Materialien 1964

Zwei Jahre nach den Schwabinger Krawallen ...

im Juni 1962 wurde unter dem Polizeipräsidenten Manfred Schreiber der „Psychologische Dienst“ ins Leben gerufen.1 Polizeipsychologen erhielten nun erstmals den Auftrag, in Führungs- und Einsatzfragen beratend mitzuwirken.2 Doch in dieser Anfangsphase in den 60er Jahren stießen sie innerhalb der Polizei nicht immer auf Gegenliebe; die Existenzberechtigung der Polizeipsychologie wurde angefochten; der Vorwurf wurde laut, die Psychologen hätten keine Ahnung von der Polizeipraxis: „Diese Psychologen müssten aber“ – so ein altgedienter Polizeiführer – „aus dem Polizeiführungsdienst kommen und hier erst einmal praktisch gearbeitet haben“3. Ein ebenso altgedienter Polizeipsychologe hielt den Skeptikern der Polizeipsychologie entgegen: „Die Polizei brauchte (zur Zeit der APO; M.W.) zu lange, bis sie adäquate Mittel fand“.4 „Hätten die Polizeien rechtzeitig … Sozialwissenschaftler integriert, stünden sie nicht – wie 1967 geschehen – vor manchen unlösbaren Aufgaben“.5

Der Zentrale Polizeipsychologische Dienst (wie der Psychologische Dienst heute heißt, kurz ZPD genannt) ist im Polizeipräsidium München integriert und steht als Stabsstelle landesweit allen Polizeibehörden zur Verfügung.6 Die Tätigkeitsfelder des ZPD sind weit gespannt: Sie reichen von polizeiinternen Aufgaben, wie der Personalauswahl, der Aus- und Fortbildung (zum Beispiel Anti-Streß-Verhalten- und Konfliktbewältigungstraining, Schulung von Verhandlungsgruppen), der ‘Öffentlichkeitsarbeit nach innen’, bis hin zu Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung und der einsatzbegleitenden Beratung und Unterstützung der Polizeiführung. Die Polizeipsychologen im ZPD beschäftigen sich im Rahmen der Einsatzplanung und -durchführung insbesondere mit dem Aufgabengebiet Öffentlichkeitsarbeit, beispielsweise um das polizeiliche Einsatzmittel Flugblatt sprachlich und gestalterisch auf die jeweilige Zielgruppe auszurichten.7

In den lokalen Polizeibehörden (wie zum Beispiel der Polizeidirektion Nürnberg) sind weder Psychologen angestellt, noch gibt es dort einen Psychologischen Dienst. Deshalb kann die Beratung des ZPD von der einsatzleitenden Dienststelle angefordert werden, was meist nur bei herausragenden Einsätzen passiert. Die Beratungstätigkeit des ZPD hängt also stark von der jeweiligen Konjunktur des Demonstrationsgeschehens ab. Zur Zeit der Friedensbewegung 1983, zur Zeit der Auseinandersetzungen um die WAA/Wackersdorf, im Kontext der Fußball-Europameisterschaft 1988 sei der ZPD – so dessen Leiter Hansjörg Trum8 – intensiv mit Beratungstätigkeit an den Einsatzorten beschäftigt gewesen …

Goeschel und Schmidbauer9 konstatieren – die Autoren beziehen sich dabei auf die (damalige) Münchner Polizei, der sie Vorbild- und Modellcharakter für die gesamte Polizei der Bundesrepublik zuschreiben – eine Verselbständigung des Polizeiapparates gegenüber der legislativen und judikativen Kontrolle. Doch ihre Begründung der Verselbständigungsthese bleibt merkwürdig schwach; der Einsatz von Polizeipsychologen, den die Münchner forciert als erste Polizeibehörde der Republik in den 60er Jahren betrieben hatte, ist ihnen Indikator genug10: Mit Hilfe der Polizeipsychologie trete die Polizei als eigenständiger kommunikativer Akteur im Konfliktsystem auf, die Polizei passe sich an gesellschaftliche Bedingungen (wie dem aufkommenden studentischen Protest) eigenständig an und löse sich stärker von rechtlichen Programmvorgaben der Legislative ab. Der rechtliche Rahmen bleibe zwar bestehen; die Ermessensspielräume würden aber autonom von der Polizei ausgenutzt. Die Polizei stehe nun aber vor dem Problem, die polizeirelevante ‘Realität’ selbst definieren und konstruieren zu müssen: Polizeipsychologie gebe hier Definitions- und Kommunikationshilfe und schaffe so Raum für eine „Autonomisierung“ des Polizeiapparates.11 Polizeipsychologie als Instrument der Modernisierung der Polizei stelle eine verwissenschaftlichte Herrschaftstechnik dar.12 Diese Modernisierungsfunktion sehen die Autoren als „Perfektionierung des politischen System des Spätkapitalismus“13 und keineswegs als dessen Infragestellung.

