Materialien 1965

Erklärung über den Krieg in Vietnam vom November 1965 ...

unterzeichnet von über 150 westdeutschen Schriftstellern und Wissenschaftlern

Bundeskanzler Erhard hat der amerikanischen Regierung wiederholt versichert, das deutsche Volk stehe hinter der Vietnam-Politik der USA. In den Vereinigten Staaten selbst wächst der Widerstand gegen diese Politik. Immer mehr Amerikaner zweifeln an den Erklärungen, mit denen die Regierung der USA ihre Intervention in Vietnam zu rechtfertigen sucht.

Falsche Benennung des Konflikts

Die amerikanische Regierung bezeichnet den Krieg in Vietnam als einen Konflikt zwischen beiden Teilen des Landes, entstanden durch eine Aggression des Nordens gegen den Süden. In Vietnam habe der Kommunismus die Freie Welt angegriffen.

Die amerikanische Regierung behauptet, der Krieg verteidige die Freiheit des südvietnamesischen Volkes gegen eine kleine Minderheit ausländischer oder vom Ausland gesteuerter Partisanen. Die Vietkong seien der verlängerte Arm Nordvietnams und damit Chinas.

Die amerikanische Regierung erklärt, die Bombardierung Nordvietnams solle dem Expansionsstreben Chinas Einhalt gebieten. Der Krieg diene der Erhaltung des Weltfriedens.

Richtige Benennung des Konflikts

Tatsächlich ist der Krieg in Südvietnam ein Bürgerkrieg, der bis zum Eingreifen der Vereinigten Staaten fast ausschließlich ein Kampf zwischen südvietnamesischen Revolutionären und der Regierung in Saigon war. Die USA haben das Genfer Abkommen von 1954, das freie Wahlen innerhalb von zwei Jahren vorsah, bewusst negiert und die Regierung Diem und deren Nachfolger gegen den Willen der Bevölkerung an der Macht gehalten.

Nach amerikanischen Schätzungen stehen über drei Viertel der Bevölkerung auf seiten der Aufständischen. Selbst heute, nach Ausdehnung des Krieges über beide Teile des Landes, wird die Unterstützung der Vietkong durch Nordvietnam auf höchstens 25 Prozent geschätzt. Die Saigoner Regierung kann sich nur noch in den Städten und unter direktem Schutz der amerikanischen Truppen behaupten. Der Konflikt entwickelt sich immer mehr zu einem Krieg der USA gegen das vietnamesische Volk. Dabei geht es nach Aussagen führender amerikanischer Militärs nicht nur um die Vernichtung der Vietkong, sondern gleichzeitig um die Erprobung neuer Waffen und Techniken zur Niederschlagung von Volksaufständen in anderen Teilen der Welt.

Die Vietkong sind eine nationale und soziale Befreiungsbewegung Südvietnams, die vor allem von der Landbevölkerung und der städtischen Intelligenz getragen wird. Sie sind politisch organisiert in einer „Nationalen Befreiungsfront“, in der es neben den (in der Führung) dominierenden Kommunisten auch starke bürgerliche und nationale Gruppierungen gibt. Erst die Tatsache, dass die USA mit der ganzen Übermacht ihres technischen Potentials in den Krieg eingegriffen und ihn auf Nordvietnam ausgedehnt haben, droht die Vietnamesen unter den traditionell gefürchteten Einfluss Chinas zu zwingen. Die amerikanische Intervention erhöht die Gefahr eines großen Krieges in Asien, der leicht zu einem dritten Weltkrieg führen kann. Zugleich werden hier die Grundlagen für einen Rassenkonflikt gelegt, dessen Auswirkungen noch gar nicht abzusehen sind.

Die bisherige Bilanz des Krieges

Eine halbe Million Menschenleben hat der zweite Vietnamkrieg nach vorsichtigen Schätzungen von westlicher Seite schon jetzt gefordert.

160.000 Zivilisten sind allein zwischen 1961 und 1964 umgekommen.

Folterungen und Gefangenenmord sind seit Jahren an der Tagesordnung.

Tausende von Siedlungen wurden vernichtet, ihre Einwohner getötet oder in sogenannte Wehrdörfer deportiert, die nichts als Konzentrationslager sind.

Napalmbomben, Giftchemikalien und neuartige Vernichtungswaffen treffen in wachsendem Ausmaß die Zivilbevölkerung.

Durch die moderne Strategie der verbrannten Erde droht sich hier der Tatbestand des Völkermordes zu erfüllen.

Frieden und Selbstbestimmung für Vietnam

Angesichts dieser Tatsache distanzieren wir uns von der moralischen und finanziellen Unterstützung des Vietnamkrieges durch die deutsche Bundesregierung.

Wir begrüßen die Forderungen Frankreichs und der blockfreien Länder nach Einstellung der Luftangriffe und Regelung des Konflikts auf der Basis der Genfer Vereinbarungen.

