Materialien 1965

Polizei rückt gegen Demonstranten aus

In München kam es am Mittwochabend wiederholt zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten gegen die amerikanische Vietnam-Politik. Nach einer Protestversammlung, zu der die Kampagne für Abrüstung (Ostermarsch der Atomwaffengegner) in den Bürgerbräukeller eingeladen hatte, zogen mehrere hundert Demonstranten mit Transparenten und Fackeln in einem genehmigten Protestmarsch über Rosenheimer Platz-Franziskanerstraße-Gebsattelberg-Mariahilfplatz-Schweigerstraße-Corneliusstraße-Baaderstraße zur Einmündung in die Rumfordstraße beim Isartorplatz. Da sich dort, laut behördlicher Anordnung, der Zug aufzulösen hatte, forderten Polizisten über Lautsprecher die Teilnehmer dazu auf. Ein Teil der Demonstranten folgte dieser Aufforderung nicht und musste mit Gewalt vom Platz entfernt werden. Andere Demonstranten sammelten sich in kleinen Gruppen und zogen durch die Innenstadt zum Karolinenplatz, um vor dem Amerikahaus lautstark zu protestieren. Auch dort konnte die Polizei, die auch tätlich angegriffen wurde, nur mit Gewalt den Platz räumen. Nach Angaben der Polizei wurden insgesamt 20 Demonstranten festgenommen, befinden sich aber inzwischen wieder auf freiem Fuß. Auf einer Pressekonferenz, bei der auch Bürgermeister Brauchle anwesend war, rechtfertigte die Polizei ihr Vorgehen.

Der Geschäftsführer des Ortsausschusses München der Kampagne für Abrüstung, Claus Schreer, berichtet, man habe bereits am 18. Mai beim Amt für öffentliche Ordnung der Landeshauptstadt die Genehmigung für den Marsch zum Amerikahaus beantragt. Zwei Tage vor der Kundgebung hätten Vertreter der Kampagne beim Amt für öffentliche Ordnung in der Sache vorgesprochen. Dabei sei ihnen vorgeschlagen :worden, die Demonstration bereits am Hochbunker an der Blumenstraße enden zu lassen. Im anderen Fall werde eine Genehmigung kaum erteilt werden können. Vertreter der städtischen Behörde hätten auf die gegenwärtige deutsch-amerikanische Freundschaftswoche hingewiesen und an die Gefahr erinnert, dass die Amerikaner bei einer Demonstration vor dem Amerikahaus zur Selbsthilfe greifen und es mit ihnen zu tätlichen Auseinandersetzungen kommen könnte.

Keine Einigung mit der Stadt

Der Hochbunker wurde als Ort der Schlusskundgebung von den Demonstranten bei dem Gespräch nicht akzeptiert. Sie wären aber mit dem Alten Botanischen Garten einverstanden gewesen. Man ging ohne Einigung auseinander. Vor dem Amerikahaus wollte die Kampagne eine 50stündige Demonstration für die Beendigung des Krieges in Vietnam abhalten. Seit Anfang dieses Monats steht vor dem Amerikahaus bereits eine Pyramide mit Aufschriften gegen die amerikanische Vietnam-Politik. Sie wurde dort mit Genehmigung des Amts für öffentliche Ordnung für die Dauer von vier Wochen von der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) aufgestellt. Am Mittwochnachmittag wurde der Kampagne der endgültige ablehnende Bescheid der Behörde zugestellt. Darin untersagte das Amt für öffentliche Ordnung jede Demonstration. Die Entscheidung wurde unter anderem damit begründet, die geplante Aktion sei dazu geeignet, das gute deutsch-amerikanische Verhältnis zu stören.

