Materialien 1961
„singend stand ich vor dem lokus ...“
Das Bayerische Oberste Landesgericht und die Kunst
In München taten sich einige Maler und Bildhauer zu einer „Künstlergruppe“ zusammen, aus der die Gruppe „Spur“ hervorging; da so ziemlich alle einigermaßen klangvollen Namen schon besetzt sind, bezeichneten sie sich als „Situationisten“. Ihre Grundauffassung formulieren sie, nicht übertrieben originell, folgendermaßen: „Man nehme Abstand von dem massiven Kollektivismus, der charakteristisch ist für den Katholizismus, Kommunismus und die großen Massenparteien von heute.“ Unter anderem fordern sie in ihren Publikationen allen Ernstes die „so lang ersehnte Freigabe der Frauenkirche und aller anderen Kirchen, um sie ihrer eigentlichen Bestimmung, dem Feiern orgiastischer Feste und ekstatischer Spiele, die auf der aktiven Teilnahme aller beruhen, zu übergeben“.
Derlei Firlefanz könnte man als sanften Irrsinn noch übersehen; in einem weiteren Heft brachten sie aber, wie das Gericht feststellte, „Gedichte schamverletzenden und religionsbeschimpfenden Inhalts“; krauses und unappetitliches Zeug voller bä bä bä und Pornographie, das hier auch nur andeutungsweise abzudrucken schlechterdings unmöglich ist. Der harmloseste Passus lautet:
„singend stand ich vor dem lokus, mein dünnschiss dampfte und spritzte: halleluja, eigner Herd ist goldeswert, gloria in excelsis deo.“
In Schwabinger Lokalen versuchten die Situationisten ihre Offenbarungen übrigens zu verkaufen (Preis 1 bis 5 DM) – irgendwovon muss ja auch ein noch so begnadeter Situationist leben – und da das Bayerische Oberste Landesgericht die Beschlagnahme wieder aufgehoben hat, stehen der Menschheit diese Hefte demnächst wohl wieder zur Verfügung.
Das Bayerische Oberste Landesgericht hatte sich nämlich mit diesen Publikationen zu befassen, weil die „Künstler“ in den Vorinstanzen wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften und Gotteslästerung nebst Religionsbeschimpfung verurteilt worden waren. Diese Verurteilungen haben die Hohen Herren am Münchener Lenbachplatz (Oberstlandesgerichtsräte Dr. Karch, Dr. Eggel, Dr. Neumaier) aufgehoben, und die Begründung dieser absonderlichen Entscheidung1 verdient einige Beachtung. Es geht nämlich wieder einmal um das problematische Argumentationsdreieck Kunst – Freiheit – Strafgesetz.
Im einzelnen: In der Vorinstanz hatten die Herren Angeklagten beantragt, vier Sachverständige darüber zu vernehmen, dass es sich bei den anklagegegenständlichen Äußerungen „um Kunstwerke handle und dass diese Kunstwerke auf das Empfinden eines künstlerisch aufgeschlossenen oder zumindest um Verständnis bemühten Menschen keinen obszönen, gotteslästerlichen oder religionsbeschimpfenden Eindruck machten“. Mit diesem Beweisantrag waren die „Künstler“ nicht schlecht beraten. Unsere Rechtsprechung hat nämlich im Hinblick auf Artikel 5 Grundgesetz („Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“) klargestellt, dass bei der strafrechtlichen Beurteilung von Kunstwerken „das Wesen der zeitgenössischen Kunst mit berücksichtigt werden muss“; maßgebend ist, wie der Bundesgerichtshof in seiner Grundsatzentscheidung vom 23. Juni 1961 (5 StR 573/60) sagt, der „Eindruck, den ein künstlerisch aufgeschlossener oder zumindest um Verständnis bemühter, wenn auch literarisch nicht besonders vorgebildeter Mensch von dem Kunstwerk gewinnt“.
