicht ungeeignet. Alle, die trotz allem ab 1933 ihre Charakterfestigkeit, ihre Überzeugung bewahrt haben, seien daher aufgerufen: Seid wachsam! Verhindert rechtzeitig, dass solche niedrigen Kreaturen ihre Ziele errei-
chen!‘“3
14. Juli 1945 – Samstag: „In einer Leserzuschrift empört sich Alfred Schwingenstein darüber, dass bei den Trümmerbeseitigungsaktionen kriegsgefangene deutsche Soldaten eingesetzt werden, während heute noch ehemalige Parteifunktionäre frei durch die Straßen der Stadt gingen.“4
„Das alte Lied // Von Ernst Klotz // Was muss ich also jetzt erleben? / Es gab sie gar nicht, die Par-
tei! / Auch Nazis hat es nie gegeben, / Denn keiner, keiner war dabei! // ‘Man hat mich nur dafür gehalten’, / ‘Ich hab nur äußerlich gemusst’ / Stöhnt jede dieser Prachtgestalten / Aus abgewrack-
ter Heldenbrust: / Bei Müller klang schon aus Schikane / ‘Heil Hitla!’ ganz besonders bös. / Heut ist sein Gruß so süß wie Sahne, / Er schwenkt den Hut direkt graziös. // Wie hat mich Lehmann angewidert, / Der Spitzel aus der Nachbartür. / Heut hat er sich nun angebiedert, / Jetzt weiß ich: er war nie dafür! / Und die, die sich nicht selber trauen, / Die schicken wie von ungefähr / Zum nachbarlichen Schwatz die Frauen / Zwecks Anti-Nazi-Nachweis her! / Was muss ich also jetzt erleben? / Nur das, was ich mir stets gedacht; / Was Feigeres kann’s gar nicht geben / Als diese Nazis ohne Macht!“5
E. Field Horine, seit Mai Leiter der Abteilung „Rundfunk“ bei der bayrischen US-Militärregierung, und seinen zwei Kollegen fällt schon ab dem Spätsommer „eine deutlich erkennbare Tendenz“ auf, „kleinere oder gar ganz kleine Mitläufer aus den Reihen der NSDAP-Mitgliedschaft zu angeblichen Naziaktivisten vernichtend hochzustilisieren, während ehemalige Parteibonzen oder andere wirkli-
che Aktivisten nicht selten zu bloßen harmlosen sogenannten Mitläufern heruntergestuft wurden. Dies geschah meistens, versteht sich, in hohem Maße zum Vorteil Letzterer und verschaffte ihnen oft erhebliche Begünstigungen bei ihrem Einstieg in neue, lukrative Karrieren … Zu wiederholten Malen ließen wir dann in den politischen Kommentaren des Münchener Rundfunks diesen doch sehr bedenklichen Tatbestand auf das Schärfste anprangern. Dabei handelten wir zwar in Eigen-
verantwortung und im Einklang mit unserem eigenen Demokratieverständnis. Aber wir handelten auch, wie wir meinten, in Übereinstimmung mit den für die neuen Medien geltenden offiziellen Richtlinien der Militärregierung. Kurze Zeit später jedoch wurden wir dafür von unserer höchsten Dienststelle in Berlin, dem OMGUS, schroff gerügt!“6
Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau beginnt am 15. November der erste Prozess gegen zweiunddreißig ehemalige Angehörige der SS-Wachmannschaften.
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Herbert Hösl: Bleistiftzeichnung 1945
Ein grundsätzlicher Konflikt wird deutlich. Zwei widerstreitende Impulse beherrschen viele Men-
schen. Einerseits das Bedürfnis, die autoritäre Nazivergangenheit, die sich in Personen repräsen-
tiert, zu beenden, andererseits das Motto: „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.“ Auch die Amerikaner wissen, dass hinter einer Anzeige gegen einen tatsächlichen oder vermeintlichen Nazi gleichermaßen nur persönliches Rachebedürfnis oder andere niedere Be-
weggründe stehen können. In den Akten des Military Government of US-Zone, in den OMGUS-Akten, die sich als Microfiche-Sammlung im Bayerischen Hauptstaatsarchiv befinden, finden sich eine Unmenge von Hinweisen auf die verwickelten und konfliktreichen Beziehungen zwischen der Besatzungsmacht und den verschiedenen Gruppierungen und Verbänden in Bayern und Mün-
chen.8
Unternehmer und Funktionsträger in leitenden Stellungen sind wegen ihrer NS-Vergangenheit von ihren Posten entfernt, einige auch inhaftiert worden. Viele von ihnen wehren sich.9
(zuletzt geändert am 21.6.2021)
1 Privatsammlung
2 Siehe „Die Nazis sind …“ von Isaac Deutscher, der später durch seine Biographien Trotzkis und Stalins bekannt wird.
3 Münchener Zeitung. Alliiertes Nachrichtenblatt für die deutsche Zivilbevölkerung. Herausgeber: Die amerikanische 12. Heeresgruppe, 3 vom 23. Juni 1945, 4.
4 Chronik der Stadt München 1945 – 1948, bearbeitet von Wolfram Selig unter Mitwirkung von Ludwig Morenz und Helmuth Stahleder, München 1980, 63.
5 „Der Verfasser dieses Gedichtes ist ein ehemaliger Mitarbeiter des Münchner ‘Simplicissimus’, der 1933 aufhörte, für diese Zeitschrift zu schreiben und sich trotz wiederholter Aufforderungen weigerte, im Dritten Reich Gedichte zu veröffentlichen. Das im folgenden veröffentlichte Gedicht ist also das erste politische Gedicht von Ernst Klotz, das seit 1933 gedruckt wird.“ Münchener Zeitung. Alliiertes Nachrichtenblatt für die deutsche Zivilbevölkerung 13 vom 1. September 1945, 3.
6 E. Field Horine, Als der „Kalte Krieg“ begann – vertane Friedens-Chancen 1945 – 1947, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 2/1987, 123 – 138, hier: 126.
7 Privatsammlung
8 Siehe Gerstenbergs „Entnazifizierung“.
9 Siehe auch „Der ‚Einspruch’“ von Otto Graf.