Wir schließen uns den 5.000 amerikanischen Professoren und Dozenten an, die für die sofortige Beendigung des Krieges und für die Neutralisierung ganz Vietnams eintreten.

Wir solidarisieren uns mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, deren Sprecher, Martin Luther King, zu Demonstrationen für den Frieden in Vietnam aufgerufen hat.

Wir appellieren an alle Demokraten in der Bundesrepublik, diese Erklärung und ihre politischen Forderungen zu unterstützen und in die Öffentlichkeit zu tragen.

Günther Anders, Inge Aicher-Scholl, Ingeborg Bachmann, Professor Ernst Bloch, Walter Boehlich, Heinrich Böll, Dipl. Soz. Jürgen Brockmann, Peter O. Chotjewitz, Heinz von Cramer, Hans Magnus Enzensberger, Hubert Fichte, Erich Fried, Prof. Dr. Walter Jens, Uwe Johnson, Robert Jungk, Erich Kästner, Ernst Kreuder, Wolfgang Neuss, Hermann Peter Piwitt, Fritz J. Radatz, Klaus Wagenbach, Martin Walser, Peter Weiss, Dr. Heribert Adams, Dr. Johannes Agnoli, Dipl. Soz. Norbert Altmann, Dr. Norbert Altwicker, Prof. Otl Aicher, Carl Amery, Dr. Egon Becker, Dr. Werner Becker, Dr. Joachim Bergmann, Dipl. Handelslehrer Heinz Berzau, Peter Birke, Dr. Margherita von Brentano, Klaus ten Brink, Prof. Tobias Brocher, Dr. Eberhard Buber, Dr. Niels Diederich, Dipl. Landwirt Eberhard Dähne, Dr. med. Klaus Dörner, Dr. Hans Peter Dreitzel, Dr. Wolfgang Edelstein, Dr. Klaus Ehrler, Walter Euchner, Anette Fögen, Dr. Klaus Frank, Dipl. Soz. Michaela von Freyhold, Dr. Peter Furth, Dipl. Kaufmann Jochen Geiger, Walter Gerhardt, Prof. Dr. Helmut Gollwitzer, Dr. Wilfried Gottschlach, Dr. jur. Gerhard Grohs, Prof. Dr. Karl Heinz Haag, Prof. Dr. Jürgen Habermas, Dipl. Pol. Dietrich Haensch, Dr. Margarete Haug, Dr. Wolfgang Fritz Haug, Peter Hellmann, Dipl. Pol. Hans-Peter Hampel, Dipl. Soz. Sebastian Herkommer, Dipl. Soz. Ulfert Herlyn, Gerd Hirschauer, Dipl. Soz. Inge Hofmann, Dipl. Soz. Klaus Horn, Dipl. Volkswirt Jörg Huffschrnidt, Dr. Herbert Hübner, Dipl. Kaufmann Bernd Jansen, Dipl. Soz. Michael Jenne, Dipl. Psych. Gisela John, Pfarrer Kanitz, Diethard Kars, Dipl. Psych. Helmut Kentler, Dipl. Soz. Horst Kern, Dipl. Ing. Manfred Kienle, Dr. Klaus Peter Kisker, Dr. Rolf Klüwer, Dipl. Soz. Werner Kriesel, Dr. Ekkehard Krippendorff, Eckart Kroneberg, Horst Krüger, Friedrich Krüger, Siegfried Kupper, Pfarrer Ernst Lange, Helmut Lange, Lutz Lehmann, Dr. Wolfgang Lempert, Reinhard Lettau, Dr. Günter Ludwig, Dr. Burkart Lutz, Dr. Eugen Mahler, Dr. Siegfried Mann, Christoph Meckel, Christl Merz, Dr. Klaus Meschkat, Thomas Metscher, Dipl. Kaufmann Ernst Theodor Mohl, Prof. Dr. C. Wolfgang MülIer, Brigitte Müller-Bilitza, Urs Müller-Plantenberg, Dr. Oskar Negt, Dipl. Soz. Claus Offe, Martin Osterhand, Dr. Hans Oswald, Dipl. Soz. Helga Pauck, Albert Pflüger, Ulrich Prass, Xenia Rakewsky, Adalbert Rang, Dr. Roland Reichwein, Dr. Irene von Reitzenstein, Dipl. Volkswirt Manfred Rexin, Klaus-Joachim Riebel, Dr. Ingo Richter, Bere Rigauer, Klaus Roehler, Dipl. Psych. Dr. L. Rohr, Prof. Horst Vogel, Prof. Dr. Wilhelm Weischedel, Walter Weller, Dipl. Soz. Reinhard Welteke, Gernot Wersig, Wolfgang Weyrauch, Günther Zimmermann, Paul Schallück, Ernst Schnabel, Wolfdietrich Schnurre, Gerhard Schernberger, Gösta von Uexküll, Siegfried Unseld, Heinz-Horst Schrey.


tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 37/1966, 32 ff.

Überraschung

Jahr: 1965
Bereich: Internationales

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