Diese tolerante und um die Durchsetzung der Freiheit der Kunst nachhaltig bemühte Gerichtspraxis entspricht sehr wohl unserem freiheitlichen Rechtsstaat und ist auch vom Wesen des Menschen und der Kunst her gerechtfertigt. Nachzulesen etwa im (von Karl Rahner mit herausgegebenen) „Lexikon für Theologie und Kirche“ (VI, Sp. 686 f.), wo zur modernen Kunst recht präzise gesagt ist:
„Im Verlauf des Profanierungsprozesses kann ein Wertkonflikt zwischen Kunst und Sittlichkeit entstehen. Auch echte Kunst kann lasziv sein. In der modernen Malerei und Graphik (und der Verfasser möchte anfügen: auch im Film) wird die Problematik verschärft durch die Tatsache, dass zuweilen aus der Verneinung der sittlichen Wertordnung die geistige Freiheit für die Entstehung neuer Kunstwerke erwachsen ist … Es besteht die Gefahr, dass die Bewunderung für das Kunstwerk den Blick für die höhere Ordnung der sittlichen Werte trübt.
Doch sollte man bei der Verurteilung von Bildwerken, die der Würde des Menschen abträglich zu sein scheinen, sorgsam prüfen, ob nicht innere Wahrhaftigkeit den Künstler zu solchen Äußerungen zwang.“
Das Landgericht hatte den wohlgezielten Sachverständigen-Beweisantrag abgelehnt. Es besitze selbst die erforderliche Sachkunde, um beurteilen zu können, welche Empfindungen bei einem „künstlerisch aufgeschlossenen oder zumindest um Verständnis bemühten Menschen“ durch jene Texte (nebst Bildern) ausgelöst würden. Die Herren des Landgerichts haben sich begreiflicherweise selbst für aufgeschlossene oder um Verständnis zumindest bemühte Zeitgenossen gehalten und daher die Angeklagten kraft eigener Sachkunde verurteilt. Jene Beiträge seien – das ist der Kern ihres Spruches – angesichts ihres „niedrigen und primitiven Niveaus“ überhaupt keine Kunstwerke und daher auch nicht durch Artikel 5 des Grundgesetzes privilegiert.
Eine andere Beurteilung dieser krausen Wort- und Buchstabenanhäufungen ist weder für einen „künstlerisch aufgeschlossenen oder zumindest um Verständnis bemühten, wenn auch literarisch nicht besonders vorgebildeten“ noch überhaupt für einen normalen Menschen möglich. Notfalls könnte ein solch armer, literarisch nicht besonders vorgebildeter Mensch seinen Schiller zur Hand nehmen, um sein eigenes Empfinden bestätigt zu bekommen: „Die Kunst muss den Geist ergötzen und der Freiheit gefallen.“ „Es ist niemals der Stoff, sondern bloß die Behandlungsweise, was den Künstler und Dichter macht.“ „In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles tun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen… gewirkt.“
Solche Zitate ließen sich beliebig vermehren. Eine juristische, nüchtern fassbare Definition von Kunst gibt es nicht, es darf aber immerhin an den gängigen Ausdruck erinnert werden „Das ist keine Kunst, das kann jeder“, um einigermaßen erkennen zu können, wann es sich ganz bestimmt um kein Kunstwerk mehr handelt. Mindestens von daher wird auch der literarisch nicht besonders gebildete aber immerhin bemühte Zeitgenosse erkennen können, dass das Geschreibsel der Situationisten unter gar keinem Gesichtspunkt irgend etwas mit Kunst zu tun hat.
Ganz anders jedoch das Bayerische Oberste Landesgericht. Es ist der Meinung, die Richter der Vorinstanz hätten ihre „Sachkunde nicht dargetan“; die Sache müsse nochmals verhandelt werden, und dazu sei „eine Erklärung des Werkes durch Sachverständige rätlich“. Was das Revisionsurteil nun hier an eigener Erkenntnis der einschlägigen Zusammenhänge offenbart, ist ganz und gar nicht überzeugend und verrät sicher keine Sachkunde. Es gleicht ein wenig den vielen Leuten in „Des Kaisers neue Kleider“, die sich genieren, dem offenliegenden Sachverhalt unverwandt Ausdruck zu verleihen. Vielleicht fürchten die Revisionsrichter, rückständig gescholten zu werden, wenn sie in jenen Machwerken nichts von Kunst entdecken.
