Materialien 1952

Rede anlässlich des fünfzigsten Todestages

auf dem Friedhof Aubing am Grab Philipp Müllers

11. Mai 2002

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

Philipp Müller wäre jetzt 71 Jahre alt. Doch eine Polizeikugel setzte seinem Leben am 11. Mai 1952 in Essen ein Ende. Geboren 1931 hat er fast seine ganze Kindheit unter dem Nationalsozialismus zugebracht. Als er vierzehn Jahre alt war, war der Krieg zu Ende, Deutschland zerstört und die Verbrechen des Faschismus zeigten sich spätestens damals in ihrem ganzen barbarischen Ausmaß. Philipp Müller hat für sich daraus die Konsequenz gezogen, dass der Rückfall in die organisierte Barbarei des Faschismus nie wieder stattfinden darf. Er wurde engagierter Antifaschist, setzte sich ein für eine wirkliche Entnazifizierung der Gesellschaft und für eine Sozialisierung der Schwerindustrie. Er kämpfte gegen eine Wiederbewaffnung, die nicht nur für ihn jegliche Möglichkeit einer Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands ausschließen würde.

Er wurde Kommunist und Mitglied der FDJ. Als für den 11. Mai 1952 zur „Friedenskarawane der Jugend“ nach Essen mobilisiert wurde, um gegen die geplante Unterzeichnung des Generalvertrages zu protestieren, mit dem die Voraussetzungen für die Wiederbewaffnung geschaffen werden sollten, beschloss er ebenfalls nach Essen zu fahren.

Mit dem vordergründigen Argument, die Demonstration wäre „verkehrstechnisch“ nicht durchzuführen, wurde diese zu einem Zeitpunkt verboten, als sich ein Großteil der Demonstranten bereits Richtung Essen auf den Weg gemacht hatte.

Von Gründung der Bundesrepublik, über das Verbot der KPD 1956 bis zur Umsetzung einer liberaleren Rechtsprechung 1968, war die Atmosphäre in diesem Land geprägt von Kommunistenhass und Kommunistenverfolgung. Diese Verfolgung führte zu weit über 200.000 Ermittlungsverfahren gegen angebliche oder wirkliche Kommunisten in den fünfziger und sechziger Jahren. Mehr als 13.000 Menschen wurden für angebliche oder tatsächliche kommunistische Aktivitäten verurteilt. Die 1952 gerade drei Jahre alte Bundesrepublik wollte den Faschismus vergessen, wollte die Westbindung – und wollte jeden bekämpfen, der eine andere Ansicht vertrat. In Essen ist am 11. Mai 1952 dieser Hass auf alle, die keine Ruhe geben wollten, aufgebrochen. Dieser Hass auf alle Unangepassten, auf alle, die immer noch mit dem Hinweis auf die Verbrechen der Wehrmacht keine neue Armee wollten, auf alle wirklichen oder angeblichen Kommunisten – dieser Hass hat zu den Todesschüssen auf Philipp Müller und den Schüssen auf weitere Demonstranten geführt.

Der Tod Philipp Müllers war ein Fanal. Ein Fanal für die folgenden Jahre der Kommunistenverfolgung. Deshalb stehen wir heute hier und erinnern uns noch an ihn. Der Mord an Philipp Müller offenbarte, dass die junge BRD auch bereit war, über Leichen zu gehen – genauso wie es der Mord an Benno Ohnesorg 15 Jahre später am 2. Juni 1967 zeigte. Unnötig zu erwähnen, dass in beiden Fällen niemals ein Polizist wegen Mordes verurteilt wurde.

Es ist heute schwierig, an Philipp Müller zu erinnern. Die Kalten Krieger der fünfziger Jahre nehmen heute für sich in Anspruch, mit ihrer Strategie der Westbindung, der Wiederbewaffnung sowie der Verfolgung kommunistischer Gruppen Recht gehabt zu haben. Der Beweis, dass sie richtig gehandelt haben, ist für sie der Zusammenbruch der DDR.

