Materialien 1952

Vor 40 Jahren wurde Philipp Müller erschossen!

Ein Zeitzeuge erinnert sich

Am Sonntag, den 11. Mai 1952, versammelten sich im Herzen des Ruhrgebietes, in Essen, 30.000 Mitglieder der Falken, Naturfreunde, Pfadfinder, FDJ, kirchlicher Jugendorganisationen, junge Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschafter und Nichtorganisierte. Sie waren einem Auf-
ruf zur Teilnahme an einer Jugendkarawane gefolgt. Sie demonstrierten in Essen gegen die vom damaligen Bundeskanzler Adenauer, seiner Partei CDU/CSU und Teilen des Großkapitals ge-
plante militaristische Wiederaufrüstung zur Sicherung ihrer imperialistischen Herrschaft. Philipp Müller war einer der Demonstranten. Als er inmitten einer Gruppe – gejagt von einem Kommando der Bereitschaftspolizei aus Köln – in die Nähe des Gruga-Geländes kam, brüllte der Polizei-Einsatzleiter Wolter das Kommando: „Feuer frei“. Es fallen Schüsse. Eine Kugel trifft den fliehenden Philipp Müller von hinten in den Rücken. Dieser stürzt, fällt mit dem Kopf auf das Pflaster. Kurze Zeit später ist er tot. Zwei weitere Jugendliche, der Sozialdemokrat Bernhard Schwarze, Münster (mit dem ich nachher viele Jahre politisch und persönlich befreundet war), und der parteilose Gewerkschafter Albert Bretthauer, Kassel, werden ebenfalls von Polizeikugeln von hinten getroffen. Die Remilitarisierung einer revanchistischen Macht in Westdeutschland hatte ihre ersten Opfer gefordert. Dieser „Muttertag“ des Jahres 1952 wird mir, als Teilnehmer des „Blutsonntages in Essen“, immer in Erinnerung bleiben. Für immer hat sich bei mir dieser brutale Gewaltakt des politischen Feindes in Herz und Hirn eingebrannt.

Fast 40 Jahre später, im März 1992, stehe ich am Grab von Philipp Müller auf dem Friedhof in München-Aubing. Die Grabstätte macht einen gepflegten Eindruck, frische Blumen zieren sie. Auf dem Grabstein ist die Inschrift schon etwas verblasst. Ich entziffere: Philipp Müller 1931 – 1952.

Wer war Philipp Müller?

Ganze 14 Jahre war er alt, als der zweite Weltkrieg zu Ende ging. Hunger und Trümmer, Not und Tod prägten seine Kindheit und die Nachkriegsjahre. Bereits 1938 verunglückte sein Vater, ein Arbeiter im Reichsbahn-Ausbesserungswerk, am Arbeitsplatz tödlich. Seine Witwe musste nun-
mehr allein, mit einer kleinen Rente, für ihre Kinder sorgen. Das jüngste war gerade eineinhalb Jahre alt. Philipp, als ihr ältester Sohn, war ihr in dieser Zeit bereits eine große Stütze.

Nach Abschluss der Volksschule ging dieser als Schlosserlehrling in das Eisenbahn-Ausbesserungs-
werk München-Neuaubing. Drei Jahre später beendete er die Lehre. Er trat in die „Gewerkschaft der Eisenbahner“ ein. Bald wurde er von seinen jungen Kolleginnen und Kollegen zum Gewerk-
schaftsjugendleiter gewählt. Im gleichen Jahr, nämlich 1948, wurde Philipp Mitglied der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ), in der seit 1946 progressive Jugendliche organisiert waren. Philipp hatte erkannt, dass er in und mit diesem Jugendverband am wirksamsten für die völlige Entmili-
tarisierung der Gesellschaft und für die grundlegende Umgestaltung des politischen und wirt-
schaftlichen Lebens in der Bundesrepublik Deutschland auf demokratischer Grundlage wirken konnte. Zugleich wollte er mithelfen, dass nicht Jungen seines Geburtsjahrganges als erste wieder zu Soldaten gemacht werden und es diesen so ergehen könnte wie dem Jahrgang 1924. Von hundert jungen Männern dieses Jahrganges sind im Kriege 25 gefallen, 31 verstümmelt, sieben verwundet und arbeitsunfähig geworden. So beteiligte sich Philipp z.B. am 1. Oktober 1950 am „Tag der Hunderttausende“, der in vielen Städten durchgeführt wurde. Vorher, Pfingsten desselben Jahres, nahm er am „Deutschlandtreffen“ in Berlin teil. Und in dieser Stadt war er dann auch im August 1951 bei den „III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten“. Mit Tausenden anderen jungen Antimilitaristen musste er dabei stets die von der Adenauer-Polizei abgesperrte Grenze zum anderen deutschen Staat, der DDR, auf abenteuerliche und gefährliche Weise überwinden. (Wer spricht heute noch davon, dass beim Versuch des illegalen Grenzübergangs ein Mitglied der „Falken“ von Bereitschaftspolizisten in die Elbe getrieben wurde und dabei den Tod fand.)

