Materialien 1958

Ein Anarchist in Lederhosen

Ein Gespräch mit Gisela Graf

Seit einiger Zeit erleben wir eine Art Oskar-Maria-Graf-Boom. Im Fernsehen lief die „Bolwieser“- Verfilmung von Fassbinder, Martin Sperr schreibt an einem Drehbuch der „Unruhe um einen Friedfertigen“, in der Bayerischen Staatsbibliothek ist bis zum 14. September eine Dokumentation über Graf zu sehen, der Süddeutsche Verlag gibt die Gesammelten Werke des Schriftstellers in Einzelbänden heraus und in der Presse erschienen in letzter Zeit zahlreiche Artikel über ihn. Aber gerade diese anscheinende Renaissance löst bei den wahren Freunden und Lesern von Graf ein Unbehagen aus, denn hinter diesem Rummel verschwindet die wirkliche Gestalt des Schriftstel-
lers, wird verfälscht, und taucht wieder auf in der Rolle eines „Volksschriftstellers“, so wie ihn das offizielle Bayern gerne sieht, sehen möchte. Wenn der „Münchner Stadtanzeiger“, der jeden leben-
den Juso als Staatsfeind verdammt, den toten Graf als „Weltbürger und Bayer“ ehrt, ist Miss-
trauen geboten.

In der Oskar-Maria-Graf-Ausstellung in der Bayerischen Staatsbibliothek trafen wir die Witwe des Schriftstellers, die aus New York zur Eröffnung gekommen war und luden sie zu einem Besuch in die Blatt-Redaktion ein. Sie kam und war über die Einladung erstaunt, denn die bürgerlichen Münchner Zeitungen hatten von ihrer Anwesenheit keine Notiz genommen. Für uns war das weni-
ger erstaunlich, der tote Oskar Maria Graf konnte sich gegen den offiziellen Rummel nicht mehr wehren, die lebende Zeugin hätte ein paar bittere Tropfen in den Festpokal der Kulturbürokraten schütten können.

So saßen wir in der Blatt-Redaktion zusammen und wollten ein Interview mit Frau Gisela Graf machen, doch daraus wurde nichts, die Lebensgefährtin der letzten Jahre des Schriftstellers hatte Hunger – wir auch – und bald saßen wir bei Tee, Kaffee, Bier, belegten Broten und Zwetschgenda-
tschi („… den hat der Oskar immer so gerne gegessen …“) und kamen objektbezogen auf Grafs Ver-
hältnis zur Bayerischen Bäckerinnung zu sprechen. Nach dem Zusammenbruch der Räterepublik hatten die einmarschierenden Noske-Truppen zahlreiche russische Kriegsgefangene erschossen, die in der Roten Armee zusammen mit den bayrischen Anarchisten und Kommunisten gegen die reaktionären Truppen der geflüchteten SPD-Regierung gekämpft hatten. Die meisten dieser Gefan-
genen hatten während des Krieges in bayerischen Mühlen und Bäckereien gearbeitet und die Bäk-
kerinnung wollte ihnen einen Gedenkstein errichten. Dabei fanden sie verständnisvolle Unterstüt-
zung von Graf, der selbst aus einer Bäckerfamilie stammte und eine Bäckerlehre hinter sich hatte. So sind wir über den Zwetschgendatschi mitten in der Politik gelandet und wir trugen Frau Graf unsere Bedenken über den Rummel vor, der jetzt von den Nachkommen der damaligen SPD-Bonzen um Graf veranstaltet wird.

„Na ja“, meinte sie lächelnd, „jetzt kann ihnen ja der Oskar nicht mehr in die Suppe spucken, 1958, bei seinem ersten Besuch nach dem Krieg in München, war das anders. Da haben sie erst mal schnell den Literaturpreis der Stadt vor seiner Ankunft an Anna Freud verliehen, damit sie ihn ja nicht dem Oskar geben mussten. Und als er im Couvilliés-Theater aus seinen Büchern las, blieben die ersten beiden Reihen im Theater – die Honoratiorenplätze – leer. Erich Kästner sollte die Ein-
führung sprechen, doch als er hörte, dass Oskar in Lederhosen erscheinen wollte, weigerte er sich. Oskar bedachte ihn mit einem kräftigen „Du kannst mich mal …“. Ja, 1958, da war die ganze Stadt gespalten in Pro- und Contra-Anhänger. Als Graf zum Theater kam, sah er eine dichte Kette von Polizisten stehen. Er klopfte dem erstbesten auf die Schulter und meinte: „Ihr könnt ruhig nach Hause gehen, die Revolution ist vorbei“.

Unsere nächste Frage drängt sich direkt auf: „Warum ist Graf nach dem Kriege nicht nach Deutschland zurückgekommen?“ Frau Graf lächelt vielsagend: „Nun ja, es gab wohl viele Gründe. Er wollte nicht in eine restaurative Politisierung mit hineingezogen werden. Der Schock von 1933 hielt bei ihm Zeit seines Lebens an. Er wählte nach der Emigration lieber die freiwillige Diaspora in Amerika. Deshalb nannte er auch seine nicht vollendete Autobiographie über die Jahre nach 1933 „Vom Exil zur Diaspora“. Er spürte, dass die Nazivergangenheit der BRD nicht bewältigt wurde.“

Frau Graf kramt in ihrer Tasche und will uns einige Auszüge aus Briefen von Graf überlassen. Aber das Kopiergerät streikt und so setzt sie sich kurzentschlossen hinter eine Schreibmaschine in der Blatt-Redaktion und tippt die Briefe ab. Dabei erzählt sie weiter. „Natürlich gab es auch andere Gründe. Oskar’s zweite Frau, Miriam, war Jüdin und sie fürchtete sich vor Deutschland. Er hat ja auch nach dem Kriege die deutschen Schriftsteller aufgefordert, sich eindeutig und klar gegen eine Wiederaufrüstung auszusprechen. Er kämpfte für eine Gesellschaftsordnung, in der der Einzelne und alle Völker das Recht haben sollten, in Freiheit und Frieden daran zu arbeiten, eine bessere Welt zu schaffen. Jeder, der für diese Ziele kämpfte, war für ihn ein Genosse, egal ob er nun ein Kommunist oder ein Sozialdemokrat war.“

Nach vier Stunden verließ Frau Graf die Redaktion. Als wir in den hinterlassenen Briefen lasen, fiel uns ein Ausspruch von Graf ein: „Politisch graust mir vor Bayern und München.“ Am 22. Januar 1952 schrieb er in einem Brief: „Das Aufkommen der Neonazis in Bayern ist geradezu erschrek-
kend. Pfaffenherrschaft verbunden mit Neonazismus …“. Oskar Maria Graf ist immer noch aktuell, seine Wiederentdeckung nur zu begrüßen, doch sollte man ihn aus den Klauen der Kulturbürokra-
tie befreien, seine Bücher gehören uns.

Peter Schult/Django


Blatt. Stadtzeitung für München 103 vom 9. September 1977, 12 f.

Überraschung

Jahr: 1958
Bereich: Kunst/Kultur

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