Materialien 1959
„Starkbier ist lebenswichtig“
Politik am Spundloch – Was darf ein Abgeordneter tun, um seine Popularität zu fördern? – „Bayerische Regierung, bleibe hart!“
Der Fasching, so ergaben jetzt Umfragen in der Isar-Metropole, sei dieses Jahr leider keine reine Freude gewesen: Die Katastrophe von Völklingen und Hamburg hatten ihre Schatten bis nach München geworfen. Nach einigem Hin und Her war sogar der traditionelle Faschingszug in der Landeshauptstadt abgesagt worden, und das Volk, dem diese Darbietung sonst sehr am Herzen liegt, murrte nicht einmal.
Nun ist der Fasching durchaus kein Höhepunkt im Jahresablauf des echten Bayern – man feiert ihn halt, weil ihn die anderen feiern, und außerdem überbrückt er auf angenehme Weise die Zeitspanne zwischen Oktoberfest und Starkbieranstich. Die Starkbierperiode hingegen, die kurz nach dem Aschermittwoch einsetzt, stellt nicht etwa eine Notmaßnahme dar, um die Wochen bis zum Maibockausschank einigermaßen zu überleben, sondern einen spezifisch bajuwarischen Brauch, und zwar schon seit alters her.
Blasmusik und Mondraketen
Starkbier ist dunkel, hat mindestens 18 Prozent Stammwürze und wird zu den Klängen schmetternder Blasmusik getrunken. Wer Starkbier konsumiert, darf sich – im Gegensatz etwa zum Fasching – jeglicher geistiger und körperlicher Anstrengung enthalten. Niemand verlangt von ihm, daß er tanzt oder gar mit seinen Nachbarn Konversation pflegt: Die Brauerei stellt Spaßmacher, deren Witze zu beklatschen keinerlei Verpflichtung besteht, und Vereinigungen geselliger Münchner führen volkstümliche Spiele auf, deren Pointen zu begreifen auch das schlichteste Gemüt imstande ist. Öde Pausen treten nicht ein, denn zwischendurch werden Mondraketen abgeschossen oder Schönheitsköniginnen gewählt.
Man sieht: Starkbiertrinken ist eine besinnliche Angelegenheit. Der Zecher hält gewissermaßen Einkehr, bleibt selbst in der Masse Individuum, das sich, den Blick in den Krug gerichtet, abschließen, aber auch, falls die Lust dazu übermächtig wird, in Form freudiger Zurufe am Geschehen ringsum beteiligen kann. Niemand nötigt den Starkbiertrinker zum Aufstehen oder zu sonstigen Strapazen; hat er sein Quantum in sich hineingeschüttet, kann er sich still unter den Tisch gleiten lassen und wird unauffällig beiseite getragen.
Zudem bietet die Teilnahme an Starkbier-Veranstaltungen sogar Einblicke in politische Bereiche, denn längst ist Bayerns führenden Politikern aufgegangen, welche Möglichkeiten zur Steigerung der Popularität dem Starkbiertrinken innewohnen. Ist es doch Brauch, daß beliebte Persönlichkeiten zwischendurch aufgefordert -werden, einen Marsch zu dirigieren; und wer nicht dazu aufgefordert wird, darf ebenfalls den Taktstock schwingen und auf diese Weise Beliebtheit vortäuschen, wenn er der Trachtlerkapelle eine Runde zahlt. Zum Starkbieranstich, dem ersten Ausschank, beendeten die Abgeordneten des Bayerischen Landtags stets rechtzeitig ihre Sitzungen, damit sie sich, angeführt von Mitgliedern des Kabinetts, der Menge als starkbierzechende und damit als vollwertige Männer vorstellen konnten.
So war’s wenigstens bis 1959. In jenem Jahr trat ein Ereignis ein, das allerorten schier unbeschreibliche Verwirrung auslöste. Zwei Geistliche, nämlich Pfarrer Robert Geisendörfer, Geschäftsführer des Evangelischen Presseverbandes für Bayern, und Monsignore Lorenz Freiberger, Chefredakteur der Münchener Katholischen Kirchenzeitung, verfaßten einen Aufruf, den sie gemeinsam unterzeichneten. „Wir haben“, rügten die beiden Herren, „in den letzten Jahren die Wahrnehmung gemacht, daß die Volksvertreter und die Männer der Öffentlichkeit in übermäßiger Weise zur Repräsentation bei diesen Bierfesten herangezogen worden sind. Auch in der Demokratie darf die Popularität nicht das Höchste sein.“
Mit harten Worten prangerten die zwei Geistlichen den Starkbiertrubel an, der genau in den Wochen organisiert werde, die in die Fastenzeit fielen. Sie sprachen vom „Abgleiten unseres Volkes in ununterbrochene Lustbarkeit“ und von dem „stummen Protest“, den jeder Christ erheben möge „gegen eine Entwicklung, die wir sowohl aus religiösen Gründen als auch vom Standpunkt der Volksgesundheit her als schädlich erachten müssen“. Kurzum: „Wir bitten jeden Christen, der die Absicht hat und sich auch bemüht, nach seinem Glauben zu leben, nach der lärmenden Faschingszeit in den kommenden sechs Wochen bis Ostern allen öffentlichen Tanz- und Bierfesten zu entsagen.“
Dieser Appell „an das Gewissen des einzelnen“ zeitigte bei der CSU-Landtagsfraktion prompte Wirkung: Die Abgeordneten beschlossen, sich der geistlichen Mahnung zu beugen. Die anderen Parteien sahen keinen Anlaß zu derartigen Entscheidungen, während die Bierbrauer eilends ihre Archive durchforschten und laut noch einmal bekanntgaben, was ohnehin jeder Bayer weiß: Starkbier ist eine Erfindung bayerischer Mönche, die sich vor Jahrhunderten auf das Prinzip beriefen: „Liquida non frangunt ieiuneum“ – id est: Flüssiges bricht keine Fasten -, und die mageren Wochen von Aschermittwoch bis Ostern mit Hilfe von Starkbier leichter zu überstehen wünschten.