Jedenfalls liest der erstaunte Zeitgenosse in der Begründung des Revisionsurteils unter anderem folgendes: „Nach heutiger Auffassung hat die Kunst nicht nur die Aufgabe, dem ,Wahren, Guten und Schönen’ Ausdruck zu verleihen.“ Auch die Schilderung hässlicher und abstoßender Erscheinungen könne in künstlerisch beachtlicher Weise zum Aufbau eines Werkes verwendet werden, und „selbst wenn das ohne Beschönigung geschieht, können dadurch beim Betrachter oder Leser seelische Erschütterungen erzielt werden. Entscheidend für den Grad der Vollendung eines Kunstwerks sind vielmehr formale Merkmale, wie etwa die schöpferische Leistung, die Verwendung dem Inhalt gemäßer Ausdrucksmittel, die Unterordnung der Teile unter einen beherrschenden Leitgedanken, die Aussagekraft und ,Dichte’“. Gerade „drastische und schockierende Ausdrucksmittel“ würden vorzugsweise von bestimmten Richtungen der modernen Kunst eingesetzt, wenn es darum gehe, die Gegensätzlichkeiten im menschlichen Leben oder seelische Stimmungen und Zustände, „insbesondere solche zerrissener Menschen“, durch Sinnbilder anschaulich zu machen; häufig würden so in einer Art von Montage Bilder (auch verzerrte, erschreckende und abstoßende) nebeneinandergestellt, um durch die Kontraste beim Leser bestimmte Empfindungen hervorzurufen, vielleicht auch um ihn herauszufordern oder „zu verstören“. „Ein Stilmittel zeitgenössischer Lyrik ist es ferner, in den Text scheinbar planlos fremd klingende Worte einzustreuen zu dem Zweck, ihn dadurch von der Wirklichkeit abzurücken.“ Und so weiter.
So überraschend das klingt, falsch ist es nicht in jedem Fall. Das Böse, Schlechte, Schockierende muss Gegenstand der Kunst sein können, wenn der Künstler die ganze Wirklichkeit verwandelnd beschwören soll. Wo er es innerlich überwindet, gestaltet er das Böse nicht isoliert in seinem betörenden, abstoßenden, perversen Reiz, sondern bewältigt es, indem er es in die ethische Gesamtwirklichkeit einordnet. So erleichtert er auch dem ernsthaften Beschauer die sittliche Bewältigung des Bösen.
Aber von einer solchen Bewältigung ist eben bei der Gruppe „Spur“ keine Spur zu finden. Das hat das Landgericht festgestellt. Diese Feststellung nicht gelten lassen zu wollen, ist der eigentliche Fehler des oberstlandesgerichtlichen Erkenntnisses. Nicht jede Pornographie, jede Gotteslästerung, jede andere in Wort oder Bild gefasste Rechtswidrigkeit kann sich mit dem bloßen Hinweis, es handle sich um Kunst, sondern allenfalls mit dem Ausweis echter Kunst der gerichtlichen Verantwortung entziehen, und nur in Grenzfällen, wo dem Richter keine eigene Sachkunde zuerkannt werden kann, bedarf es eines Sachverständigen, nicht schon dann, wenn irgendwo das Wort „Kunst“ fällt. Gerade auf diesem Gebiet findet natürlich jeder Angeklagte einen Kollegen, der sich als sachverständig bezeichnet und jedes beliebige bla bla bla in der gewünschten Richtung begutachtet. Dieweilen dürfte jedoch auch ohne Sachverständigen-Gutachten feststehen, dass nicht jeder, der einen Geigenkasten unter dem Arm spazierenträgt, ein Paganini ist.
Die Verfassungskommentatoren haben sich bezüglich der wohl unbeantwortbaren Frage, was Kunst sei, zu der Formulierung (die in einem neueren Urteil zum Beispiel das Oberlandesgericht Hamburg, 2 Ss 90/63,2 übernimmt) durchgehantelt: „Der Begriff der ,Kunst’ ist weit zu fassen, und es wird jedes zur Meisterschaft entwickelte Können dazu gerechnet.“ „Jedes zur Meisterschaft entwickelte Können“ gleich Kunst? Man mag darüber streiten. Meinetwegen und vielleicht. Aber das Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts fällt jedenfalls nicht darunter.
Passauer Neue Presse, 18. April 1964
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1 Bayerisches Oberstes Landesgericht, Urteil vom 22. Januar 1964 (1 St 195 a, b/63) = NJW 1964, 1149.
2 Urteil vom 26. November 1963 = NJW 1964, 561.
Otto Gritschneder, Randbemerkungen, München 19843, 271 ff.