Flusslandschaft 1962

Militanz

Am 5. Juni soll ein Jazzkonzert um 22 Uhr beendet sein. Etwa zweitausend Studierende machen ihrem Unmut Luft und beginnen vor der Universität Fenster und Türen zu demolieren. Schließlich holt der Pförtner zwei Funkstreifenwagen. Die Beamten führen die Musiker ab, werden aber dabei eingekesselt und tätlich angegriffen. Bei den Fahrzeugen wurde inzwischen die Luft aus den Hinterreifen herausgelassen. Erst nachdem weitere Funkwagen und ein Zug der Stadtpolizeischule eingetroffen ist, kann der Vorplatz der Universität geräumt werden.

Am 21. Juni spielen gegen 22 Uhr fünf junge Männer, Sitka Wunderlich, Wolfram Kunkel, Mauko Erber, Hauke Olbrich und Rüdiger Herzfeld, am Wedekindbrunnen in Schwabing mit Banjos und Gitarren. Ein Anwohner beschwert sich bei der Polizei. Diese rückt an und die Situation eskaliert. Proteste werden laut. Zur Verstärkung treffen zwölf Funkstreifenwagen ein. Gegen 23 Uhr werden wahllos Anwesende verhaftet. Um Mitternacht singen und tanzen einhundertfünfzig Menschen auf dem Wedekindplatz. Der eintreffenden Polizei schallen Rufe „Vopo, Nazistaat, Polizeistaat“ entgegen. Noch kann die Polizei, nachdem Verstärkung herbeigerufen wurde, den Platz räumen. Etwa tausend Beamte der Münchener Stadtpolizei aber liefern sich in den folgenden fünf Nächten heftige Auseinandersetzungen mit mehreren tausend – die Polizei nennt die Zahl 30.000 – Jugendlichen und Studenten.1 Einhundertneunundneunzig Menschen werden festgenommen, unter ihnen auch Andreas Baader2, zweihundertsiebenunddreißig „Störer“ werden angezeigt, achtundsechzig zu Gefängnisstrafen oder Geldstrafen verurteilt.3 Gegen Polizeibeamte laufen einhundertvierzig Anzeigen. Rechtskräftig verurteilt wird nur ein Beamter der Vollzugspolizei.4

Die Ereignisse schlagen sich auch in Lyrik wieder. Ein junger Dichter wird in späteren Jahren auf andere Weise Berühmtheit erlangen.5

„… Jede revolutionäre Öffnung der Gesellschaftsordnung schließ sich wieder, aber sie hinterlässt eine Erinnerung, die sich mit der restaurativen Verfestigung nicht mehr abfinden kann: eine bleibende Narbe im Bewusstsein, die nie wieder spurlos verheilt …“6

Über Jahre hinaus beschäftigte sich die bayerische Justiz mit den Protestereignissen – begleitet von einer Bürgerrechtskampagne und reger Anteilnahme der Medien. Damals wie heute ist es schwierig, den spontanen Protestausbruch der „Schwabinger Krawalle“ in Ursachen und Bedeutung zu verstehen: Er passt weder in die früheren Halbstarken-Proteste noch in die später berühmt gewordenen 68er-Aktionen. Die „Schwabinger Krawalle“ zeigen, wie sehr sich Modernisierung und beharrende Strukturen gegenüber stehen. Politische Führung und Polizei wollen Ruhe und Ordnung, die jüngere Generation ist der Reglementierungen überdrüssig.

Ergebnis der „Schwabinger Krawalle“: Die so genannte „Münchner Linie“, eine psychologisch begleitete Deeskalationsstrategie der Polizeibehörde. Später sagt Dipl.Psych. Georg Sieber, „methodischer Leiter“ des „Psychologischen Dienstes“ der Polizei: „Das bisherige Einsatzprinzip ist das einer militärischen Taktik. Zwischen Polizei und Gegner wird eine Front errichtet.“ Sieber nennt die „grundsätzlich neue Polizeistrategie ‚integrierter Einsatz’. Das heißt: der Beamte versucht, Teil einer Demonstration zu werden. Er ‚sickert ein’. Er begegnet dem einzelnen Demonstranten nicht frontal, sondern individuell. Mehr noch: die in der Masse verteilten Polizisten in Uniform beteiligen sich aktiv an der Demonstration. Sie diskutieren mit, machen Zwischenrufe … Im demokratischen Staat hat die Polizei grundsätzlich die Pflicht, Demonstranten zu schützen.“ Sieber meint, „man müsse erkennen und anerkennen, dass die gegenwärtige Opposition auf der Straße nicht die Autorität schlechthin, sondern nur die autoritären Herrschaftsformen beseitigen wolle.“7

Die Münchner Polizei ist städtisch. Viele Polizisten sind Mitglieder der SPD. Nachdem der Generationenkonflikt die SPD Zerreißproben unterwirft, sind auch viele Polizisten verunsichert. Es kommt zu Befehlsverweigerungen, es kann sogar passieren, dass Polizisten ptrotestieren.

