Materialien 1960

Leonhard Roth

Geboren am 28. Mai 1904 in Saldenburg (Niederbayern), gestorben am 22. Juni 1960 in Braz (Vorarlberg).

Mit beeindruckender Selbstlosigkeit opfert er sich für seine Mitmenschen auf. Am Ende reichen jedoch seine Kräfte nicht mehr aus, den Gegnern zu widerstehen, die ihm den Kampf um die KZ-Gedenkstätte Dachau verübeln.

Leonhard Roth beabsichtigt zunächst nicht wie sein Bruder Josef den geistlichen Beruf zu ergrei-
fen. Im Alter von 19 Jahren verlässt er seine niederbayerische Heimat und geht nach Berlin, wo er Literatur und Philosophie studiert. »Damals«, berichtet er später einem Freund, »dachte ich noch nicht daran, Priester zu werden, vielmehr war ich damals der Kirche sehr entfremdet.« Sein Ent-
schluss, ein priesterliches Amt zu übernehmen, reift erst später heran. Er tritt in den Dominika-
nerorden ein, wählt als Mönch den Namen Korbinian und wird am 4. August 1931 im Kloster Wal-
berberg (Erzbistum Köln) zum Priester geweiht. Bei seiner seelsorgerischen Tätigkeit gerät der Pater bald in Konflikt mit den Nationalsozialisten. Ein Vorfall erschüttert ihn besonders, den er später in einer Predigt folgendermaßen schildert: »Es war 1935 in Essen. Da hatten wir für etwa 20.000 Jungmänner des ganzen Ruhrgebiets und Rheinlandes eine Christusfeier. Ich stand auf der Kanzel und verkündete Christus gegen den Antichrist. Im Presbyterium standen zwei meiner Stu-
denten der Universität in ihren Trachten, und der eine hielt die Christusfahne mit dem Christuszei-
chen fest mit der Hand umklammert … Da kamen drei Gestapo-Leute und verlangten von meinem Willi die Christusfahne. Und mein Willi sagte ganz ruhig: ,Die Christusfahne mit mir, ja – die Chri-
stusfahne ohne mich, nein!’ Er sprach’s und wurde mit der Christusfahne abgeführt. Er wandte sich nochmals zur Kirche und rief: ‚Es lebe Christus.‘« Den Studenten trifft Roth nach zehn Jahren im Konzentrationslager Dachau wieder. Er findet ihn 1945 auf einem der Typhusblocks, ausgemer-
gelt und bereits vom Tode gezeichnet. Sofort nimmt sich Roth des Sterbenden an, der den Geistli-
chen auch erkennt. Roth berichtet weiter: »Ich gab ihm das Kreuz und den Leib des Herrn, den ich ständig bei mir trug. Und da fragte ich ihn: ‚Bereust du nicht, was du getan?’ Da schaute er mich groß an, küsste das Kreuz mit letzter Kraft und sprach: ‚Nein, Pater! Es lebe Christus.’ Und so starb er.«

Flucht in die Schweiz

Zwei Jahre nach dem Vorfall in Essen ist Roth selbst ein Verfolgter des NS- Regimes. Doch als er am 29. Januar 1937 verhaftet werden soll, kommt die Polizei zu spät. Der Pater ist bereits wenige Stunden zuvor in die Schweiz geflohen. Vier Jahre lang gelingt es ihm, unentdeckt zu bleiben, ob-
wohl er im »Reichskriminalblatt« vom 18. Februar 1937 zur Fahndung ausgeschrieben ist. Erst am 5. März 1941 wird ihm das Fahndungsblatt zum Verhängnis. In St. Gallen erkennt ihn die Polizei anhand des steckbrieflichen Photos und liefert den Gesuchten über Konstanz an Deutschland aus, wo er am 3. September 1937 in Abwesenheit zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden ist. Roth beugt sich dem Urteil und stellt keinen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Im Gefängnis von Rottenburg am Neckar erklärt er: »Die Strafe nehme ich an. Eine Erneuerung der Hauptver-
handlung erscheint nicht notwendig.« Roth ist bereit, sich seinem Schicksal zu stellen. Die zwei-
jährige Gefängnishaft, die er bis auf den letzten Tag in Rottenburg verbüßt, erträgt er in bewunde-
rungswürdiger Weise.