Er war besonders aktiv bei der Volksbefragung gegen die Remilitarisierung Deutschlands, die 1951/52 durchgeführt wurde, obwohl die Bundesregierung ein Verbot ausgesprochen hatte. (Trotz dieses Verbotes stimmten 9.116.667 Bürgerinnen und Bürger gegen die Wiederaufrüstung.)

Philipp blieb auch seiner Sache treu, als im Juni 1951 die „Freie Deutsche Jugend“ verboten wurde, weil sie großen Anteil am Widerstand gegen die Wiederaufrüstung hatte und ein hohes Ansehen, besonders bei der Arbeiterjugend besaß. In dieser Zeit fand Philipp den Weg zu den Kommunisten, wurde Mitglied der KPD. Prompt wurde er aus dem Eisenbahn-Ausbesserungswerk gefeuert. In den folgenden Monaten nutzte er die aufgezwungene „vermehrte“ Freizeit, indem er verstärkt gegen die angestrebte Eingliederung der Bundesrepublik in ein gegen den Osten gerichtetes Militärbündnis namens NATO wirkte.

Besonders begeistert warb er für die Teilnahme an der Jugendkarawane am 11. Mai 1952 nach Essen. Am Vorabend dieses Tages machte er sich, gemeinsam mit Freundinnen und Freunden aus München, auf den Weg nach Essen. Während der Eisenbahnfahrt war Philipp Müller fröhlich und sorgte für eine erwartungsvolle und aufgelockerte Atmosphäre. Die Rückreise mussten wir ohne ihn antreten. Ich erinnere mich noch: Wenige Tage nach Philipps Ermordung fuhr ich in die Papinstraße in München-Neuaubing. Dort wohnten Philipps Mutter und Geschwister. Ich wollte kondolieren und zugleich auch die Solidarität und das Beileid der „Sozialdemokratischen Aktion“ (SDA), als deren Landessekretär ich damals in Bayern tätig war, übermitteln. Zugleich sollte ich auch im Namen des „Sozialistischen Jugendaktivs“ (einem Zusammenschluss von Falken, JuSos, FDJlern und jungen Gewerkschaftern), in dem Philipp und ich arbeiteten, sprechen.

Laut klopfte mein Herz, als ich vor dem roten Backsteinhaus, einer typischen Eisenbahnersiedlung der damaligen Zeit, gleich neben den Bahngleisen, stand. Werde ich die richtigen Worte des Mitge-
fühls finden? Was sollte ich antworten, wenn ich gefragt werde von einer Mutter, ob ihr Sohn denn nicht hätte gerettet werden können? Sollte ich mit der bitteren, schmerzenden Wahrheit antwor-
ten, die da lautete: Philipp, den ein Herz-Lungenschuß niedergestreckt hatte, wurde anschließend von Polizisten an Beinen und Armen gepackt und wie ein Paket auf ein Polizeiauto geworfen. Oder sollte ich Folgendes berichten: Als Tage später die Leiche Philipps von der Polizei zur Überführung nach München freigegeben wurde, bot sich ein erschütternder Anblick. Völlig unbekleidet, mit den Spuren der Obduktion am ganzen Körper, lag der tote Philipp da. Nicht einmal ein Totenhemd hatte die Verwaltung der damals von der CDU geführten Stadt Essen beschafft! Nackt sollte der Leichnam den Hinterbliebenen überbracht werden.

