Flusslandschaft 1965
Lebensart
„‚Angesichts der aktuellen und potentiellen Schäden, die gegenwärtig der Menschheit von ihren Verwaltern angetan werden, hat das Sexuelle Schutzbedürfnis etwas Irres, aber die Zahl derer ist geringer, die es wagen, das offen zu sagen, als selbst derjenigen, welche gegen so hochansehnliche gesellschaftliche Einrichtungen wie den bakteriologischen und den Atomkrieg protestieren.’ (Adorno, Sexualtabus heute in ‚Sexualität und Kriminalität’, S. 310). Der englische Soziologe Alex Comfort wagt es, der Szczesny-Verlag leistet sich die Veröffentlichung. Noch vor 60 Jahren ver-
letzten die nackten Knie eines Tiroler Zitherspielers das Schamgefühl seiner süddeutschen Zu-
schauer. Syphilis zählt noch heute als Strafsanktion für verbotene sexuelle Lust. Empfängnisver-
hütung, Homosexualität, vorehelicher Verkehr, Masturbation, Sexualität an sich unterliegen auf breiter Ebene konfessionell-staatlich kooperativer Repression: das Tabu erfährt in der pluralisti-
schen westdeutschen Gesellschaft alle Variationen. Der ‚Anti-Baby-Pille’ folgen Flüsterkampagnen mit dem Ziel, ‚die Öffentlichkeit durch Wahl der Anspielungen auf Krebs und missgestaltete Kinder vom Gebrauch dieser Mittel abzuhalten. Niemand kann so gewissenlos sein wie die Frommen’ (S. 216), die Geschlechtsverkehr als immer noch einzige ratio des ‚Gott-einen-kleinen-Christen-Schenken’ sehen. Bliebe es nur bei einigen Dorfpriestern, die ihre ‚freiwillige’ Lustenthaltsamkeit auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt sehen wollten, lohnte sich kein Kampf gegen sie und ihre anachronistischen Ideen. So verbergen sich aber hinter Kampagnen gegen wissenschaftliche Auf-
klärung, gegen Befreiung der Sexualität, für Aufrechterhaltung religiös-nazistischer Sexualideolo-
gien die Interessen einer Herrschaftsorganisation, für deren Träger Triebuntendrückung nicht nur biologische, sondern soziale Notwendigkeit ist. In der Betonung dieses gesellschaftlich relevanten Aspekts liegt der besondere Wert dieser Arbeit. Adornos These, dass ‚sexuelle Freiheit in einer un-
freien Gesellschaft sowenig wie irgendeine andere zu denken’ (Adorno S. 301 ) ist, erfährt Illustra-
tion. Comfort entlarvt, wie jede Form sexuellen Verhaltens als unmoralisch verpönt wird, die von der durch die religiös-kulturelle Konvention gesetzten Norm abweicht. ‚Falls das nicht ausreichte, die Sexualität in Schach zu holten, wurde sie als verderblich und ungesund deklariert.’ (16) Ein Buch, das den Strafgesetzgebern, so sie überhaupt rezeptionsbereit sind, zeigen würde, dass Se-
xualmoral und -gesetzgebung sich nicht in autoritär-irrationalen Verbotsmaßnahmen erschöpfen darf. –led–“1
1 Facit. Sozialistische Beiträge, hg. vom SDS – Sozialistischer Deutscher Studentenbund Köln 1 vom Februar 1965, 16 f.