Materialien 1953
Resignation ist kein Gesichtspunkt
Meine Damen und Herren!
Ich habe mir für den Hausgebrauch eine Maxime zurechtgezimmert. Sie lautet: Resignation ist kein Gesichtspunkt. Der Satz ist fasslich, handlich und tut, oft genug, seine Dienste. Manchmal aber mustere ich ihn skeptisch und fange an, ihn zu bezweifeln. Denn manchmal- und jetzt maße ich mir an, auch in Ihrem Namen zu sprechen – manchmal werden wir müde. Dann fragen wir uns leise und erschöpft: Vielleicht ist die Resignation doch ein Gesichtspunkt? Ist unser Jahrhundert, das man hoffärtig „das Jahrhundert des Kindes“1 tituliert hat, denn nicht auch jener Zeitabschnitt, worin der Nullpunkt der Menschlichkeit und der Menschheit erreicht wurde? Und ist der Ehrentitel denn nicht nur eine Redensart, und war das Absinken der Humanität auf den Nullpunkt nicht Tatsache und Erfahrung?
Manchmal werden wir müde, wie nach einer Krankheit auf Leben und Tod. Und uns ist nicht damit gedient, dass man uns dann erzählt, die Zeiten der Mongolenstürme, der Pest und der Inquisition seien genauso schlimm gewesen. Ebenso erfüllt von Angst, Flucht, Verbrechen, Vergeltung und ebenso ohne Gedächtnis. Wenn es so blieb, wie es war – wozu verging seitdem Zeit? Und wenn diese, astronomisch bemessen, nichts bedeutet – was schert uns die Astronomie? Hätten fünfhundert und tausend Jahre denn nicht menschlich zu etwas führen müssen? Als Einstein2 von einem Reporter gefragt wurde, mit welchen Waffen – falls es zum Atomkrieg käme und genug Nichtkrüppel übrigbleiben sollten – mit welchen Waffen der übernächste Krieg ausgetragen würde, antwortete er lakonisch: „Mit Steinen.“
Mir scheint, dass wir auch in den dunkelsten Stunden, während wir an nichts mehr glauben, noch immer an alles glauben, nur nicht mehr an erfüllbare Hoffnungen hier, jetzt und durch uns selber. Deshalb, wenn auch keineswegs nur deshalb, wenden viele von uns ihre gesamte Aufmerksamkeit, Mühe und Zuversicht den Kindern zu. Denn die Kinder sind unschuldig. Selbstverständlich nicht so, als ob sie Engel zu Fuß wären, sondern weil sie zum Schuldigwerden noch keine Zeit hatten. Daß wir wieder werden wie die Kinder3, ist eine unerfüllbare und bleibt eine ideale Forderung. Aber wir können zu verhüten suchen, dass die Kinder werden wie wir.
Gerade hier, im Hause der Internationalen Jugendbibliothek, und zum Glück nicht nur hier, geht man in diesem Sinne mit den Kindern um, zu ihrem Besten und für eine bessere Zukunft, an der wir nicht mehr teilhaben dürfen. Zwei Leitgedanken sind die Fixsterne jener möglichen Welt, die wir nur sehen können, aber nicht betreten werden. Die Kinder sollen beizeiten, und das kann nur heißen, so früh wie möglich, begreifen – Sie können das Wort „begreifen“ nicht anschaulich genug auffassen -, dass jenseits ihrer Heimat und ihrer Sprache andere Kinder leben, eine andere Heimat haben und eine andere Sprache sprechen und dass man, indem man ihre Sprache zu verstehen trachtet, Verständnis erwirbt und Verständigung erreicht. Diesem nach draußen zielenden Plan ist ein zweiter untrennbar beigeordnet, der sich nach innen, auf das Kind im Kinde, richtet. Er gilt der Entwicklung und Pflege jener dritten Kraft, die sich am ehesten mit Begriffen wie „Phantasie“ und „musisches Bedürfnis“ umschreiben lässt und deren sträflicher Vernachlässigung die Fehlentwicklung ganzer Generationen zuzuschreiben ist. Dabei geht es nicht um Kinderkunst, sondern darum, dass ganze Menschen entstehen, statt gefährlicher und gefährdeter Zweidrittelgeschöpfe.
So kam es in diesen Räumen immer wieder zu Ausstellungen von Kinderzeichnungen aus anderen Ländern und Kontinenten. Und so stellen heute Kinder aus dem Land Israel aus. Dass es mit ihrer Leihgabe zudem eine ernstere und feierlichere Bewandtnis hat, spürt jeder von uns. Die untilgbare Schuld, die das Dritte Reich auf sich lud, lässt sich nicht in tilgbare Schulden konvertieren. Wo etwas nicht wiedergutzumachen ist, bleibt die „Wiedergutmachung“ allenfalls eine allegorische Geste. Dass noch diese Geste im Vorderen Orient Unwillen erregt und Unfrieden stiftet, ist einer der neuesten Beiträge zu jener Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die, trotz der Überwindung der Schallgrenze, noch nicht begonnen hat.
Wir verstehen, dass es in Bonn noch keinen israelischen Botschafter gibt. Und wir sind gerührt über das, was uns heute und hier erreicht: eine Botschaft der Kinder Israels. Und so sollten wir am Ende doch unsere Verzagtheit wieder abschütteln und zu uns von neuem sagen: Resignation ist kein Gesichtspunkt!
Ansprache Erich Kästners in der Internationalen Jugendbibliothek, München, zur Eröffnung der Ausstellung von Kinderzeichnungen aus Israel, 1953
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1 Nach dem Buch Das Jahrhundert des Kindes (1900) der schwedischen Frauenrechtlerin und Reformpädagogin Ellen Key (1846-1926).
2 Der Physiker und Nobelpreisträger Albert Einstein (1879-1955).
3 Anspielung auf die Bibelstelle Matthäus 18, 3: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelsreich eingehen.“
Erich Kästner, Splitter und Balken. Publizistik. Werke Bd. 6, Frankfurt am Main/Wien 1999, 600 ff.