Polizeipräsident Manfred Schreiber: „… Nach dem Krieg ist dabei eben zum ersten Mal ausgemessen worden, wie weit die öffentliche Hand, wie weit der Gesetzgeber gehen kann und wie weit die Freiheit der Bürger reicht. Konkret ging es dabei z.B. um die Blockade der Leopoldstraße und die anschließende Räumung mit unmittelbarem Zwang. Entstanden war diese Blockade eigentlich aus einem Gaudi-Anlass heraus. Damals ist das alles regelrecht ausgelotet worden und dabei haben wir nicht immer gut ausgesehen. Denn die Polizei hatte ja keine Taktik, geschweige denn dass sie das Innenleben dieser Bürger gekannt hätte. Wir hatten damals als einzige taktische Vorgabe die Polizeitaktik der Bayerischen Landespolizei aus dem Jahr 1923. Sie hat geheißen: Aufsitzen, ausrücken, absitzen, räumen, aufsitzen, einrücken, Essen fassen! Das war die damalige Polizeitaktik. Das hat den modernen Bedingungen selbstverständlich nicht mehr entsprochen. Aus diesem Grund haben wir uns dann relativ schnell umgestellt … Der Psychologe, von dem wir glaubten, dass er uns diese Einsichten vermitteln könnte – das hat sich übrigens ja auch bewährt –, hat uns eigentlich erst gezeigt, wie man das Innenleben der Einzelnen spiegeln muss: Das betraf auch die Polizisten selbst und das war nicht immer leicht. Denn der Polizist ist ja geschult darin, Recht und Gesetz anzuwenden und sich nicht so sehr um die Motivation der betreffenden Leute zu kümmern. Die Hauptsache ist, dass er nach Recht und Gesetz handelt. Der Bürger wiederum hat ebenfalls nicht danach gefragt, wie das in das Ordnungsverlangen hineinpasst. Ich habe schon gesagt, dass hier mit den subjektiven Freiheitsvorstellungen experimentiert wurde. Da musste man ganz einfach einen Weg zueinander finden … Ich weiß es noch wie heute, wir haben das damals folgendermaßen definiert: Es gilt der Vorrang psychologischer Mittel vor der Anwendung von unmittelbarem Zwang. Das war der eigentliche Kern der ‚Münchner Linie’. Und so haben wir das dann auch umgesetzt …“8

Zehn Jahre später erinnert sich Manfred Schreiber in einem weiteren Interview. … Oechsner: „Das Ganze nannte sich dann auch tatsächlich ‚Münchner Linie’: Sie waren sozusagen der Erfinder dieser neuen Linie. Kann man in einem Kernsatz sagen, was die ‚Münchner Linie’ im Vergleich zur vorherigen Taktik ausgemacht hat?“ Schreiber: “Wir haben gesagt, dass es einen Vorrang der psychologischen Mittel vor der Anwendung von unmittelbarer Gewalt gibt, dies verbunden mit strenger Legalität und Zuführung jener, die strafbare Handlungen begangen haben, vor den zuständigen Richter.“ Oechsner: „Das hat sich z.T. sehr konkret ausgewirkt, denn Sie haben mir vorhin im Vorgespräch gesagt, dass da auch der sogenannte ‚Unterhak-Mayer’ eingeführt worden. Was war das?“ Schreiber: „Wir haben dann ja Psychologen eingestellt und die Psychologen haben uns in diese Richtung beraten. Der Unterhak-Mayer war der Polizist, der sich in Uniform und mit weißer Mütze in die erste Reihe der Demonstranten gestellt hat, sich bei denen untergehakt hat und dann mit ihnen durch die Stadt marschiert ist. Er hat dabei den Weg so gewählt, dass die neuralgischen Punkte vermieden worden sind — also die Kreuzungen und Straßen, die wir von der Demonstration verschont haben wollten. Die Demonstranten haben geglaubt, das sei ‚ihr Mann’ und er führe sie: So sind sie dann auch fleißig mitgegangen.“ Oechsner: „Das war also ein Versuch der Deeskalation?“ Schreiber: „Richtig.“ …9

Siehe auch „Bürgerrechte“.


