Materialien 1965

„Bildungsnotstand rächt sich“

10.000 Studenten demonstrierten gestern in München

München (Eig. Ber.) – 58, 59, 60 – Bildungsnotstand rächt sich. Mit diesem Schlachtruf zogen rund zehntausend Studenten von der Technischen Hochschule zum Königsplatz. Sie waren Teilnehmer der Aktion „1. Juli“, die gestern in der ganzen Bundesrepublik von den Studierenden der Hochschulen durchgeführt wurde. Sie protestierten gegen die Bildungsmisere, Zwergschulen und den unzureichenden Kulturetat in bissigen und originellen Plakaten.

Und so ging es los: 11,45 Uhr. Vor dem Haupteingang der Technischen Hochschule werden die ersten Demonstrationsplakate herangetragen. „Konkordat + Zwergschulen = Mittelalter“ verkündet eins, während das andere lapidar feststellt, dass „Bildung unsere Zukunft bestimmt“, „Recht haben S’“, meint ein Zaungast, Ein anderer hat vom akademischen Nachwuchs keine allzu hohe Meinung: „Die streiten für Bildung und rennen selbst über den Rasen“, grantelt er. 12 Uhr. Jetzt sollte es eigentlich losgehen mit der Demonstration, aber wie’s halt Brauch ist, die akademische Viertelstunde wird auch beim Demonstrieren eingehalten …

Ein Iraker hat sich unters Studentenvölkchen gemischt. Ihm imponiert der große Auflauf nicht. „Bei uns gibt’s das oft“, meint er herablassend.

Feuer und Flamme dagegen ist sein Kommilitone aus Indien. Mit einem wunderschönen roten Turban hat er sich hinter dem Schild „Heute Bildungsnotstand, morgen Wirtschaftsnotstand“ postiert. Auch Mitmarschieren will er, denn „die Leute sollen es sehen“. Er glaubt, es gehe um Mensa und Parkplätze …! Jedem das seine.

Um 12.15 Uhr ist es dann tatsächlich soweit. Das Plakat „Bildung bestimmt unsere Zukunft“ wird ganz vorgetragen. Wenig Zuschauer konnte der Zug auf die Straße locken. Zwei Metzgergesellen schauen sich das Schauspiel interessiert an und schütteln verwundert den Kopf. Nur an der Ecke Ludwigstraße werden die Bildungsmarschierer mit lauten Bravorufen von ihren Uni-Kommilitonen empfangen. Auf dem Oskar-von-Miller-Ring wird ein Bundeswehr-Bus unfreiwilliges Demonstrationsobjekt. Als er hilflos eingekeilt zwischen den Studentenmengen steht, entlädt sich der Akademikerzorn mit den Worten: „Da fährt das Geld, das uns fehlt“, auf ihn. Die Fähnriche schauen neugierig heraus. Endlich ist der Zug am Königsplatz angelangt.

Bis aber tatsächlich alle versammelt sind, belustigt man sich selbst und die Schaulustigen mit Sprechchören. „Bayern in der Bundesliga – doch in der Bildung müde Krieger“. Oder „Der Bundespräsident war in einer Zwergschule – man merkt es“. Einen guten Anklang findet auch die Frage „Huber von der CSU, Huber, wo bleibst du?“ Am populärsten aber – wie könnte es in einer Fußballmetropole anders sein – wird der Ruf ,,58, 59, 60, Bildungsnotstand rächt sich“.

Als dann alles vorüber ist und man sich wieder in alle Hochschulrichtungen verstreut, trägt nur noch ein einziger Aufrechter sein Fähnlein, und auch er wird von einem Polizeibeamten barsch angewiesen: „Sie hörens, jetzt müssen S’ Ihr Plakat aber wieder zammrolln“ …

Heidrun Bleeck


Abendzeitung vom 2. Juli 1965, 14.

Überraschung

Jahr: 1965
Bereich: StudentInnen

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