Materialien 1961

Rechtsstreit um „Spur im Exil“ (Heft 6)

Begeistert machten wir uns in Südschweden an eine neue Nummer unserer Zeitschrift „Spur“ Nr. 6, „Spur im Exil“, ohne zu ahnen, dass dieses Heft den längsten Prozess in der bayerischen Justizgeschichte auslösen sollte. Ich pendelte zwischen Drakabygget und der Druckwerkstatt in Kobenhavn, die uns Asger Jorn vermittelt hatte, hin und her. Da die Besitzer der Druckerei, Permild und Rosengreen, Kunstmäzene und Sammler waren, spielten die enormen Kosten des Farbdruckes keinerlei Rolle, bezahlt wurde mit Bildern.

Voller Tatendrang machten wir uns, als es soweit war, auf den Weg nach Götehorg zum Situationisten-Kongreß. Bereits der Kongressort, ein ekelhaft-riesiger Betonklotz von Hotel, war falsch gewählt. Debord dozierte, Prem provozierte mit seinem niederbayrischen Dickschädel und Hans-Peter und ich versuchten zu vermitteln. Um was es inhaltlich ging? Ich weiß es nicht mehr. Selbst die Ereignisse beim legendären orgiastischen Abschlussfest auf der Schiffsreise nach Dänemark kenne ich nur aus den Erzählungen der Beteiligten: angeblich musste man mich in eine Kajüte einsperren, da ich mehrmals versucht haben soll, Hölderlin zitierend („Ach du Stille-Schöne, selig holdes Angesicht … „), über Bord zu springen. Gut erfundene Legenden gewinnen ihre Glaubwürdigkeit dadurch, dass nicht auszuschließen ist, die Geschichte hätte tatsächlich so ähnlich ablaufen können.

Nach langer Abwesenheit wieder in München, im Spätherbst 1961, zogen wir durch die Schwabinger Kneipen und verkauften sehr erfolgreich unsere bunte „Spur“-Zeitschrift für 5 Mark, heute erzielt sie bei Auktionen den hundertfachen Preis. Ein verklemmtes Pärchen fühlte sich durch unsere Texte, besonders durch mein Sigmund Freud/C.G. Jung-Gedicht, derart aufgegeilt, dass sie unsere Zeitschrift der Münchner Staatsanwaltschaft übergab. Dort wollte sich ein junger Staatsanwalt profilieren und leitete das Heft an das erzbischöfliche Ordinariat weiter; wobei er im Begleitbrief an den Weihbischof die Frage stellte, ob nicht Anstoß zu nehmen sei an dem pornografisch-gotteslästerlichen Text eines gewissen Dieter K. Dies ließ sich der gottesfürchtige Mann, Ratzinger hieß er leider nicht, nicht zweimal sagen, nahm den gewünschten Anstoß und stellte Strafanzeige. Der Staatsanwalt sah sich bereits auf der Leiter zum Generalstaatsanwalt hochklettern und holte sein Hämmerchen aus der Hose: Beschlagnahme-Beschluss für alle noch vorhandenen Exemplare der „Spur“-Zeitschrift Nr. 6, Hausdurchsuchung in meinem Keller, eine dicke Anklageschrift wegen „Pornografie und Gotteslästerung“ gegen alle vier Mitglieder der Gruppe „Spur“. Trotz wissenschaftlicher Gutachten von Kunsthistorikern wie z.B. Werner Haftmann, die übereinstimmend die Auffassung vertraten, dass es bei den Texten und Zeichnungen um Kunst in der Tradition des Dadaismus und des Surrealismus gehe, und die Freiheit der Kunst grundgesetzlich geschützt sei, wurden wir in der ersten Instanz zu fünf Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt und die beschlagnahmten Zeitschriften der Vernichtung anheimgegeben. Heimrad Prem, Freitod 1978, und Helmut Sturm, heute Professor an der Akademie der Künste in München, sahen sich schon für Jahre hinter Gefängnismauern verschwinden. Ängstlich geworden wollten sie nicht mal gegen dieses Inquisitions-Urteil in einem laizistischen Staat Berufung einlegen. Hans-Peter Zimmer (gestorben 1992) und ich wollten zum Leidwesen unseres juristisch ausgefuchsten und in den Künsten bewanderten Verteidigers Sieghart Ott in der Berufungsverhandlung dem Münchner Justizspektakel die Krone aufsetzen-. „Jawohl, Euer Ehren Landgerichtsrat, ich bekenne mich zum Verfassen pornografischer Texte und mit Begeisterung lästere ich Gott. Was soll daran strafbar sein?“ Da bleibt kein Spielraum mehr für einen Rechtsanwalt zur Verteidigung seines Mandanten, und konsequent legte er das Mandat nieder. Wir wurden erneut verurteilt, doch diesmal mit Bewährung, das Bayerische Oberste Landesgericht bestätigte das Urteil, der Bundesgerichtshof verwies zurück ans Landgericht, dieses sprach Geldstrafen aus, das Oberste bestätigte, dann wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt, erfolgreich, ich weiß bis heute nicht, wie alles ausging. Anfang der siebziger Jahre soll der Prozess sein Ende gefunden haben.


Dieter Kunzelmann, Leisten Sie keinen Widerstand! Berlin 1998, 28.

Überraschung

Jahr: 1961
Bereich: Kunst/Kultur

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