Erfolgreicher Einspruch beim Verwaltungsgericht

Die Kampagne für Abrüstung hatte jedoch inzwischen Schritte für eine Klage beim Verwaltungsgericht eingeleitet. Denn nach dem Ergebnis der Besprechung zwei Tage vorher wurde ohnehin eine Ablehnung erwartet. Mit dem schriftlichen Bescheid eilte Rechtsanwalt Klaus von Schirach, ein Sohn des als Hauptkriegsverbrecher im Gefängnis in Berlin-Spandau inhaftierten ehemaligen Reichsjugendführer Baldur von Schirach, zum Verwaltungsgericht. Gegen 18.30 Uhr verkündete das Verwaltungsgericht seine Entscheidung. Es gab der Klage gegen die Entscheidung der Landeshauptstadt teilweise statt und genehmigte die Demonstration angeblich bis zum Isartorplatz. Wegen der Eile, mit der die Angelegenheit erledigt werden musste, erging nur ein mündlicher Bescheid.

Zwei Stunden später begann im Festsaal des Bürgerbräukellers die angekündigte Protestkundgebung, die nach dem Versammlungsgesetz keiner besonderen Genehmigung bedurfte. Über der Bühne war ein großes Transparent mit der Aufschrift: „Verbot der Demonstration – ein Vorgriff auf die Notstandsgesetzgebung“ angebracht worden. Stürmische Pfui-Rufe und Pfiffe wurden laut, als ein Sprecher das Verbot der Demonstration mitteilte. Hauptsprecher bei der Kundgebung waren Rechtsanwalt Dr. Walter Lidl und der Gewerkschaftssekretär beim Hauptvorstand der Industriegewerkschaft Metall in Frankfurt, Rudi Müller. In Flugblättern wurde gefordert, die USA sollten die „Kriegsausweitung“ in Vietnam sofort einstellen. Zwischen allen Beteiligten am Vietnam-Krieg sollten ohne Vorbedingungen Verhandlungen aufgenommen werden, um einen Waffenstillstand zu erreichen. Befürwortet wird die Bildung einer internationalen Kommission zur Durchführung freier Wahlen in Südvietnam.

Missverständnis bei den Demonstranten?

Bei ihrem anschließenden Marsch zur Einmündung in die Rumfordstraße in der Nähe des Isartorplatzes trugen die Demonstranten zahlreiche Transparente gegen die amerikanische Vietnam-Politik mit sich. Die Tafeln trugen unter anderem folgende Aufschriften: „Vietnam den Vietnamesen“, „Vietnam – heute Bomben und Gas, morgen Atombomben?“, „Verhandlungen statt bombardieren“, „Kein Vietnam in Deutschland – keine Notstandsgesetze“, „Herr Erhard, keine Unterstützung für US-Politik in Vietnam.“ Bei der Einmündung der Baader- in die Rumfordstraße wurde der Demonstrationszug von der Polizei aufgehalten und über Lautsprecher aufgefordert, sich aufzulösen, nachdem hier die genehmigte Demonstration ende.

Die zumeist jugendlichen Demonstranten sahen – laut Schreer – in der Anordnung der Polizei aber einen Verstoß gegen den Bescheid des Verwaltungsgerichts, nämlich bis zum Isartorplatz ziehen zu dürfen. Verhandlungen mit der Polizei blieben ergebnislos. Die Polizei bestand auf der Auflösung des Zuges an dieser Stelle. Dabei soll nach Augenzeugenberichten vereinzelt auf Demonstranten auch von der Polizei eingeschlagen worden sein. Zahlreiche Teilnehmer der Demonstration durchbrachen einen Polizeikordon und setzten sich auf die Fahrbahn nieder. Von den Polizisten wurden sie dann auf den Gehweg getragen. Bei der Räumung der Straße bedachten Demonstranten die Polizei mit Zurufen wie „Nazi-Methoden“. Besondere Empörung hatte es ausgelöst, dass keine Schlussrede mehr gehalten werden durfte. In dem Entscheid des Verwaltungsgerichts ist darüber angeblich nichts enthalten. Der Sprecher des zentralen Ausschusses der Kampagne für Abrüstung, Dr. Andreas Buro, erklärte allerdings inzwischen, man habe sich auf die mündliche Entscheidung des Verwaltungsgerichts verlassen, wonach die Schlusskundgebung auf dem Isartorplatz erlaubt worden sei. Die Polizisten hätten jedoch erwidert, man habe die   klare Anweisung, die Demonstranten nicht auf den Platz zu lassen. Die Kampagne für Abrüstung will deshalb nun gerichtliche Schritte gegen die Landeshauptstadt einleiten.

