Materialien 1961

Gruppe SPUR/München

Deutsche Gruppen VII


Zeichnung: Spur-Manifest. Text: Der Vorhang der Kultur zerriss in lauter Fetzen, worüber sie das Los warfen; verkauften sie an einen Trödler, damit jeder seine Blöße bedeckte.

Es waren einmal vier zornige junge Künstler in dem schönen Lande Schwabing. Die wollten nicht kapitalistisch sein, hatten die bürgerliche Gesellschaft satt und den Marx nicht ganz verdaut. Sie waren alle vier durchaus begabt für die Künste und für die Reklame, was man an ihren vielen bürgerlichen Ausstellungen u.a. beim „Deutschen Künstlerbund“ und in der kapitalistischen Galerie van de Loo, ferner an ihrem auffallenden Benehmen bei einer Ausstellungseröffnung sehen konnte: da standen sie alle, unbekümmert um die Besucher, in einer Ecke und beteten vor sich hin, sanken in die Hocke und murmelten sitzend weiter, was doch sehr reklametüchtig genannt zu werden verdient. Diese vier zornigen, tüchtigen Maler hatten gute Ideen (von Marx) und künstlerische Leitbilder von Beckmann, über Nay bis Appel, aber Gott in seiner Güte gefiel es, dass sie in deutscher Manier eine Weltanschauung schöpfen wollten. Da verfassten sie Manifeste, in denen sie (nach Marx, den sie allerdings zu erwähnen vergaßen) die Befreiung des Individuums durch eine antikapitalistische Revolution und die sofortige Revolte gegen das Gebäude und die Einrichtung der UNESCO forderten. Dieser Lärm machte wieder viele bürgerlich-kapitale Manager und Galerieherren auf sie aufmerksam und die zornigen jungen Revolutionäre wurden immer bekannter und bekannter. Weil sie immer wieder proklamierten, dass sie ganz allein mit einigen Freunden, den „internationalen Situationisten“, die alte Gesellschaft stürzen und die UNESCO stürmen wollten, gefielen sie allen aufs Verrückte und Unerhörte versessenen Spießern recht wohl, ließen sich loben im modernistischen Kunstbetrieb und es sich wohl sein im Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft, die sie satt hatten bis oben hin.

Märchen entstammen naiven Vorstellungsbereichen. Unterstellen wir den Spurleuten – trotz aller Reklame – eine gehörige Portion Naivität, so sind sie zwar reichlich laut, aber nicht unsympathisch. In den Bildern ist ihre Naivität sogar echt, unbefangene Wutausbrüche, manchmal auch Rülpser, Freud nannte es „Abreagieren“, Sie nennen’s abstrakten Expressionismus: Gesichtsfetzen, Glieder, Humanschrott, Unfallstenogramme, zu Farbspulen gedreht, zu Därmen aufgewickelt, mit Hackebeilen von Pinseln aufgesplittert. Hoppla, jetzt kommt Spur!

Massenhaft Naivität gehört allerdings dazu, in diesem Farbgebrüll die totale Überwindung der bisherigen Moderne und der bürgerlichen Gesellschaft zu sehen, wie das die Spur-Manifeste prophetisch verkündigen. Weil die wilden Münchener wieder bruchstückhaft Realität zulassen ins abstrakte Konzept, weil sie das Aktuelle, die „Situation“ andeuten, fühlen sie sich stark genug, die übrige Moderne in die Pfanne zu hauen. Bis einschließlich Posttachismus alles „Selbstzerstörung“, „Entfremdung“ und „Tod“, Hoppla, jetzt kommt Spur!

In ihrem wütigen Clinch mit den abstrakten Ringrichtern steckt unstreitig echtes Unbehagen, das bis zu salonrevolutionären Ausbrüchen hochgekitzelt ist. Aber bekanntlich gehört es zu den beliebtesten Gesellschaftsgags, in einem illuster-gemischten Kreis bei klingenden Gläsern und geröteter Wangen auf den Sturz der Bürgerwelt anzustoßen und den Schuhfabrikanten neben sich mit dem Ende des Kapitalismus zu frozzeln. Deswegen keine Feindschaft nicht, man kennt sich und der Künstler, wie Spur selbst bemerkt, ist immer noch der beste Clown.