Häftling im Konzentrationslager Dachau

Ohne zu klagen, findet sich Roth auch damit ab, nach der Entlassung aus der Strafanstalt weiter in Haft zu bleiben. Am 21. Mai 1943 wird er von der Gestapo ins KZ Dachau eingewiesen. Im Lager gewinnt er mit seiner christlichen Haltung bald die Hochachtung der Mithäftlinge. So würdigt der politische Gefangene Reimund Schnabel den Freund, der als einziger der inhaftierten Priester auf Anordnung der Gestapo den schwarzen Winkel der Asozialen tragen muss, in seinem Buch »Die Frommen in der Hölle« mit den folgenden beeindruckenden Sätzen: »Der Autor ist Feind großer Worte, aber was Leo Roth im Lager geleistet hat, kann man nur als heldenhaft bezeichnen. Dieser katholische Priester verzehrte sich selbst im Dienst am Nächsten. Er machte keinerlei Unterschied zwischen den Häftlingen, er sah es auch nicht als seine Aufgabe an, zu missionieren. Er wollte, er musste einfach helfen, und er half jedem, der Hilfe brauchte. Leo Roth existierte mit einem Mini-
mum an Nahrung, denn er verschenkte alles. Er begab sich in die Gefahr, ohne sich auch nur vor-
zusehen. Tag und Nacht war er in den Seuchenbaracken, bettete die Kranken, wusch sie, sprach mit ihnen, betete mit ihnen. Dieser Mann hat wahrhaft Übermenschliches geleistet. Er war immer und überall dort zu finden, wo die Not am größten gewesen ist.« Der Dominikaner fürchtet den Tod nicht. Noch in den letzten Monaten vor der Befreiung ist er bereit, sein Leben für die Mitge-
fangenen zu opfern. »Ich möchte sterben«, erklärt er seinem Kameraden, dem Pfarrer Dr. Emil Muhler aus München. So meldet er sich mit anderen 14 Freiwilligen aus den Priesterblocks zur Pflege der Todkranken, als im November 1944 unter den Häftlingen Fleckfieber, auch »Bauchty-
phus« genannt, ausbricht. Die Ansteckungsgefahr der Seuche ist so groß, dass nur Roth und ein zweiter aus dem Pflegerkreis der Geistlichen die Zeit auf den Todes- oder Sterbeblocks überleben. Der Pater harrt auch bei seinen Kranken weiter aus, nachdem die Amerikaner das Lager am 29. April 1945 befreit haben. Zwei Tage lang bleiben die Erkrankten ohne Verpflegung, und als sich endlich amerikanische Soldaten dem Krankenblock nähern, geht ihnen Roth mit dem warnenden Ruf entgegen: »Typhus!« Er führt auch nach der Befreiung seine Tätigkeit als Seelsorger bei den Kranken fort und denkt nicht daran, sich nun selbst zu pflegen.