Philipps Mutter empfing mich mit Tränen in den Augen. Die damals 49jährige Arbeiterfrau, die vom Leben hart angefasst worden war, verstand mich, ohne dass ich viel zu sagen brauchte. Meine Betroffenheit sagte sicher mehr als Worte. Allerdings wollte sie viel von mir wissen. Bezog sie doch ihre bisherigen Informationen weitgehendst aus der Presse, die bekanntlich die blutigen Vorgänge in Essen der SED in Ostberlin ankreidete. (Obwohl ich weiß, dass in den folgenden Ausgaben der „KAZ“ detailliert berichtet wird über die damalige Situation, will ich doch einiges dazu sagen; kann doch die Wahrheit nicht oft genug herausgestellt werden.)

Meine damaligen Antworten auf die Fragen von Philipps Mutter, meine Richtigstellungen, bezogen sich vor allem auf folgende Punkte:

► Es ist schlechthin eine bewusste Lüge, wenn offizielle Stellen erklären, in Essen habe es sich um eine „vom Osten gesteuerte kommunistische FDJ-Demonstration“ gehandelt. Wahr ist vielmehr, dass zu dieser Jugendkarawane das „Präsidium des westdeutschen Treffens der Jungen Genera-
tion“ aufgerufen hatte, dem weder ein Mitglied der KPD noch der FDJ angehörten.

► Es ist schlechthin eine Verleumdung, wenn über Presse und Rundfunk gemeldet wird: „Mitglie-
der der FDJ hätten auf Polizisten geschossen, sich mit diesen ein Feuergefecht geliefert.“ Tatsache vielmehr ist: Bereits zwei Tage nach dem Blutsonntag musste selbst der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, im Landtag bestätigen, dass „ausschließlich die Polizei von der Schusswaffe Gebrauch gemacht“ habe.

► Es stimmt auch nicht, wenn gesagt und geschrieben wird, dass die Kundgebung bereits einige Tage vorher verboten wurde, weil es sich um eine „kommunistische Angelegenheit der verbotenen FDJ handelt“. Richtig ist vielmehr: Das Verbotsschreiben wurde erst am späten Nachmittag des Vortages der genehmigten Kundgebung den Veranstaltern übermittelt und erst Stunden später in den Rundfunknachrichten ausgestrahlt (als also schon Tausende in Richtung Essen unterwegs waren.)

► Auch das Weitere stimmt ebenfalls nicht. Als einziger Grund des Verbotes wird „der Mangel an ausreichendem Schutz der Kundgebung“ angegeben. Was für ein Hohn! Für die gewaltsame Durchsetzung des Verbotes wurde das Zigfache an Polizeikräften aus allen Landesteilen zusam-
mengezogen, als für den Schutz einer friedlichen Kundgebung benötigt worden wäre. So aber stand ganz Essen und Umgebung unter „polizeilichem Belagerungszustand“.

► Es ist ebenfalls eine Lüge, wenn u.a. der Polizeichef von Essen, Knocher, erklärt, dass die Polizei in „Notwehr handeln und auch schießen“ musste. (Knocher war während der Nazizeit Abwehrchef der Gestapo in einem Solinger Großbetrieb.) Tatsache ist, dass die Polizei uns hin und her jagte bzw. uns einkreiste und dann blindlings auf die nach allen Seiten Flüchtenden mit Gummiknüp-
peln und lederumflochtenen Stahlruten eindrosch. Wie kann von einer Notstandssituation gespro-
chen werden, wenn fliehende Menschen von hinten durch Polizeikugeln getroffen werden?

All das und weiteres sagte ich damals der Mutter von Philipp.

