Materialien 1964

Theater gegen Tabus

Münchner Lesebühne will unbequeme Stücke vorstellen

In München wurde eine Lesebühne wider die Tabus ins Leben gerufen. Das neuartige literarische Unternehmen trägt den Namen „art.5“. Damit wird auf den Artikel 5 desGrundgesetzes angespielt, der die Meinungsfreiheit garantiert und jede Zensur untersagt. Heute abend wird sich die Lesebühne im Kunstverein mit einer Dokumentation zur Todesstrafe vorstellen. Diese Dokumentation wurde von Walter Ohm zusammengestellt. Sie enthält Szenen von Brendan Behan, Friedrich Dürrenmatt und Leonhard Frank, Zitate aus der öffentlichen Diskussion, Briefe, Hinrichtungsschilderungen und schockierende Dias.

Organisiert wurde diese Bühne von der Humanistischen Union. Als Darsteller haben sich – ohne Honoraranspruch – Lina Carstens, Alois Maria Giani, Robert Graf, Hanns-Ernst Jäger, Bum Krüger, Siegfried Lowitz, Peter Lühr, Hans Schweikart, Benno Sterzenbach und viele andere hervorragende Schauspieler zur Verfügung gestellt.

„Die Stücke werden ohne Rücksicht auf ihre ideologische Herkunft, nur auf Grund ihres Gehalts und ihres künstlerischen Werts ausgewählt“, betonte Rainer Haun, der Geschäftsführer der von Dr. Gerhard Szcesny gegründeten Humanistischen Union. Neben wenig bekannten Stücken katholischer Autoren – etwa Graham Greenes „Liebhaber“ und Gabriel Marcels Heideggerparodie „Die Wacht am Sein“ – wird man auch ein extremes Tendenzstück aus der Sowjetunion oder die „Frau Flinz“ des DDR-Autors Baierl bringen.

Auf dem Programm stehen außerdem: Jean Paul Sartre (mit dem in Deutschland nur zwei mal inszenierten „Nekrassow“, einer Satire auf den Kalten Krieg), James Baldwin (mit einem Stück über den Rassenkonflikt, „Blues for Mr. Charly“), Isaak Babel („Maria“), Wladimir Majakowski („Die Wanze“), Bert Brecht („Arturo Ui“), Steinbeck, Dürrenmatt, Frisch, Anna Seghers und andere. Aus Egland will man eine musikalische Revue zum Thema Todesstrafe erwerben: „Leg deinen Kopf hin und stirb“.

Auch Uraufführungen sind vorgesehen. Der Geschäftsführer des Münchner Infratests, Günther Mackenthun, ein Freund des 1947 verstorbenen Dichters Wolfgang Borchert, brachte ein Drama, das beide zusammen als 19-jährige zu Kriegsbeginn geschrieben und dem damaligen Intendanten des Berliner Staatstheaters, Gustaf Gründgens, angeboten hatten. Der Gründgens-Dramaturg Eckart von Naso schickte das Stück mit der Empfehlung zurück, es zu vernichten, sonst müsse er es der Gestapo melden.

Jenseits der Literatur sind szenische Dokumentationen geplant: zum Fall Eichmann, über den Neonazismus in Deutschland, zu den Themen „Tabus und Vorurteile“, „Krieg und Frieden“, „Das Hitlerbild“ und „Die andere Welt im Osten“. Gestützt auf Filmdokumente und Kommentare soll die Spruchpraxis der freiwilligen Filmselbstkontrolle dokumentiert werden. Man bemüht sich außerdem, Ostfilme aufführen zu können, die vom interministeriellen Ausschuss nicht freigegeben wurden.


Kölner Stadtanzeiger, zitiert in: Mitteilungen der Humanistische Union 18 vom November/Dezember 1964, 2 f.

Überraschung

Jahr: 1964
Bereich: Kunst/Kultur

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