Gottesdienst am Ort des Schreckens

Obwohl Roth nichts mehr daran hindert, Dachau zu verlassen, kehrt er dem Lager nicht den Rük-
ken. Er sieht es als seine Pflicht an, an diesem Ort weiter als Geistlicher zu wirken. Mit größter Hingabe widmet er sich der Aufgabe, die er sich selbst gestellt hat. »Er arbeitete oft bis zur Er-
schöpfung und gab sein Letztes an Kräften aus«, berichtet Weihbischof Johannes Neuhäusler über seinen KZ-Kameraden und Leidensgenossen. »Über ein Jahrzehnt lebte er in spartanischer Ein-
fachheit in einer der Baracken des alten KZ-Lagers (Block 26/II), um sich zuerst der Pflege von zu-
rückgebliebenen Häftlingen, dann der Seelsorge an den neuen Häftlingen (SS, Pgs usw.) und dann jener an Heimatvertriebenen zu widmen.« Kardinal Faulhaber höchstpersönlich beruft Roth, der im ehemaligen Konzentrationslager die Kuratie Heilig Kreuz aufbaut, zum Seelsorger der in Da-
chau internierten SS-Führer und SS-Männer. Seine Predigten und Reden verfehlen ihre Wirkung nicht. In Scharen kommen die Internierten zu ihm und verlangen seinen Rat und seinen Segen. Männer, die zum Tode verurteilt worden sind, bitten ihn, aus seiner Hand vor der Hinrichtung die Sakramente zu empfangen. Zahllose entreißt er in ihrer Verzweiflung dem Selbstmord. »Oft drei oder vier Nächte«, erinnert sich ein Zeitzeuge, »berührte Pater Roth kein Bett: denn die Männer standen Schlange vor seinem Zimmer.« Nicht weniger als 1.329 SS-Männer bringt er in Dachau der Kirche zurück. Zusammen mit Internierten baut er auf dem ehemaligen Appellplatz des KZ ein Gotteshaus aus Holz, das den Namen »Heilig-Kreuz-Kirche« erhält. Unter seinen Helfern ist so mancher, der früher Roth als KZ-Häftling misshandelt hat. Die schwere Tätigkeit im Lager Da-
chau-Ost reißt an den Nerven des Kuraten und zehrt seine Kräfte auf. So bittet Roth am 15. Okto-
ber 1953 in einer Krise das Erzbischöfliche Ordinariat in München zum erstenmal um seine Enthe-
bung von der Lagerseelsorge. Wie müde er ist, schreibt er in einem Brief an den Dachauer Stadt-
pfarrer Friedrich Pfanzelt: »Hier gehen allmählich meine letzten Nerven drauf. Ich bin jetzt seit zwölf Jahren in ununterbrochen anormalen, extremen Verhältnissen: 1941 bis 1945 Haft- und Konzentrationslager ohne jede nachherige Ausspannung. Anschließend 1945 bis 1948 Seelsorger im Internierungslager Dachau, wo nur höchst aufreibende körperliche Strapazen und seelische Probleme zu meistern waren. Anschließend ein Jahr Kaplan in St. Andreas/München, wo ich be-
stimmt keine Erholung hatte. Seit 1949 dann Seelsorger der Heimatvertriebene hier mit fast über-
menschlichen Anforderungen. Das Schwierige aller dieser Stationen war und ist, dass ich dauernd zwischen Entwurzelten eine wirklich nervenzerrüttende Arbeit zu leisten hatte. Da wird man all-
mählich selbst ganz anormal. Zehn Jahre, mit dem Münchener Jahr Unterbruch, bin ich jetzt in diesem dämonisch besetzten Lager Dachau, herausgeworfen aus jeder normalen bürgerlichen Ge-
sellschaft. Jetzt ist es mir nervlich einfach zuviel. Internierungslager und Flüchtlingslager haben meine ganzen Kraftreserven aufgerieben, nicht nur die körperlichen, sondern mehr die seelischen. Auch ich bin nur ein Mensch mit beschränkter Nervenkraft.«