1 Vgl. Gerhard Fürmetz (Hg.), Schwabinger Krawalle. Protest, Polizei und Öffentlichkeit zu Beginn der 60er Jahre, Essen 2006; Fotos: Stadtarchiv Standort ZB-Ereignisfotografie-Politik-Demonstrationen. Fotos: Stadtarchiv Standort Rudi Dix-Archiv. Mappe 2076 Schwabinger Krawalle. (hier: „23.6.1962“)

2 Die Familie Baader lebt zu dieser Zeit in Schwabing. Andreas meint: „Weißt Du, Mutter, in einem Staat, wo Polizei mit Gummiknüppeln gegen singende junge Leute vorgeht, da ist etwas nicht in Ordnung!“ Butz Peters, RAF. Terrorismus in Deutschland, München 1993, 38 f.

3 In einer Urteilsbegründung für sechs Monate Gefängnis mit Bewährung steht: „Der Bürger hat nicht das Recht, öffentlich seiner Empörung Ausdruck zu geben, wenn sich ein Polizeibeamter rechtswidrig verhält. Das bloße Pfui-rufen und der Gebrauch von Ausdrücken wie ‚Polizeistaat’ ist bereits rechtswidrig.“ Zit. in: Träume im Kopf, Sturm auf den Straßen, in: Der Spiegel 19 vom 9. Mai 1988, 144. — Die Zahlen bei Gerhard Fürmetz: „Das juristische Nachspiel der ‚Schwabinger Krawalle’ zog sich bis ins Jahr 1968 hin. Zwischenzeitlich festgenommen wurden fast 400 Personen. Gegen insgesamt 248 Protestakteure leitete die Münchner Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein, außerdem in 143 Fällen gegen Angehörige der Stadtpolizei, meist wegen des Vorwurfs der ‚Körperverletzung im Amt’. Während gegen die Protestteilnehmer/innen in der Regel scharf ermittelt wurde, insbesondere wenn der Verdacht der ‚Rädelsführerschaft’ vorlag, kam die Untersuchung von polizeilichen Übergriffen auf der Straße und in der Polizeihaftanstalt nur zögerlich in Gang. Noch Jahre später mussten sich Verwaltungsgerichte mit den ‚Schwabinger Krawallen’ beschäftigen. Letztlich war die Münchner Justiz aber nicht bereit, ihr autoritär geprägtes Rechtsverständnis zu überdenken. Entsprechend einseitig fiel die Urteilspraxis aus: Insgesamt erhielten 54 sogenannte Unruhestifter Geldstrafen und Bewährungsstrafen auferlegt. Dagegen wurde nur ein einziger, in Schwabing aktiv eingesetzter Polizeibeamter rechtskräftig zu einer geringfügigen Strafe verurteilt. Ergebnislos verlief auch die parallel geführte öffentliche Debatte über eine individuelle Kennzeichnungspflicht für Polizisten, obwohl etliche Ermittlungsverfahren nur deswegen eingestellt werden mussten, weil die beschuldigten Polizeibeamten nicht identifiziert werden konnten.“ Gerhard Fürmetz: „Fünf Protestnächte mit weit reichenden Folgen. Die ‚Schwabinger Krawalle’ vom Juni 1962“ in: Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 78.

4 Siehe „Im Juni …“ von Julius Schittenhelm, „Kurz vor Mitternacht …“ von Hans-Jochen Vogel und „Schwabinger Nächte ’62“ von Volkhard Brandes.

5 Siehe „Ein Mann trägt rechts am Kopf ein Ohr“ von Aaron Wassertrum.

6 Hans Magnus Enzensberger: „Eine Theorie des Tourismus“ In: Ders., Einzelheiten I. Bewusstseinsindustrie, Frankfurt am Main 1962, 189.

7 Süddeutsche Zeitung 65 vom 15. März 1968, 13; siehe „Schwabing und die Folgen – Versuch einer Bilanz“ von Gerhard Fürmetz; vgl. Michael Sturm: „‚Die Räumung ging flott und zügig vonstatten’ – Eine kleine Geschichte der Polizeibewaffnung“ in: Zara S. Pfeiffer (Hg.), Auf den Barrikaden. Proteste in München seit 1945. Im Auftrag des Kulturreferats der Landeshauptstadt München, München 2011, 101 ff.

8 Prof. Dr. Manfred Schreiber, Polizeipräsident München a.D., im Gespräch mit Josef Bielmeier – α-forum, Sendung vom 19. Juni 2001, 20.15 Uhr, www.br-online.de/alpha/forum/vor0106/20010619.shtml.

9 BR-ONLINE – Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks – Sendung vom 4. April 2011, 20.15 Uhr – Prof. Dr. Manfred Schreiber, ehemaliger Polizeipräsident von München im Gespräch mit Hans Oechsner, 133408-20110407162629.pdf.

Überraschung

Jahr: 1962
Bereich: Militanz

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