Die sich daraus entwickelnde mönchische Tradition sickerte allmählich in die katholische Bevölkerung links und rechts der Isar ein, wozu nicht zuletzt der Umstand beitrug, daß noch heute alle 21 Brauereien Bayerns, die sich in klösterlichem Besitz befinden, hervorragendes Starkbier produzieren. Und wer ein rechter bodenständiger Oberbayer ist, unternimmt regelmäßig alle paar Monate eine Bierwallfahrt zum Kloster Andechs.
Der „Ochsensepp“ schoß quer
Die Hinweise auf die fromme Herkunft des Starkbiers waren denn auch ein Schild, mit dem die Brauer die geistlichen Waffen gegen sich zu parieren und zusätzlich Prominente wie Nichtprominente abzuschirmen vermochten. Lärmend wie seit eh und je wurde der Anstich zelebriert, ohne daß allerdings ein CSU-Abgeordneter an diesem Ritual teilgenommen hätte. Doch wenige Minuten später schrie die Menge begeistert auf; am Eingang erschien die massige Gestalt des Volksvertreters Dr. Josef Müller, begleitet von brüllendem Geschrei: „Ochsensepp, Ochsensepp.“
Einige Tage später wurden zwei christlichsoziale Staatssekretäre unter den Starkbiertrinkern wahrgenommen und entsprechend umjubelt; Zeitungsphotos mit dem maßkrugschwenkenden „Ochsensepp“ und der Unterschrift „Blockadebrecher“ hatten ihnen keine Ruhe gelassen. Der Fraktionsbeschluß zerrann ins Nichts.
Im nächsten Jahre, 1960, unternahm Bayerns CSU-Innenminister Alfons Goppel einen Versuch, „die Besinnung auf höhere Werte, auf die ein Kulturvolk in der gegenwärtigen Zeit weniger denn je verzichten kann“, wachzurufen: „Als günstigste Möglichkeit einer Abhilfe bietet sich an, die in den Monaten März und April übliche Starkbierzeit auf die Wochen nach Ostern zu verlegen.“ Die Brauer diskutierten nicht einmal über diesen Vorschlag, und Goppels Popularitätskurve sank jäh ab; Im vergangenen Jahr entsandte das Kabinett wieder offiziell einige Mitglieder, die der CSU angehören, zum Starkbierrummel – vergessen war jener Leitartikel des Monsignore Freiberger in der Kirchenzeitung: „Bayerische Regierung, bleibe hart!“ in dem einige Zeit zuvor der Geistliche gezürnt hatte: „Mußte denn in Bayern an jedem größeren Zapf- und Spundloch nicht nur ein Oberbürgermeister, sondern gleich eine ganze Regierung mitsamt dem Parlament sitzen? Mußten diese ehrenwerten Männer zur Repräsentation Bayerns den besonders feinen Sauf-Kantus: ,I hab Durst, Durst, Durst – mir ist alles wurscht, wurscht, wurscht’ aus voller Kehle mitgrölen? Deshalb sei die bayerische Regierung und die CSU-Fraktion gebeten, hart zu bleiben. Es ist ein großer Dienst an Bayern!“
In diesen Tagen findet die diesjährige Starkbierprobe statt. Noch ist ungewiß, von welcher Seite nunmehr dem Trubel entgegengetreten werden wird – die Geistlichen Geisendörfer und Freiberger hatten sich vorgenommen, immer wieder „nachzubohren“ und „nicht locker zu lassen“; Aber ob sie nun selber oder über Gleichgesinnte etwas unternehmen werden: Die Starkbier-Anhänger können ihnen nicht nur wie alljährlich beweisen, daß dem Getränk eine rein klösterliche Provenienz innewohnt, sondern dazu noch aus einem Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts zitieren, das ein findiger Starkbierzecher ausgrub:
„Lebenswichtig sind auch solche Güter, die zwar nicht zum Leben, wohl aber zur Erhaltung eines bestimmten Lebensstandards notwendig sind. Zu den in diesem Sinne berechtigten Bedürfnissen des Volkes gehörte früher und gehört seit der Nachkriegszeit wieder zeitenweise der Genuß von Bier mit einem das übliche Maß in einer bestimmten Höhe übersteigenden Stammwürzegehalt.“
Otto von Loewenstern
Die Zeit 11 vom 16. März 1962.