Materialien 1962

Kurz vor Mitternacht ...

war die Leopoldstraße erneut von Tausenden von Menschen blockiert. Ein erster Polizeieinsatz blieb ohne Wirkung. Als ich auf dem Schauplatz eintraf, bot sich mir ein verwirrendes Bild. Die Leopoldstraße war schon in Höhe des Siegestores für den Verkehr gesperrt; in Höhe der Martius-
straße standen zahlreiche Polizeibeamte in einer dichten Kette. Hinter ihnen waren rund dreißig Polizeifahrzeuge aufgefahren, deren Blaulichter einen gespenstischen Schein verbreiteten. In einem gewissen Abstand vor der Polizeikette wogten dichte Menschenmassen bis in die Seiten-
straßen. Irgendein Motiv für das Verhalten der Massen war nicht erkennbar. Einige schienen empört über das Vorgehen der Polizei; andere warteten begierig auf eine weitere Zuspitzung der Situation. Die meisten aber standen und gingen offenbar nur als Zuschauer und Passanten herum. Die ständigen Aufforderungen über den Polizeilautsprecher, die Straße frei zu machen, blieben unbeachtet.

Polizeipräsident Anton Heigl, der jedenfalls nominell den Einsatz leitete, war kein Freund differen-
zierter Betrachtungen und Abwägungen. Er wollte deshalb die Polizei unverzüglich und mit allem Nachdruck vorgehen und auch vom Gummiknüppel Gebrauch machen lassen. Widerstand sollte gebrochen, wer sich nicht rasch genug entfernte, festgenommen werden. Nach dem Wortlaut des Gesetzes war Heigl sicherlich im Recht. Mir war das Ganze jedoch nicht geheuer. Ich wollte einfach nicht glauben, dass es in München in einer politisch eher ruhigen und entspannten Phase notwen-
dig und richtig sei, gegen Tausende von Bürgern mit körperlicher Gewalt einzuschreiten. Auch schien mir der Anlass für ein solches Vorgehen trotz allem zu geringfügig, da ja eigentlich bisher nur die Nachtruhe und der Verkehr gestört worden waren.

So bat ich Heigl, mit dem Einsatz noch zuzuwarten und mir zunächst Gelegenheit zu einem Ge-
spräch mit der Menge zu geben. Am Anfang schien meine Aktion Erfolg zu haben. Begleitet von Dr. Manfred Schreiber – damals noch Chef der Kriminalpolizei – gelang es mir, einige hundert Passan-
ten von der Leopoldstraße in die Franz-Joseph-Straße zu ziehen. Nach einer längeren Diskussion konnte ich diese Gruppe davon überzeugen, dass die Straßenblockade und eine weitere Auseinan-
dersetzung mit der Polizei sinnlos seien. Auch meine Bitte, an das Ansehen Münchens zu denken, machte einen gewissen Eindruck. Die Gruppe zerstreute sich. Dadurch ermutigt, versuchte ich eine zweite Gruppe von der Leopoldstraße in die Martiusstraße zu locken. Diesmal kam ich jedoch über den ersten Anlauf nicht hinaus. Man drängte mich in einen Hausgang, warf Stinkbomben, schrie mich schon bei den ersten Sätzen nieder und verlangte ultimativ die Freilassung aller Verhafteten. Als ich darauf verwies, dies sei Sache der Staatsanwaltschaft und der Gerichte, setzte ohrenbetäu-
bender Lärm ein, und ich hatte alle Mühe, zusammen mit Dr. Schreiber einen geordneten Rückzug anzutreten.

Dieser Vorgang hat mich damals sehr betroffen. Ich war im Grunde von der Bevölkerung verwöhnt und, wo immer ich erschien, freundlich aufgenommen worden. Mein Vertrauen auf meine Popula-
rität war deshalb stark und fast ein wenig naiv. Hier hatte es einen Stoß, beinahe einen Bruch, er-
litten, von dem es sich nur langsam wieder erholte.

… Ja, vielleicht wird man später einmal sagen, in Schwabing habe zum erstenmal die humane Stadt gegen die ökonomische Stadt rebelliert.


Hans-Jochen Vogel, Die Amtskette. Meine 12 Münchner Jahre. Ein Erlebnisbericht, München 1972, 44 ff.

Überraschung

Jahr: 1962
Bereich: Militanz

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