Andere Autoren im Kontext des AJK argumentieren hingegen, dass die Polizei die Funktion eines im wesentlichen passiven Instruments der Herrschaftssicherung übernehme. Für Lautmann sind Polizeibeamte „ein eher passives, ein benutztes Rädchen in der Maschinerie der Herrschaft. Sie arbeiten abhängig – zu Lasten der abhängig Arbeitenden“.14 Lautmann möchte die Instanzen, die Macht besitzen, von den Instanzen, die Macht nur ausüben, unterschieden wissen; zu den letzteren gehört die Polizei: „Die uns interessierenden Zwangsinstanzen – Polizei, Strafvollzug usw. – gehören zu den Dependancen politischer Herrschaft; verglichen mit den Zentren vermögen sie nur wenig, denn ihr Handeln ist programmiert und visibel“.15 Zwar sei die Polizei nach Lautmann nur ausführendes Machtmittel, das sich am Rande aktiver politischer Herrschaft befände, aber dennoch dürfe die gesellschaftspolitische Wirkung der Polizei als einer Institution öffentlicher Gewalt nicht vernachlässigt werden. Denn die Polizei könne Zwang und Gewalt ausüben, und dieser Zwang sei ein unentbehrliches Mittel politischer Herrschaft16 – neben dem Konsens: „Zwang und Konsens sind keine unverbundenen Alternativen der Machtsicherung. Alle Herrschenden suchen zunächst Konsens und wenden Zwang nur gegen Widerstrebende an“.17 Bei gesicherter politischer Herrschaft müsse die Sanktionierung durch Zwang nicht lückenlos sein; Normen bräuchten nur selektiv durchgesetzt werden; verfolgt und bestraft werde nach der Bedeutung, die das Delikt und der Täterkreis für die politische Stabilität hätten.18 Für die Ausübung von Zwang und Gewalt sei neben anderen Institutionen die Polizei verantwortlich. Physische Gewalt sei das hervorstechende (wenn auch meist nur latent wirksame) Arbeitsmittel der Polizei.19 Gewaltausübung werde in der Gesellschaft von der Polizei auch erwartet. Denn: „Brutalität der Polizei ist Teil ihrer sozialen Rolle“.20 Polizisten dürfen das tun, was mancher selbst gerne täte: Gewalt gegen Menschen anwenden.21 Mit dieser Tätigkeit als Zwangsinstanz würden die eigentlichen politischen Machtzentren verdeckt; die Polizei leiste als Instanz sozialer und politischer Kontrolle die ‘schmutzige Arbeit’ der Machthaber. Die Polizei sei „Handlanger und unmittelbarer Vollstrecker für die Machtzentren“.22

Lautmann stellt dann einen Konnex zwischen seiner These von der Polizei als Herrschaftsinstrument und der empirisch belegten sozialen Selektivität polizeilichen Handelns her: Objekt und damit ‘Opfer’ der selektiven polizeilichen Maßnahmen seien in der Regel Angehörige der Unterschichten, denn verfolgt und bestraft würden Delikte wie Körperverletzung, nicht aber das Betreiben von umweltvergiftender Industrieanlagen, verfolgt und bestraft werde Diebstahl, aber nicht das Kassieren einer achtzigprozentigen Handelsspanne.23 Garantiert werde diese Ordnung, die vorhandene Güterverteilung in der Gesellschaft, durch das Recht, welches der Staat mit Hilfe seiner monopolisierten physischen Gewalt durchsetze.24 Der Gesetzgeber stehe unter dem Druck von den Interessengruppen, die das stärkste Machtpotential in der Gesellschaft für sich verbuchen könnten – und dies seien meist die Träger ökonomischer Macht. Industrieverbände könnten zwar nicht beliebig bestimmen, aber sie könnten ihre wichtigen politischen und ökonomischen Interessen durchsetzen.25 Daher solle der Zustand, den Staat und Polizei zu sichern hätten, den reibungslosen Verlauf des Produktions- und Verteilungsprozesses garantieren.