Kampf um die KZ Gedenkstätte

Doch Roth muss auf seinem Posten bleiben. Auch die folgenden beiden Enthebungsgesuche, die er am 30. Juni 1955 und am 18. Dezember 1957 an das Erzbischöfliche Ordinariat richtet, ändern an seiner Situation nichts. Mit zunehmender Verbitterung beobachtet er, dass weder in Bonn noch in München Anstrengungen unternommen werden, das ehemalige Konzentrationslager zur Erinne-
rung an die Opfer in eine würdige Gedenkstätte, ja in eine »Wallfahrtsstätte«, wie seine Forderung lautet, umzuwandeln. Im Oktober 1959 klagt er einem Mitarbeiter der »Passauer Neuen Presse«: »Es ist, als wollten die zuständigen Stellen, der Bund, das Land Bayern und die Stadt Dachau, das Konzentrationslager aus der Erinnerung löschen.« Aber dagegen läuft der streitbare Kurat Sturm. »Oft«, erinnert sich Neuhäusler, »saß er bis weit über Mitternacht an der Schreibmaschine, um lange Briefe oder scharfe Zeitungsartikel zu schreiben, um praktische Vorschläge zu machen, dringende Bitten vorzubringen, gar oft auch um öffentliche Kritik zu üben an wirklichen oder vermeintlichen Fehlern von Bund oder Staat oder Stadt oder Bischöfen oder Ordinariat oder Ortsklerus.« Roth fordert, dass das ehemalige KZ in seinem ursprünglichen Zustand erhalten bleibt und nicht durch ein Mahnmal ersetzt wird. So sagt er: »Die Leute, die herkommen, wollen keine Denkmäler sehen. Sie wollen sehen, wie es wirklich war. Sie wollen die Baracken sehen, die Wachttürme, das Krematorium und die Gräber. Und sie wollen sich auch selbst überzeugen: So war es.« Empört reagiert Roth, als der Dachauer Bürgermeister Hans Zauner am 10. November 1959 dem Stadtrat vorschlägt, die inzwischen von den Flüchtlingen geräumten Baracken des La-
gers Dachau-Ost mit armen Leuten, die Wohnung suchen, neu zu belegen. Am 13. November protestiert er in den »Dachauer Nachrichten« mit einem Leserbrief gegen das Ansinnen: »Das Internationale Dachauer KZ-Komitee hat sich auf seiner Tagung in Brüssel, auf der ich als deut-
scher Vertreter anwesend war, schärfstens gegen jede Art von Wiederbelegung gewandt. Es lagen diesbezüglich Absichten des Herrn Vertriebenenministers Professor Dr. Oberländer vor. Außerdem habe ich dem Komitee die mir bereits bekannte Absicht des Herrn Bürgermeisters Zauner mitge-
teilt… Auf einem Massenfriedhof, wie es das KZ Dachau darstellt, sollte man nach Ansicht des Komitees keine Menschen ansiedeln.« Mit diesem Schreiben zieht sich Roth, dem im Kampf um die KZ-Gedenkstätte ein immer kälterer Wind entgegenbläst, auch den Zorn seiner kirchlichen Vorgesetzten zu. Am 18. November 1959 erteilt ihm Generalvikar Dr. Johannes Fuchs im Auftrag des Ordinariats einen strengen Verweis, der folgenden Wortlaut hat: »Aus gegebener Veranlassung machen wir Sie aufmerksam, dass Geistliche nicht nur zur Herausgabe von Büchern, sondern auch zur Veröffentlichung von Aufsätzen und Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften der vorausgehen-
den Erlaubnis des Ortsoberhirten bedürfen (Can. 1386 §1). Diese Erlaubnis ist in jedem Fall unter Vorlage des Manuskripts rechtzeitig einzuholen. Wir erwarten, dass Sie in Zukunft diese Vorschrift gewissenhaft einhalten werden.«