„Von den Behörden provoziert“

Nach der Auflösung des Zuges zog ein Teil der Demonstranten in kleinen Gruppen vor das Amerikahaus am Karolinenplatz. Unterwegs verteilten sie Flugblätter. In Sprechchören forderten sie das Ende des Krieges in Vietnam. Der Aufforderung der Polizei, sich zu zerstreuen. wurde nicht Folge geleistet. Wieder kam es zu einem Sitzstreik. Daraufhin griff die Polizei mit einem größeren Aufgebot ein und löste die verbotene Demonstration auf. Bei der Aktion wurden auch Faustschläge ausgetauscht.

Verletzter erstattet Anzeige

Von einem Studenten, der an der Demonstration vor dem Amerikahaus teilgenommen hat, wurde inzwischen gegen einen Polizisten Strafanzeige gestellt. Der Polizist, dessen Name bekannt ist, soll den Studenten mit Faustschlägen bearbeitet haben. Ein anderer Student erlitt durch Tritte von Stiefelspitzen zwei Rippenbrüche und musste zur Behandlung die Universitätsklinik aufsuchen.

Der Geschäftsführer des Ortsausschusses München der Kampagne für Abrüstung, Schreer, meinte auf unser Befragen zu den Vorfällen, die Behörden hätten diese durch ihr Verbot provoziert. Außerdem habe dazu beigetragen, dass der Zug schon vor dem Isartorplatz angehalten worden sei und man eine Schlusskundgebung nicht erlaubt habe.

So sah’s die Polizei

Etwas anders sah die Polizei die Vorgänge. Nach den Angaben, die von den zuständigen Einsatzleitern gestern vormittag auf einer Pressekonferenz in Anwesenheit von Bürgermeister Brauchle in der Ettstraße gemacht wurden, ereigneten sich die Dinge wie folgt:

Als die Protestkundgebung, an der ungefähr 400 Personen teilgenommen hatten, kurz nach 21 Uhr beendet war, ohne dass es zu Zwischenfällen gekommen war, formierte sich vor dem Bürgerbräukeller der Demonstrationszug, an dem sich etwa 350 Menschen beteiligten. Die Teilnehmer führten Transparente, Fahnen und Fackeln mit. Das Transparent eines Mannes, das einen amerikanischen Soldaten mit Dollarscheinen am Helm zeigte, wurde von dem Veranstalter Claus Schreer, der die abmarschierenden Truppen kontrollierte, aus dem Zug ausgeschlossen. Als sich 20 Teilnehmer daraufhin um den Mann scharten und forderten, dass sie einen eigenen Zug veranstalten, wenn er nicht mitgehen darf, teilte die Polizei mit, dass nur ein Zug beim Amt für öffentliche Ordnung gemeldet sei und sie deshalb keinen zweiten veranstalten dürften. Danach wurde der Mann in den Hof des Bürgerbräukellers gedrängt, wo er zu seinem Auto ging und davonfuhr. Der Zug marschierte dann von der Rosenheimer Straße über den Rosenheimer Platz, Franziskanerstraße, Gebsattelstraße, Gebsattelberg, Corneliusbrücke, Corneliusstraße und Baaderstraße. Während des Umzuges riefen die Demonstranten in Sprechchören: „Ami go home!“, „Amis raus aus Vietnam“ und „Wir wollen keine Notstandsgesetze“. In der Baaderstraße machten sie so einen Lärm, dass die Bewohner aus den Fenstern schimpften.

