Materialien 1965

Geschwister Scholl im Jahre '65

Da standen sie nun im Lichthof der Maximilians-Universität, zweihundert, wenn es hochkam dreihundert Studienkollegen eines versickernden Wintersemesters. Lehnten geduldig an den kaltweißen Marmorsockel erhabener Denkmale unbekannter Professoren. Oder saßen auf den Treppen, die auf das tennisplatzgroße Areal inmitten der Universität führen und harrten der Feier. Es war kalt, draußen lag Schnee, und trotz des Großeinsatzes von 10 Putzfrauen war der Boden schon wieder schmutzig, übersät von kleinen Wasserlachen geschmolzenen Schnees.

Die Gelegenheit zur Entfaltung und Schaffung ehrwürdiger Tradition war günstig. Doch wer auf die Pracht der Vielfaltigkeit weißer Krausen auf dunklen Talaren gewartet hatte, sah sich getäuscht. Es kamen nur wenige Professoren zur Gedenkfeier für die Geschwister Scholl. Was sich da auf den sechs Reihen bescheidener Restaurantstühle versammelte, war eine spärliche Gemeinde, Mitglie-
der des Geschwister-Scholl-Kreises, AStA-Vertreter, Magnifizenz Weber und Frau.

Vor den Stühlen ein Mikrofon, das über ein kleines Podest mitten in das Gesicht der Redner ragen sollte, die sich durch den kleinen Wald jener undefinierbaren Topfpflanzen, die in ihrem mageren Grün von einer Feier zur anderen weitergereicht werden, drängen würden. Links neben dem grü-
nen Zeug, eingelassen in die Mauer des Lichthofes, eine handtuchschmale kleine Gedenkplatte für die „Weiße Rose“, fröhliche gelbe Blumen in einer Blechdose davor. Die passten nicht in das be-
drückende Bild der Dinge, die da kommen sollten.

Rechts neben dem bekränzten Rostrum rüstete sich ein kleines Häuflein akademischer Sänger zu einem Programm altbewährter Motetten und Madrigale. Es ist nicht leicht, aus dem Schema deut-
scher Feiern auszubrechen.

Gleich neben den schwarz-weiß gekleideten Sängern, die gewiss froren, standen eine Reihe von Tafeln, hellbraun, aus Sperrholz. An ihnen hingen die Bilder der Geschwister Scholl – wer bemerk-
te wohl die atemberaubende Schönheit des Mädchens? Dann hingen da Flugblätter der „Weißen Rose“, Auszüge aus dem Urteil Freislers über die Widerständler, auch ein Dokument, hinter dessen zeitlosem akademischen Ton der feste Wille der Universität sichtbar wurde: „Hiermit wird Profes-
sor Huber der Doktorgrad entzogen …“, unterschrieben von den damaligen Repräsentanten unse-
rer Alma Mater. Vor Beginn der Feier hatten sich vor diesen Dokumenten die wenigen Studenten, die überhaupt gekommen waren, gedrängt. Hier ergab sich die Möglichkeit, politische Inspiratio-
nen der Kommilitonen angesichts dieser mörderischen Erinnerungsstücke an die Oberfläche zu locken: „Auch heute würde es solche Leute wie die Geschwister Scholl geben“, aber „unsere Lage ist jetzt ganz anders“, „im Augenblick haben die Verbände die Macht und sie sind die Gefahr für die Demokratie“.

Unsere Fragen treffen bei einigen wie langverspätete Züge ein, auf die man sich voller Freude schwingt, endlich einmal gefragt, was man politisch denkt; in zweiminüter Flucht aus dem „maus-
grauen Studentenleben“ darf man Meinungen von sich geben, und sei es auch auf Kosten der Ge-
schwister Scholl, (und auch auf Kosten der Frage: „… und das mit dem Notstandsgesetz – besser heute als morgen“).

Gefragt war: „Würden Sie im Notfall die Scholls nachahmen?“

Antwort: „Ich nicht, die meisten anderen auch nicht. Wir sind politisch nicht auf der Höhe. Anders beschäftigt. Die meisten interessiert nur ihr persönlicher Fortschritt.“ Nun, das stimmt ja auch wieder.

Aber: Ein Franziskaner plädiert für politisches Engagement der Studenten, würde auch so wie die Geschwister Scholl handeln. Dann folgt die Prophezeiung eines Bärtigen in olivgrüner US-Army Parka: „Niemand würde das, was die Scholls getan haben, wiederholen. Übrigens lässt sich eine neue Diktatur sowieso nicht verhindern.“ Ein Letzter:

„Die Geschwister Scholl waren ein Zeichen der Zeit, Idealisten gibt es ja immer. Sie hätten leugnen sollen, nach ihrer Verhaftung.“ – Ein Tip in die Vergangenheit, kurz ehe die Choristen ihre Stim-
men ertönen ließen.