Ein verhängnisvolles Interview

Zum Eklat kommt es dann im Januar 1960, als Bürgermeister Zauner dem britischen Journalisten Lew Gardner vom »Sunday Express« in London ein Interview gibt, in dem er angeblich gesagt ha-
ben soll: »Bitte, machen Sie nicht den Fehler und denken Sie, dass nur Helden in Dachau gestor-
ben sind. Viele Häftlinge waren politische Gefangene, die deshalb dort waren, weil sie illegal gegen die damalige Regierung opponierten.« Die Aussage des Dachauer Bürgermeisters veröffentlichte Gardner am 10. Januar 1960 im »Sunday Express« wörtlich: »Please don’t make the mistake of thinking that only heroes died in Dachau. Many inmates were political prisoners who were there because they illegally opposed the Government of the day.« Das Echo auf das Interview ist ein weltweiter Protest. Zauner wehrt sich und erklärt, dass seine Äußerungen entstellt wiedergegeben seien. Da er nicht Englisch spreche, habe er die Übersetzung der Dolmetscherin nicht kontrollieren können. Energisch bestreitet Zauner, er habe die Widerstandskämpfer gegen Hitler als »illegale Opposition« bezeichnet. Er habe vielmehr dem Journalisten deutlich machen wollen, »dass die Stadt Dachau und ihre Bevölkerung wegen des Konzentrationslagers zu Unrecht von der Welt diffamiert wird«. Aber alle Beteuerungen des Bürgermeisters können den empörten Roth nicht überzeugen. In einer Protestversammlung, zu der ehemalige Dachauer Häftlinge die Bevölkerung der Stadt am 18. März 1960 in den Saal des »Birgmannbräus« einladen, erklärt er als einer der Hauptredner: »Zauner möchte sich durch Leugnen aus der Affäre ziehen.« Im Verlauf der Ver-
anstaltung, die unter dem Thema steht: »Schändet Bürgermeister Zauner den Ruf der Stadt Da-
chau?«, lässt sich Roth zu weiteren Angriffen gegen das Stadtoberhaupt hinreißen. Er hält Zauner vor, in der NS-Zeit Zweiter Bürgermeister von Dachau gewesen zu sein und »mit den Nazibonzen wichtigste Dinge besprochen« zu haben. Aber auch den Prälaten Pfanzelt lässt er nicht ungescho-
ren. Ihm wirft er ebenso wie Zauner vor, sich zu Unrecht damit zu brüsten, Dachau vor der Zerstö-
rung durch die Amerikaner bewahrt zu haben. Die wirklichen Retter der Stadt seien politische Häftlinge gewesen. Die Angriffe des Kuraten auf Pfanzelt und Zauner lösen in der Dachauer Bevöl-
kerung einen Sturm der Entrüstung aus. Die Reaktion in der örtlichen Presse zeigt Roth, dass seine Äußerungen für ihn nicht ohne schwerwiegende Konsequenzen bleiben werden. So schreibt er am 23. März 1960 an die Zeitung »Die Tat«: »Mich wird wohl in den nächsten Tagen der Bannstrahl meiner kirchlichen Behörde treffen wegen der Teilnahme an der Versammlung und wegen meiner dortigen Worte.«

Abberufung aus Dachau

Seine Ahnung bewahrheitet sich sehr rasch. Bereits am 24. März 1960 wird Roth von seinen kirchlichen Vorgesetzten aus Dachau abberufen und beurlaubt. »Das Erzbischöfliche Ordinariat«, erklärt dazu Weihbischof Neuhäusler später, »wurde … zum Eingreifen gezwungen. Dem Kurat Roth wurde vor allem zur Wiederherstellung seiner Gesundheit, besonders seiner zerrütteten Nerven, ein dreimonatiger Urlaub gewährt. Ihm wurde zugesichert, dass er nach Beendigung seines Urlaubes einen Seelsorgeposten bekäme, der seiner Neigung und seinen gesundheitlichen Verhältnissen entspräche und dass dies nicht von oben herab, sondern in gütlicher Verhandlung mit ihm verfügt werde.« Das Schreiben, das Roth am 24. März 1960 von Generalvikar Dr. Fuchs erhält, hat folgenden Wortlaut: »Mit Wirkung vom 25. März 1960 gewähren wir Hochw. Herrn Leonhard Roth, Dachau-Ost, Erholungsurlaub bis 30. Juni 1960. Hochw. Herr Kurat Roth möge uns umgehend mitteilen, wo er den Erholungsurlaub verbringen wird. Etwa 2 – 3 Wochen vor Abschluss des Urlaubs wird Hochw. Herr Kurat Roth mit der Oberhirtlichen Seite Verbindung aufnehmen über den künftigen Einsatz in der Seelsorge.« Der Generalvikar versteht die Beurlau-
bung nicht als Strafe. Am 10. Mai 1960 schreibt er Roth: »Die einzige Abordnung, die unmittelbar nach Ihrer Beurlaubung zu mir kam, hat sich offenbar auch davon überzeugen lassen, dass diese Beurlaubung aus gesundheitlichen Gründen notwendig war und keinerlei Strafcharakter an sich hatte. Inzwischen ist die Seelsorgestelle Dachau-Ost im Zug der Neuplanung besetzt worden. Lieber Herr Kurat! Nützen Sie die Wochen der Erholung gründlich aus, damit Sie mit erneuten Kräften auf neuem Posten wieder beginnen können.«