Als der Zug gegen 22 Uhr an der Ecke Baader-/Rumfordstraße eintraf, wurden die Teilnehmer von der Polizei aufgefordert, die Demonstration zu beenden, die Transparente einzurollen, die Plakate wegzulegen und die brennenden Fackeln in der Nähe des dort abgestellten Löschfahrzeuges der Feuerwehr niederzulegen. Ein Teil der Demonstranten leistete dieser Aufforderung Folge, einige andere Teilnehmer blieben vorerst auf der Fahrbahn stehen. Zehn Mann der Schutzpolizei bildeten an der Straßeneinmündung eine Sperrkette und die Menschen wurden mehrmals über Lautsprecher aufgefordert, sich zu zerstreuen. Die meisten kamen dieser Aufforderung nach und entfernten sich zum Isartorplatz. Als sich dann gegen 22.20 Uhr eine Gruppe von etwa 30 Personen, die Plakate bei sich hatten, am Isartorplatz formierte, wurde der Platz von der Schutzpolizei geräumt. Daraufhin setzten sich einige Demonstranten auf die Straße. Sie wurden von der Polizei wegen Gefährdung des Straßenverkehrs auf die Gehbahn getragen. Die Polizei wollte, dass der Veranstalter Schreer über Polizeilautsprecher die Leute auffordern solle, sich zu zerstreuen. Schreer machte zur Bedingung, er wolle nur sprechen, wenn er eine Schlusskundgebung halten dürfe. Da dies jedoch vom Amt nicht genehmigt worden war, konnte seine Bedingung nicht erfüllt werden. Während dieser Verhandlungen schlug ein Demonstrant einen Polizisten mit einem Fackelstummel ins Gesicht und verletzte ihn am Auge. Der Mann konnte nicht festgestellt werden.

Zwischenstation Marienplatz

Gegen 22.35 Uhr versammelte sich eine größere Gruppe der Demonstranten am Marienplatz, die sich über den Karlsplatz zum Amerikahaus am Karolinenplatz bewegte. Dort waren bereits weitere Gruppen von Demonstranten eingetroffen. Auch Versammlungsleiter Rechtsanwalt Dr. Lidl war anwesend und erklärte, dass er sich von dem weiteren Verlauf der Dinge distanziere. 150 Demonstranten bildeten am Karolinenplatz wieder einen Zug und zogen mit ihren Plakaten am Amerikahaus vorbei. Als die Polizisten den Platz räumen wollten, gingen die Protestierenden zur Brienner Straße, kehrten jedoch um, als sie sahen, dass die Polizei dort schneller eintraf, als sie annahmen. Sie wurden von der Polizei aufgefordert, sich zu zerstreuen.

Trotz mehrmaliger Bitten der Polizei, wegzugehen, blieben 20 junge Männer im Alter von 20 bis 25 Jahren zurück, setzten sich auf die Fahrbahn und schrieen „Vietnam, Vietnam, Vietnam, Freiheit, Freiheit, Freiheit“! Daraufhin bildeten 25 Polizisten ein Viereck mit einer Öffnung nach Norden.

Als zum fünftenmal die Aufforderung „Entfernen Sie sich, bitte auflösen“ an die Demonstranten ging, und sich keiner der Beteiligten von der Stelle rührte, wurde den Polizisten die Anweisung gegeben, die Männer zu entfernen. Daraufhin wurden 20 junge Männer von den Polizisten zum Gewahrsamswagen getragen. Sie wurden ins Polizeipräsidium gefahren und dort nach Überprüfung ihrer Personalien wieder entlassen.

Richter billigt Polizeieinsatz

Die Polizei teilte mit, die in Gewahrsam genommenen Personen seien im Polizeipräsidium alle sehr freundlich gewesen, Es handelte sich um Studenten, Arbeiter und Angestellte. Sie haben unter Umständen mit einer Anzeige wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz zu rechnen. Die Aktion war kurz nach 24 Uhr beendet. 45 Polizisten waren im Einsatz. Auch der Richter des Verwaltungsgerichts, der sich mit dem Verbot des Amtes für öffentliche Ordnung befasst hatte, war in der Rumfordstraße anwesend. Er billigte die von der Polizei getroffenen Maßnahmen.

Ursula Willke/Martin Rehm


Süddeutsche Zeitung 127 vom 28. Mai 1965, 13 f.

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Jahr: 1965
Bereich: Internationales

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