Dann werden von Mitgliedern der Studiobühne Flugblätter der Weißen Rose. zitiert, doch da keine Lautsprecher installiert sind, versteht niemand die beiden Sprecher, und von weitem wirken sie wie zwei Fische, die lispeln.

Der AStA-Vorsitzende lässt sich entschuldigen, er ist in den Alpen eingeschneit. Der Rektor der Universität spricht, sieben Minuten. Auch er ist schlecht zu verstehen.

So   neigt sich die Feier ihrem Ende zu, in Gedenken an Menschen, die für ihre Sache gestorben waren. Dass diese Sache die Freiheit war – wer hatte das in diesen Augenblicken wohl bemerkt? Der Dirigent des Chores hebt seinen Stab, wieder erklingen mittelalterliche, gewiss sehr schöne Gesänge. In diesem Augenblick gibt es auf der obersten, den Lichthof umrahmenden Galerie eine plötzliche Bewegung.

Weiße, schwere Ballen werden in die Tiefe des Gebäudes hinausgeworfen, entfalten sich zu Tau-
senden von Flugblättern in einem eigentümlichen Geräusch, fallen hernieder auf die Versamm-
lung, „mit verneinender Gebärde“ segeln sie die drei Stockwerke hinab, man ist bestürzt. Dann liegen sie auf dem Boden des Hofes, im dritten Stock ist niemand mehr zu sehen, und während der Chor seinen Gesang beendet (gleichsam wie die Kapelle auf der sinkenden „Titanic“), starren die Studenten und Gäste auf die Blätter am Boden. Niemand wagt sie aufzuheben: Bis einer schließlich den Anfang macht, und in die letzten weihevollen Harmonien des Chores breitet sich plötzlich die hastige Bewegung der Versammlung zu den Flugblättern aus: „IN DIESER FEIER WURDE DAS WESENTLICHE NICHT GESAGT“, steht darauf, es führt Namen von Münchner Professoren mit angeblich brauner Vergangenheit an, unter ihnen der Jurist Maunz, angebliche NSDAP-Mitglieder Berber und Maurach, auch Juristen, Das Flugblatt endet mit den Worten: „Musikalisch verbrämte Feiern und schöne Reden können darüber nicht hinwegtäuschen, ‚dass der Faschismus nachlebt, dass die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute nicht gelang, (was daher rührt), dass die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten’ (Theodor W. Adorno).“

Wir fragen Prominenz und Studenten nach ihrer Meinung zu dem Flugblatt.

Magnifizenz Prof. Weber: „Eine unglaubliche Störung der Feier.“ Studenten: „Es ist nicht richtig, in dieser Form eine Feier zu stören, auch wenn die Anlässe da sind.“ „Kommunisten, Frechheit.“ „Ge-
fundenes Fressen für die Zone, für deren Propaganda.“ Oder: „Interessant."

Einer hat eine etwas artikuliertere Auffassung:

„Die Vorwürfe sind vielleicht berechtigt, aber der Formfehler ist geschmacklos, – obwohl die psy-
chologische Wirkung nicht zu unterschätzen ist. Die angeklagten Professoren sollten bleiben, sie sind schließlich anerkannte theoretische Größen.“ Kurze Pause, dann: „Wenn sie auch in der Nazi-Zeit die falsche Position eingenommen hatten.“

Eine Studentin wird massiv und hat auch das eingefahrene Vokabular zur Hand: „Diese Aktion ist eine Nestbeschmutzung. Immer dieses ,Mea Culpa’. Wir sollten keinen Schuldkomplex haben."

Andere Stimmungsbilder zu der unerwarteten Wendung der Geschwister-Scholl-Feier:

„Allerhand." „Wenn das mit den Professoren stimmt, dann war es richtig.“ „Schweinerei.“ „Ausge-
zeichnet.“ Und, „keine Meinung.“ Allerdings kam dieser Meinungslose wenige Minuten später zu den Inquisitoren mit dem Hinweis, daßss er schon eine Meinung hätte, sie aber, in Gegenwart zweier Studienfreunde nicht äußern wollte, er fände das Flugblatt jedenfalls vernünftig.

Andere fühlten sich auf äußerst „schamlose Art und Weise in ihren Gefühlen verletzt“. Nur ein Mit-
glied des Geschwister-Scholl-Kreises fand es ermutigend, „dass überhaupt noch politische Meinun-
gen geäußert werden“. Diese Äußerungen finden aber keinen großen Widerhall, es sei denn folgen-
den, wie er sich in dem Kurzkommentar eines Juristen zu dem absonderlichen Ende der Geschwi-
ster-Scholl-Feier ausdrückt: „Unverschämtheit“.

Almut Hielscher/Michael Naumann


Info 4, Jg. 9 vom 15. Juni 1965, 8.

Überraschung

Jahr: 1965
Bereich: Gedenken

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