Materialien 1959

Etwa zur gleichen Zeit ...

kam ein anderer Münchner „Massenbetrieb“ ins üble Gerede. Der an der Isar wohnende Schrift-
steller Walter Koeppen ließ sich im Stuttgarter Rundfunk über den bekanntesten und meistbesuch-
ten Bierausschank der Welt folgendermaßen aus: „Noch heute kann man in der berühmtesten Schwemme der Stadt die ganz und gar bierdurchzogenen, bierumnebelten, träumenden Gestalten sehen, die, gut mit den Opiumsüchtigen Asiens vergleichbar, im Mief der Lachen, des verschütte-
ten Schaumes, der ausgespülten Neigen, des sauren Erbrochenen vegetieren.“ Tatsächlich stimmte es schon lange nicht mehr, das (von einem Berliner geschriebene) Münchner „Sauflied“ mit dem Refrain: „So schön ist’s im Ho-hofbräuhaus“.

Bei einem Besuch gewann der Autor dieses Buchs damals folgende Eindrücke: Durch zwei morsche Riesentore, die windschief in den Angeln hängen, betritt man „da drunt am Platzl“ das berühmte, staatseigene Wirtshaus. Von den Wänden bröckelt der Kalk. Die Gänge und Treppen zu den zahl-
reichen Lokalitäten und die historische „Schwemme“ sind über und über verdreckt.

In der Schwemme steht das beim Ausschank vergossene Bier knöchelhoch, in den Lachen schwim-
men Zigarettenstummel. Unter den uralten Eichentischen quellen rostige Marmeladekübel über von Abfällen und Speiseresten. Bierdunst und Tabaksqualm vermengen sich zu stinkenden Nebel-
schwaden. Die umherwandernden, dunklen Gestalten, die Koeppen mit Opiumsüchtigen ver-
gleicht, sind die so genannten „Noagerltrinker“, die schale Bierreste in sich hineinschütten. Der Gipfel des Gastronomie-Skandals: Allerlei lichtscheue Gestalten machen sich über ahnungslose, meist angetrunkene Fremde her. Liebgewordene Gewohnheiten einerseits und der beispiellose Massenbesuch andererseits haben bisher jede Besserung dieser Zustände verhindert. Jetzt endlich hat sich das federführende Finanzministerium eingeschaltet, nachdem sich die zuständigen Herren als getarnte Gäste in ihrem eigenen Etablissement umgesehen und „erhebliche Mängel“ festgestellt haben. Staatssekretär Franz Lippert ordnete sofort eine nähere Untersuchung an und versprach, dass die 400-jährige „Bierburg“ gleich nach der Saison saniert und zu einem „weißblauen Schmuckstück“ aufgeputzt werden soll. Der „Bierdimpfl-Geruch“ müsse verschwinden, ohne dass die sprichwörtliche Gemütlichkeit darunter leiden solle.


Karl Stankiewitz, Weißblaues Schwarzbuch. Skandale, Schandtaten und Affären, die Bayern erreg-
ten, München 2019, 142.

Überraschung

Jahr: 1959
Bereich: Lebensart

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