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1 Allgemein beteiligten sich die Münchner Psychologen immer schon rege an der polizeilichen Diskussion. Das gilt für Umbach, dem ersten Leiter des Instituts wie dessen Kollegen Sieber (1968) und dessen Nachfolger Salewski (Wolfgang Salewski/Peter Lanz, Die neue Gewalt, Locarno 1978). Auch in den 80er Jahren zeichneten sich Münchner Polizeipsychologen durch ihre Publizierfreude aus: zum Beispiel Hansjörg Trum, Einsatzort Demo. Zum Verhalten von Polizeibeamten, Stuttgart 1987 und Hans Peter Schmalzl, Menschen in der Menge. Über das Verhalten von Demonstrationsteilnehmer. Stuttgart 1987; Hans Peter Schmalzl, „Einsatz bei demonstrativen Aktionen: Verhaltensdeterminanten von Demonstrationsteilnehmern und Ansätze zur Bewältigung von Ausschreitungen“ in: Frank Stein (Hg.), Brennpunkte der Polizeipsychologie, Stuttgart 1990, 65 – 74.

2 Vgl. Hansjörg Trum, „Polizeipsychologie im Rahmen eines institutionalisierten Psychologischen Dienstes“ in: Henning Haase/Walter Holt (Hg.), Handbuch der angewandten Psychologie. Band 3: Markt und Umwelt. Landsberg am Lech 1981, 701 – 715.

3 Quittnat in Deutsche Polizei 8/1968, 237.

4 Stiebitz in Deutsche Polizei 10/1974, 299.

5 A.a.O., 300.

6 Der derzeitige Leiter des ZPD ist der Psychologe Hansjörg Trum (Stand Juli 1995). Ihm unterstehen vier diplomierte Psychologen, sechs polizeidiensterfahrende Vollzugsbeamte des gehobenen Dienstes, die eine psychologische Zusatzausbildung genossen haben, ein Suchtberater (ebenfalls ein Vollzugsbeamter) und eine Sachbearbeiterin.

7 Auch die Polizeidirektion Nürnberg hat ihre Flugblattentwürfe nach München geschickt, um diese hinsichtlich psychologischer Aspekte überprüfen zu lassen. Die Münchner Polizeipsychologen unterstützten auch schon die Leipziger Polizeidirektion im Bereich ‘Öffentlichkeitsarbeit nach innen’, das heißt der Schulung, Vorbereitung und Betreuung von sogenannten Fremdkräften für einen großen Einsatz. – In der Zeitschrift Psychologie und Gesellschaftskritik werden unter dem Pseudonym Gaston (Gaston, „Psychologen der ‘Inneren Sicherheit’ oder ‘Hilf der Polizei – Schlag dich selbst zusammen!’“ in: Psychologie und Gesellschaftskritik 2 – 3/1987, 133 – 153) die Methoden der Polizeipsychologie, insbesondere der Münchner Polizei scharf kritisiert. Der Autor stellt die These auf, dass es sich bei den Methoden der deutschen Polizeipsychologie um einen „BRD-Ableger der Psycho-Strategien einer Counterinsurgency“ (151), das heißt der psychologischen Kriegsführung nach US-amerikanischen Vorbild, handelt. Ziel der Polizeipsychologie sei es, die Solidarisierungen mit Gewalttätern zu verhindern (139). Einige Exemplare der Polizeiflugblätter, der neuen „Waffengattung der Polizei“ (134), die von der Polizei bei Demonstrationen gegen die WAA/Wackersdorf verteilt wurden, sind in dem Artikel abgedruckt (142 ff.).

8 In einem Telefongespräch mit dem Verfasser am 26. Juli 1995.

9 Albrecht Goeschel/Gertraud Schmidbauer, „Polizeipsychologie als Instrument der ‘Modernisierung’ polizeilichen Handelns“ in: Johannes Feest/Rüdiger Lautmann, (Hg.), Die Polizei. Soziologische Studien und Forschungsberichte. Opladen 1971, 164 – 176.

10 Der Einsatz von Polizeipsychologen oder allgemeiner: der Einsatz von gewaltdeeskalierenden Mitteln macht noch keine eigenständige Polizei aus. Es ist zu fragen, wer für eine einsatzphilosophische Wende weg von der harten Gewaltanwendung hin zur sanften Manipulation (und damit zur Deeskalation) verantwortlich ist: die Polizei selbst, die Innenministerialbürokratie, die Gerichte? Möglicherweise ist die Institutionalisierung der Polizeipsychologie ein Schritt in Richtung Autonomisierung; aber polizeiliches Handeln hängt von wesentlich mehr Determinanten als nur von der Public relations-Kompetenz der Polizei ab, so wichtig diese auch für das polizeiliche Einsatzhandeln geworden ist.