Mich erinnernd meine ich schon, dass damals diese leidgeprüfte Frau meine Ausführungen mit einer gewissen Erleichterung aufnahm. Wurden doch von der anderen Seite, mit all ihren Medien, ihr Sohn und seine Mitstreiter/innen in eine kriminelle Ecke gestellt, als Aufrührer und Land-
friedensbrecher hingestellt. In Erinnerung geblieben ist mir ihre Feststellung: „Mein Philipp hat gewusst, dass die Sache, für die er sich opferte, eine gute Sache ist. Wenn ich auch wenig davon verstanden habe, denn ich habe mich nie um Politik gekümmert.“ (So oder ähnlich waren ihre Worte.) Immer wieder erwähnte sie, was Philipp für ein guter, aufgeweckter und lebenslustiger Junge war. Mit berechtigtem Stolz zeigte sie auf die vielen Bücher, in denen Philipp so oft gelesen hat. Sie zeigte mir auch Bilder von Philipps Ehefrau und seinem kleinen Söhnchen (Philipp hatte ein solches Foto in Essen dabei. Es wurde, von einer Kugel durchschlagen, bei seinen Unterlagen gefunden). Ja: Philipp, der engagierte junge Friedenskämpfer, hatte auch ein Privatleben. 1950 lernte er beim „Deutschlandtreffen“ in Berlin die dort wohnende FDJlerin Ortrud kennen. Bei beiden hatte es gleich gefunkt. Im August 1951, während der „III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten“, heirateten sie. Im Dezember des gleichen Jahres kam ihr Achim auf die Welt …

Mit Philipps Mutter sprach ich dann wieder am 17. Mai 1952 bei der Trauerfeier in München. Über 5.000 Trauergäste aus allen Teilen Deutschlands gaben Philipp das letzte Geleit (die vielen Staats-
schützer nicht mitgerechnet). Es wären noch mehr Menschen da gewesen, hätte nicht die dem sozialdemokratischen bayerischen Innenminister Dr. Hoegner unterstellte Bereitschaftspolizei die wichtigsten Zufahrtswege nach München abgeriegelt. Dadurch blieb es Hunderten verwehrt, der würdigen Trauerfeier beizuwohnen bzw. kamen viele erst verspätet an. Hunderte Kränze und Blumen umrankten den Katafalk, auf dem der Sarg stand. Neben einem Vertreter der „Gewerk-
schaft der Eisenbahner“, des Zentralrats der FDJ, der Pfadfinder und Falken, dem Landtagsabge-
ordneten Jupp Angenfort und dem Ersten Vorsitzenden der KPD, Max Reimann, hielt auch ich eine Ansprache, die ich mit den Worten schloss: „Nichts wird vergessen. Alles wird registriert. Für jeden kommt einst der Zahltag.“

Jetzt, im März 1992, sage ich rückblickend: Philipp hinterließ nicht nur eine von Leid und Sorgen frühzeitig gealterte Mutter, eine blutjunge Frau, einen fünf Monate alten Sohn und Geschwister. Er hinterließ auch zugleich viele Menschen, die ebenfalls von jener Kugel getroffen wurden, die ihn tötete, und die ihrem weiteren Leben einen neuen politischen Inhalt gaben. (Auch für mich haben die Ereignisse in Essen meine künftigen politischen Anschauungen und Handlungen wesentlich mitgeprägt.) Philipp Müller wurde zum Vorbild zigtausender junger Menschen. Dieser junge, bis-
her unbekannte Arbeiter aus München war mit der Kugel des Polizisten nicht zu töten gewesen. Der Name Philipp Müller wurde in Folge von sehr vielen Menschen laut und leise, voller Klage und Drohung, voller Liebe und Hass ausgesprochen. Sein schönes Jungengesicht erschien zigtausend- und millionenfach auf Plakaten und Flugblättern. Er wurde zum Symbol einer großen und gerech-
ten Sache.

Im Frühlingsmonat Mai musste Phips sterben. Einst wird ein neuer Frühling über Deutschland auch das Gesicht von Philipp Müller tragen.

Martin Löwenberg, München


KAZ. Kommunistische Arbeiterzeitung 228 vom 20. März 1992, 12 ff.

Überraschung

Jahr: 1952
Bereich: KPD

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