Sie haben ihren Marx gelesen, werfen der Bürgergesellschaft und ihrer Kunst hoffnungslose Spezialisierung, geistige Erfrierung, Verbürokratisierung und Unterdrückung aller umfassenden, aufs Totale der Existenz gerichteten Bestrebungen vor. Sie beteuern (nach dem kommunistischen Manifest), die Entartung dieser Gesellschaft könne nicht im Detail geheilt werden, „sondern nur im Ganzen mit dieser Gesellschaft verworfen werden“. Bei den Marxisten haben sie gelesen (und unsauber wiederholt), „die Automatisierung der Produktion und die Sozialisierung der Lebensgüter werden mehr und mehr die Arbeit zur äußeren Notwendigkeit degradieren und schließlich dem Individuum die vollständige Freiheit geben“ (Manifest vom August 1960). Vom Marx-Engelschen Ziel des Kommunismus nehmen sie den Begriff des „spielenden“, zu seiner echten Freiheit entbundenen Menschen, den „geschichtlich letzten Beruf“ im Augenblick des wirtschaftlichen und geistigen Überflusses, „wo jeder Künstler werden wird“ (Manifest).

Aber beileibe wollen sie nicht marxistisch sein, weswegen sich auch die Urheber ihrer ideologischen Basis verschweigen.

Aus ihrem Manifest schaut der euphorische Individualist heraus, der sich dem ganzen politischen Kram zutiefst überlegen fühlt. Nachdem „Spur“ nachdrücklich von der Verwechslung mit jeder bestehenden Opposition, Gewerkschaft und Parteien („sie konservieren das Bestehende“) gewarnt hat, schlägt sie die sofortige Verwirklichung ihrer neuen „situationistischen Kultur“ vor, die höchste Teilnahme an der menschlichen Gegenwart als Verwirklichung des freiheitlichen Spielmenschen. Statt der marxschen Proletarier sollen sich die „revolutionären Spieler aller Länder vereinigen“, einen „dynamischen, unitären Urbanismus“ verkörpern, „unpopuläre Volkskunst“ machen.

Die Spur führt ins prophetische Kauderwelsch einer intellektuellen Sekte, der große Affront gegen die entartete Bürgerwelt endet in der Galerie van de Loo, die Revolution findet ungünstiger Umstände halber in einem gemieteten bürgerlichen Salon statt.

Spur kann sich so wenig gesellschaftlich von dieser gehassten Krämerwelt lösen, wie sie sich ästhetisch von einigen ehernen Gesetzen der Moderne trennen mag. So bleibt es bei Spuren von Realität, Aktualität und Vernunft, der Rest ist nicht unüblich.

Merke:
Dass die immer Morgigen auch schon heute gut verdienen, dass der Protest so gut wie das Zukreuzkriechen seinen Mann nähren kann.
Martin Walser, Halbzeit, Suhrkamp 1960, S. 666.

Mitglieder
Lothar Fischer, Plastik
Heimrad Prem, Malerei und Graphik
Helmut Sturm, Malerei und Graphik
Hans-Peter Zimmer, Malerei und Graphik
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Pressestimmen

Führt solche Malerei wirklich einer neuen sozial-kulturellen Synthese entgegen? Ist „Spur“ in der Lage, den epigonalen Tachismus zu ersetzen? Oder der außerordentlich schnellen Erschöpfung und kommerziellen Ausschlachtung aller neuen Kunstimpulse, die für unsere Gesellschaft bezeichnend scheint, entgegenzutreten? Das mag hoffnungslos erscheinen. Als Alleinversuch wäre es das wohl auch. Die jungen Künstler sind jedoch nicht allein, sind nicht so ein Unikum, wie sie denken. Es gibt viele Anzeichen einer wachsenden Unzufriedenheit, einer „kulturellen Krise“. Und die Ziele der Rebellen sind nicht sehr verschieden. Ehe die Spur-Mitglieder die Monochromie, zum Beispiel, als unproduktive Polemik (sind sie nicht selbst Polemiker?) abtun, täten sie gut, das Gelsenkirchener Stadttheater anzuschauen und die Manifeste von Yves Klein zu lesen. Die „Regierung der Sensibilität“ ist von ihrer „situationistischen Kultur“ weniger weit entfernt, als sie denken. Nur viel präziser ausgedacht.

John Anthony Thwaites über die Spur-Ausstellung bei Van de Loo in Essen, in „Deutsche Zeitung“, vom 23. September 1960.


tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 7 vom Februar 1961, 18 f.

Überraschung

Jahr: 1961
Bereich: Kunst/Kultur

Referenzen