11 Goeschel/Schmidbauer a.a.O., 168.

12 Goeschel/Schmidbauer, versuchen, die Funktion polizeilichen Handelns als Konstituierungsmoment für die antiautoritäre Studentenbewegung herauszuarbeiten. Die Polizei begreifen sie als einen Ansatzpunkt „(…) für die Konstituierung eines neuen Subjekts sozialen Wandels (damit sind die potentiell revoltierenden Studenten gemeint; M.W.)“ Goeschel/Schmidbauer a.a.O., 166. – In ihrem Vergleich der Münchner Linie mit der Berliner Linie kommen sie zu dem Schluss, dass die ‘Weiche Welle’ der Münchner Linie, die Übernahme von Public- und Human-Relations-Methoden ins polizeiliche Handlungsrepertoire, die Verbesserung der Image-Pflege, der Einsatz von Polizeipsychologen als Instrument moderner Herrschaftstechnik, eine Radikalisierung der Studentenschaft und damit eine Selbstkonstitutierung der Neuen Linken in München behindert habe (Goeschel/Schmidbauer a.a.O. 166, 173 f.) – im Gegensatz zur hartrepressiven Berliner Polizei, die mit ihren ‘Knüppelmethoden’ genug zur kollektiven Identitätsstiftung der Berliner APO beigetragen habe. Dies wird indirekt durch die Aussagen des Münchner Polizeipsychologen Sieber bestätigt. Sieber spricht sich gegen massenpsychologische Deutungsmuster von Demonstrationen aus; die Demonstranten sollten nicht mehr in Rädelsführer und (nicht zu kontrollierender) Masse, sondern in „Täter, Förderer und Anwesende“ (in Albrecht Goeschel/Anselm Heyer/Gertraud Schmidbauer, Beiträge zu einer Soziologie der Polizei, Frankfurt/Main 1971, 171) differenziert werden. Die Polizei habe deshalb nicht gegen die versammelte Demonstrantenschar einzuschreiten, sondern lediglich gegen die Minderheit der Störer. Die Legitimitätskosten eines Gewalteinsatzes gegen einzelne Störer fielen damit wesentlich geringer aus als die Akzeptanzeinbußen derartiger Maßnahmen gegen ganze Menschenmengen.

13 Goeschel/Schmidbauer a.a.O., 175.

14 Rüdiger Lautmann, „Polizei heute: Sicherheit und Recht und Ordnung“ in: Autorenkollektiv, Aufstand der Ordnungshüter oder Was wird aus der Polizei? Reinbeck bei Hamburg 1972, 49.

15 A.a.O., 14.

16 A.a.O.

17 Rüdiger Lautmann, „Politische Herrschaft und polizeilicher Zwang“ in: Johannes Feest/Rüdiger Lautmann (Hg.), 1971: Die Polizei. Soziologische Studien und Forschungsberichte. Opladen 1971, 15. – Vgl. Heinz-Jürgen Schneider, „Staatliche Sicherheitspolitik als Systemschutz. ‘Innere Sicherheit’ in der Geschichte der Bundesrepublik“ in: Martin Kutscha/Norman Paech (Hg.), Totalerfassung. ‘Sicherheitsgesetze’, Volkszählung, neuer Personalausweis, Möglichkeiten zur Gegenwehr. Köln 1986, 81 – 101.

18 Vgl. Heinrich Popitz, Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen 1968. In diesem Aufsatz über die ‘Präventivwirkung des Nichtwissens’ zeigt Popitz, dass es erstens praktisch unmöglich ist, alle Straftaten zu verfolgen, und zweitens es auch gar keinen funktionalen Sinn macht, denn ein Normensystem würde diese lückenlose Information über deviantes Verhalten nicht aushalten können, die Geltung der Normen würde ruiniert werden, kein Sanktionssystem würde den Belastungen des Strafens gewachsen sein, und schließlich würde die Strafe ihr moralisches Gewicht verlieren.

19 Vgl. Lautmann a.a.O., 22.

20 A.a.O., 26.

21 Vgl. a.a.O., 27.

22 A.a.O., 18.

23 Vgl. a.a.O. 19.

24 Vgl. Lautmann, „Polizei heute …“, a.a.O., 48.

25 Vgl. a.a.O., 49.


Martin Winter, Politikum Polizei. Macht und Funktion der Polizei in der Bundesrepublik Deutschland, Reihe „Politische Soziologie“, Band 10, Münster 1998, Seite 120 ff.

Überraschung

Jahr: 1964
Bereich: Militanz

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