Materialien 1958

Feine Manieren

Wenn man so all den Geschichten glauben darf, die über das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erzählt und geschrieben werden, dann ist alles eitel Wohne und Sonnenschein, schlicht und einfach Sozialpartnerschaft genannt. Nach diesen Geschichten sind die Zeiten des „Herrn im Hause“ längst vorbei, geht alles auf der freundschaftlichen „Mitarbeiter-Basis“ vor sich.

Da ist zum Beispiel in München die Linhof KG. In jenem Betrieb verlangte vor kurzem ein Direktor von einem Betriebsrat; er möge seine Tätigkeit als Vorarbeiter aufgeben, da diese mit der eines Betriebsrates unvereinbar sei. Böse Zungen behaupteten daraufhin, das geschehe bloß, damit jenem Betriebsrat nicht der Lohn eines Vorarbeiters gezahlt werden brauche – der ja immerhin etwas höher ist als der eines Arbeiters. Und so ließ sich dann der Betriebsratsvorsitzende verleiten, für seinen Kollegen das gesetzlich garantierte Recht des früheren, also des Vorarbeiterlohnes zu verlangen.

Es versteht sich von selbst, dass sich daraufhin der Direktor erstens seiner ihm als „gehobenen Mitarbeiter“ zustehenden feinen Manieren und zweitens der Geschichten über das so herzliche und freundschaftliche Verhältnis zwischen den Sozialpartnern entsann. Er ließ daher dem fordernden Betriebsrat durch den Betriebsleiter schlicht und einfach etwas ausrichten. Und zwar einen Satz, der aus „Götz von Berlichingen“ am häufigsten zitiert wird. „Der Betriebsratsvorsitzende kann mich am …“ meinte der Herr Direktor. Und dabei blieb es.

Jedenfalls so lange, bis dem Herrn Direktor vor Gericht seine feinen Manieren honoriert wurden. Das Verlangen der IG Metall, die beleidigende Aufforderung zurückzunehmen, hatte er nämlich ignoriert.


Metall. Zeitung der IG Metall für die Bundesrepublik Deutschland 11 vom 28. Mai 1958, 6.