Roth sieht die Angelegenheit offenbar in einem anderen Licht, denn am 11. Juni antwortet er aus Luzern einer Frau Benedikt: »Ihr lieber Ostergruß, den ich herzlich verdanke, wurde mir nachge-
sandt. Ich wurde am 24.3. vom Ordinariat wegen sehr starker Differenzen mit ihm und Dachau-Stadt-Behörden über Nacht aus D-Ost endgültig abberufen und bis 30. Juni in Invaugs-Urlaub geschickt. Und dann gehts wohl an einen Strafposten. Tut aber nichts! Es muss jeder nach seinem Gewissen vorgehen. Frl. Ursi ist noch in D-Ost und hütet meine Wohnung, da ich ja bis 30. Juni rein formell noch Kurat von D-Ost bin.« Der Schriftsteller Egon Herrmann, der mit dem Pater eng befreundet ist, sieht Roth mit Trauer aus der Kuratie Heilig Kreuz scheiden. »Es war ihm«, be-
hauptet er am 29. August 1960 in einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft München 11, »zur Pflicht auferlegt worden, gegen jedermann, auch gegenüber seinen engsten Freunden, Kirchen-
ratsmitglieder(n) usw. strengstes Stillschweigen zu bewahren. Nachdem er um 6 Uhr früh (am 27. März) in der kleinen Barackenkirche die Messe gelesen hatte, verließ er am gleichen Tage gegen 7 Uhr früh, ohne sich von jemandem verabschiedet zu haben, das Lager.«

Mysteriöser Tod

Die letzten Tage im Leben von Pater Roth liegen im Dunkeln. Vor allem sein mysteriöser Tod gibt später zu den verschiedensten Spekulationen Anlass. Die Leiche des Geistlichen, der seit dem 22. Juni 1960 als vermisst gegolten hat, wird am 15. August von den Gebrüdern Hubert und Richard Lorünser aus Braz auf einer Bergtour unterhalb des Kars der Zwölferspitze in den Klostertaler Alpen entdeckt. Der Fundort liegt im Waldstück Ehalp in rund 1400 Meter Höhe. Der Körper des Toten ist schon stark in Verwesung übergegangen und das Gesicht fast unkenntlich. Die Leiche liegt auf dem Rücken. Sie ist auf zwei Pullover und auf einen Rock gebettet. Neben dem Toten fin-
den die beiden Bergsteiger einen viereckigen Touristenbeutel, eine aufgeschlagene Bibel, eine Thermosflasche, eine Zeitung, eine Illustrierte und einen Knirps-Regenschirm. Auf einen Zettel hat der Pater geschrieben, wer er sei. Er bittet, dass »im Falle meines etwaigen Todes« seine Wirt-
schafterin in Dachau-Ost verständigt werde. Es sei sein Wunsch, an Ort und Stelle begraben zu werden. Kurz vor dem Tod hat Roth noch in sein Notizbuch eingetragen: »Es ist ein weiter Weg von der Anklage anderer zur Selbstanklage. Dies ist bitter und endet in jener Selbstdemütigung, deren …« Der letzte Satz ist nicht vollendet.

