Flusslandschaft 1958

Gewerkschaften/Arbeitswelt

Bundeswirtschaftsminister Dr. Ludwig Erhard am 13. Januar: „Es passt nicht zu den Gegebenhei-
ten und den Anforderungen unserer Zeit, wenn wir fortfahren, immer weniger arbeiten, aber wo-
möglich noch immer besser leben und mehr Wohlstand erreichen, ja sogar erzwingen wollen … Es stünde uns viel besser an, einmal ernsthaft die Frage zu prüfen, ob das deutsche Volk nicht bereit sein sollte, anstatt die 45-Stunden-Woche noch zu unterschreiten, wieder eine Stunde mehr zu ar-
beiten.“ Am 14. Januar ertönt bei einer Protestkundgebung der ÖTV ein gellendes Pfeifkonzert. Die viertausend Versammelten fordern Lohnerhöhungen. Ein vielstimmiger Chor ruft: „Ins Bergwerk mit Erhardt.“1

Auch in der Gastronomie versuchen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Arbeitsbedingun-
gen zu verbessern. Der Landesverband für das bayerische Hotel- und Gaststättengewerbe malt deshalb ein düsteres Bild von der Zukunft.2

Am 19. März kommt es zu einem einstündigen Warnstreik der Gemeindearbeiter; sie wollen ihre Tarifforderungen durchsetzen.

Das Wirtschaftswunder macht gierig. Gerade Lebensmittelproduzenten drehen an der Preisschrau-
be und treffen zu diesem Zweck Absprachen.3

Obwohl am Ersten Mai auf dem Königsplatz eine machtvolle Kundgebung stattfindet4, bleibt der Alltag in der Gewerkschaftsbewegung mühevoll.5

In Gewerkschaftskreisen ist es eine ausgemachte Sache: Arbeitszeitverkürzung bedeutet mehr freie Zeit, und diese werden Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer dazu nutzen, sich fortzubilden, kriti-
sches Selbstbewusstsein zu entwickeln und politisch aktiv zu werden. Aber: „… Wie die Freizeit – im Kapitalismus! – plötzlich diesen wundervollen Charakter bekommen soll, wird uns nicht gesagt. An eine selbsttätige ‚Mutation’ kann man leider nicht glauben. Die Forderung nach weiterer Ver-
kürzung der Arbeitszeit kann uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir damit noch keineswegs das menschliche Selbstbewusstsein erhöht haben. Es hat sich erwiesen, dass der Arbeiter der Aus-
beutung seines Betriebs entrinnt, um der Ausbeutung der Meinungsmanager anheim zufallen. Die-
sen teuflischen Kreislauf kann man nur sprengen, wenn man den Rahmen der kapitalistischen Ge-
sellschaft sprengt. Gerade das Problem der Freizeitgestaltung zeigt die komplette Ohnmacht der Reformisten. Wir sollten uns nicht den gleichen Illusionen hingeben und erkennen, da die Befrei-
ung der Arbeiter und der öffentlichen Meinung im allgemeinen nicht durch Arbeitszeitverkürzung, Brechung des Bildungsmonopols usw. möglich ist, sondern nur durch die Brechung der kapitali-
stischen Klassenherrschaft.”6

Hermann Schaefer, der ehemalige Herausgeber der »Rheinisch-Westfälischen Nachrichten«, „wandte sich … wieder nach Bayern, wo er in der Nähe Münchens im Januar 1958 eine Politische Korrespondenz »Gegen den Strom« herausgab, mit der er im Herbst 1958 in die Nähe von Bonn, nach Ittenbach bei Königswinter, übersiedelte, wo sie zur Zeit noch erscheint. Nebenbei betätigte sich Schaefer auch als Buchautor. Unter dem Titel ‚VERRATEN UND VERKAUFT‘ schilderte er unter dem Pseudonym Hans Georg Hermann die Affäre um den ehemaligen Theoretiker des DGB, DR. VIKTOR AGARTZ, ganz im Sinne von Agartz und gegen den DGB und die SPD …“7

Siehe auch „Bürgerrechte“.

(zuletzt geändert am 21.5.2020)


1 Trotzdem gelingt der Durchbruch: Die IG Metall zum Beispiel erreicht eine stufenweise Verkürzung der Arbeitszeit auf vierzig Stunden pro Woche bis zum 1. Januar 1967. Aber erst 1978 ist nach harten, langwierigen Verhandlungen und zahlreichen Arbeitskämpfen für 92,6 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die 40-Stunden-Woche durchgesetzt. 2009 sieht das alles schon wieder ganz anders aus.

2 Siehe „Münchens unwirtliche Gastwirte“.

3 Siehe „Geschäftlicher Schaden“.

4 Fotos von Rudolf Pröhl befinden sich in der Fotosammlung des Archivs der Münchner Arbeiterbewegung.

5 Siehe „Feine Manieren“ und „12.520 Klagen“.

6 Funken. Aussprachehefte für internationale sozialistische Politik 8 vom August 1958, 121.

7 Verschwörung gegen die Freiheit. Die kommunistische Untergrundarbeit in der Bundesrepublik. Hg. von der Münchner Arbeitsgruppe „Kommunistische Infiltration und Machtkampftechnik“ im Komitee „Rettet die Freiheit“ [unter Mitarbeit von Hans Hartl], München (Frühjahr 1960), 36.