Auch ich bin der Meinung, dass es nun wirklich keinen Grund gibt, der DDR eine Träne nachzuweinen. Genauso bin ich aber der festen Ansicht, dass der Zusammenbruch der DDR nicht alles im Nachhinein rechtfertigen kann, was in der BRD geschehen ist, um während des Kalten Krieges Demokratie, Demonstrationsrecht und Meinungsfreiheit auszuhebeln. Schon gar nicht kann es im Nachhinein den Mord an Philipp Müller rechtfertigen. Und weil es auch fünfzig Jahre später keine Rechtfertigung für diesen Mord geben kann und darf, will das offizielle Deutschland Philipp Müller vergessen. Das zu verhindern, sind wir hier.

Warum sollten wir fünfzig Jahre nach seinem Tod noch an Philipp Müller erinnern? Ich möchte einige Argumente nennen:

1. Philipp Müller steht dafür, dass auch eine andere Entwicklung Deutschlands möglich gewesen wäre. Er steht für den Widerstand in den fünfziger Jahren: gegen alte und neue Nazis, gegen Wiederbewaffnung. Für Deutschland als entmilitarisierte Zone. Für ein „Gar nicht erst rein in die NATO.“ Er steht dafür, dass auch zu Beginn der BRD eine andere Bundesrepublik gedacht und erträumt wurde.

2. Philipp Müller ist das erste Opfer in einer weiten Reihe von Toten, die durch Polizeiübergriffe ums Leben kamen. Philipp Müller, Benno Ohnesorg, Klaus-Jürgen Rattay, Günther Sare … die Liste ist lang – und wir sollten keinen einzigen von ihnen vergessen. Sie sind Teil einer Widerstandsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, die die offiziellen Darstellungen immer unter den Teppich kehren. Heute heben wir diesen Teppich wieder ein Stückchen.

3. Philipp Müller hat sich das Demonstrieren nicht verbieten lassen. Das ist hochaktuell. Erst am 1. und 2. Februar diesen Jahres wurde in München die Demonstration gegen die sog. Sicherheitskonferenz verboten. Und mehrere Tausend Menschen haben sich das Recht auf eigene Meinung einfach genommen. Seit Anfang der BRD wird immer wieder versucht, unliebsame Gruppierungen daran zu hindern, ihre Meinung zu sagen. Die Menschen, die dennoch auf die Straße gehen, retten die Demokratie, nicht diejenigen, die Meinungsfreiheit verbieten wollen.

4. Philipp Müller ist gegen die Wiederbewaffnung, gegen den Eintritt in die NATO sowie die Möglichkeiten weltweiter Kriegseinsätze auf die Straße gegangen. Die Demonstranten gegen die Sicherheitskonferenz am 1./2. Februar in München sind genau gegen diese globalen Kriegseinsätze auf die Straße gegangen. Auch wenn die Verfechter des Kalten Krieges sich als Sieger der Geschichte sehen – die Befürchtung der Gegner der Wiederbewaffnung, dass deutsche Soldaten wieder weltweit im Kriegseinsatz stehen werden, war richtig.

Und hier zeigt sich die Aktualität Philipp Müllers. Hier zeigt sich, dass es eine richtige und wichtige antimilitaristische Tradition gibt – und Philipp Müller steht hierfür. Die Bundesrepublik kann und darf diese Tradition nicht einfach ignorieren und verdrängen, sondern sie muss sich dazu bekennen. Um hierfür einen kleinen Schritt zu tun, versuche ich seit Jahren eine Straße nach Philipp Müller in München benennen zu lassen – und es sieht gut aus. München scheint bereit zu sein, sich der antifaschistischen und antimilitaristischen Tradition zu stellen, so dass im zweiten Bauabschnitt auf dem Gelände der ehemaligen Waldmann-Stetten-Kaserne eine Straße seinen Namen tragen wird. Dort wird er in guter Gesellschaft sein: Gustav Landauer wird dort vertreten sein, Felix Fechenbach, Rosa Aschenbrenner.

Ein viel zu kleiner Akt der Entschuldigung für ganzes geraubtes Leben.

Siegfried Benker


www.siegfried-benker.de.

Überraschung

Jahr: 1952
Bereich: KPD

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