Zum Tod des Priesters teilt das Österreichische Bundesministerium des Innern Ende September 1960 dem Bayerischen Landeskriminalamt über Interpol mit: »Nach aufgefundenen Schriftstücken ist zu schließen, dass Roth wahrscheinlich am 22. Juni 1960 freiwillig aus dem Leben geschieden ist. Eine Barschaft von rund 1.800 DM (richtig: 1.470 Mark in einem Briefumschlag, d.Verf.) und alle sonstigen Habseligkeiten waren wohlgeordnet bei der Leiche. Sie weist keinerlei Spuren frem-
der Gewalteinwirkung auf und auch die Möglichkeit eines Unfalls ist auszuschließen. Das Bezirks-
gericht Bludenz hat die Leiche freigegeben.« Doch der Bruder des Paters, Heinrich Roth, hat Zwei-
fel an der Todesursache. So schreibt er in den »Dachauer Nachrichten« vom 8./9. Oktober 1960, nachdem er von der Verlautbarung des Innenministeriums in Wien Kenntnis erhalten hat: »Wer meinen Bruder, Pater Roth, persönlich kannte, muss bestätigen, dass ein Freitod außer aller Frage steht.« In einem Brief, den Weihbischof Neuhäusler am 21. Januar 1961 einem Bekannten des Verstorbenen schreibt, lässt er die Todesursache offen: »Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass P. Roth tot ist. Am 14. August (richtig: 15. August, d.Verf.) vergangenen Jahres fand man ihn tot in den Bergen von Vorarlberg. Der Tod muss aber schon etwa 1 1/2 Monate vorher eingetreten sein. Die Todesursache konnte nicht mehr festgestellt werden, da der Leichnam schon sehr verwest war.« Der Informationsdienst Nr.20 vom 19. Mai 1962 der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) verbreitet später zum Ende von Pater Roth folgende Erklärung: »Der Tod war durch eine Überdosis Schlaftabletten eingetreten.« Leonhard Roth wird am 19. August 1960, wie es sein ausdrücklicher Wunsch gewesen ist, auf dem Friedhof in Braz beigesetzt. Über das Begräbnis schreibt »Die Andere Zeitung« vom 7. Dezember 1961 in einem Rückblick: »Die Bestattung des Paters gestaltete sich zu einer unvergesslichen Demonstration. Eine unüberschaubare Schar von Leidtragenden versammelte sich auf dem Friedhof der Gemeinde Braz, Freunde aus allen Him-
melsrichtungen, ehemalige KZ-Kameraden, die Pater Roth als unerschrockenen Häftling Nr. 47963 in Dachau kennengelernt hatten, viele Geistliche und ein paar Überlebende aus den KZ Kranken-
baracken, die der uneigennützigen Krankenpflege des Paters ihr Leben verdanken.«

Seiner Gemeinde in Dachau-Ost und den zahlreichen Freunden, die er sich bei seinen seelsorgeri-
schen Tätigkeiten erworben hat, bleibt der aufrechte Streiter unvergessen. Einer von ihnen ist Wilhelm Holzapfel, der als ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS im Internierungslager in Da-
chau inhaftiert gewesen ist. Dort arbeitete er als Organist und Chorleiter über ein Jahr lang täglich mit Roth zusammen. Über den Pater sagt er später: »Für mich ist er ein Heiliger, und so lebt er in mir fort.«

Dokumentation: Hans-Günter Richardi


http://www.zbdachau.de/fates/ger/roth.htm (6. Juni 2010)

Überraschung

Jahr: 1960
Bereich: Gedenken

Referenzen