Materialien 1967

Ist die Idee der Revolution eine Mystifikation?

Herbert Marcuse antwortet auf vier Fragen

1. Frage

Der Begriff der Revolution, wie wir ihn bei Marx formuliert finden, hält den neuen Tatsachen der Industriegesellschaft nicht stand. Er ist zu einem Anachronismus geworden; er hat keinen Adressaten mehr. Die Arbeiterklasse, Marxens Meinung nach das geschichtliche Subjekt aller künftigen sozialen Umwälzungen, hat sich als Klasse aufgelöst; der Wunsch, eine qualitativ andere Gesellschaftsordnung herzustellen, ist dem Bedürfnis nach besseren Arbeitsbedingungen, mehr Freizeit und mehr materiellen Gütern gewichen. Unter diesen Verhältnissen erweist sich die alte Theorie der Revolution, die das wirtschaftliche Elend einer Klasse artikuliert und Unterdrückte sprechen gelehrt hat, als ohnmächtig und weltfremd; sie steht mit dem Rücken zur Wirklichkeit. – Leistet, wer heute von Revolution spricht, nicht einer Mystifikation Vorschub?

Antwort

Die Idee der Revolution ist eigentlich nie „Mystifikation“. Das Bestehende war immer als Ganzes schlecht: im Kampf gegen die realen Möglichkeiten der Bewältigung des Elends und der Grausamkeit. Dass sie keine identifizierbaren „Adressaten“ mehr hat, keine organisierte Bewegung, auf die sie sich stützen könnte, annulliert nicht die Notwendigkeit von Revolution. Und hat sie heute wirklich keine „Adressaten“? Weder der ideologische Schleier der pluralistischen Demokratie noch der materielle Schleier verschwenderischer Produktivität ändert etwas an der Tatsache, dass im Bereich des Spätkapitalismus das Schicksal des Menschen bestimmt ist durch den aggressiven und expansiven Apparat der Ausbeutung und der mit ihm verfilzten Politik. Die in diesem Herrschaftssystem erlaubten und verwalteten Freiheitsrechte vermindern nicht die Gewalt einer Herrschaft, welche die Welt zur Hölle gemacht hat. Gegenwärtig ist die Hölle auf den Schlachtfeldern von Vietnam und den anderen Opferländern des Neokolonialismus konzentriert; dort ist freilich auch die Menschheit konzentriert: nicht unmittelbar, in den Guerillakämpfern, die dem Grauen der Eroberer mit dem Grauen der Verteidigung begegnen, sondern, sehr vermittelt, in der Chance, dass sie, die in ihrer extremen Armut und Schwäche schon seit Jahren die reichste und technisch höchstentwickelte Zerstörungsmaschine aller Zeiten in Schach halten, die innere Grenze des Systems markieren. „Innere“ Grenze, weil es im globalen System des Spätkapitalismus kein Außen mehr gibt; weil selbst die Entwicklung der sozialistischen Länder, bei allem Gegensatz in den Produktionsverhältnissen, dem Zwang der globalen Konkurrenz und den Geboten der Koexistenz gehorcht. Aber jede romantische Idee der Befreiungsfront ist falsch. Der Guerillakampf als solcher stellt keine fatale Bedrohung des Systems dar: auf die Dauer kann er der technischen ‚Endlösung’ nicht standhalten. Das System behält sich die Entscheidung vor, ob und wann es den ‚Sieg’ durch totale Verbrennung und totale Vergiftung beschließen wird. Die ‚Endlösung’ in Vietnam wäre die endliche Sicherung der Macht des Kapitals, das seine Interessen mit Hilfe von Militär- und Besitzdiktaturen weiter ausdehnen und die sozialistischen Länder zu immer anstrengenderer Verteidigung (oder zu ohnmächtiger Neutralität) zwingen würde. Diese Tendenz kann nur gebrochen werden, wenn der Widerstand der Opfer des Neokolonialismus eine Stütze findet in der „Gesellschaft im Überfluss“ selbst, in der Metropole des Spätkapitalismus und in den von der Metropole in ihrer Selbständigkeit bedrohten schwächeren kapitalistischen Ländern. (Auf die Opposition in der Metropole werde ich in meiner Antwort auf die Frage 4 zurückkommen.) In den kapitalistischen Ländern des europäischen Kontinents jedenfalls bleibt die politische Reaktivierung der Arbeiterbewegung im internationalen Rahmen Voraussetzung für die Wirksamkeit der Gegenbewegung.

2. Frage

Zu den Merkwürdigkeiten unserer Zeit gehört die allmähliche wechselseitige Angleichung von Kapitalismus und Sozialismus. In beiden Systemen hat die fortgeschrittene Industrialisierung den Gesellschaftsprozess und die Produktionsweise verändert. In dem Maße, in dem die Technologie den Gang der Dinge und die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen bestimmt, können Herrschaftsverhältnisse nur noch in technischen Ausdrücken definiert werden. Die Macht liegt beim Apparat, der die gesellschaftliche Arbeit verwaltet und die Anpassung organisiert: Herrschaft, übersetzt in Manipulation, gibt sich kaum noch als politische und wirtschaftliche Herrschaft zu erkennen. .Im guten Glauben, aus eigenem Willen zu handeln, handelt jedermann den allgemeinen Zwängen nach. Die Vorstellung von Freiheit, von der sich Revolutionäre und Revolutionen inspirieren ließen, ist, so scheint es, in den modernen kapitalistischen und sozialistischen Staaten außer Kurs gesetzt. Hat in der „gelenkten Massengesellschaft“ der Begriff der Freiheit seine revolutionäre Kraft endgültig eingebüßt?

Antwort

Die „allmählich wechselseitige Angleichung von Kapitalismus und Sozialismus“ hat in dem häufig gebrauchten Begriff der „technologischen Gesellschaft“ oder „entwickelten Industriegesellschaft“ Ausdruck gefunden. Die gängige entrostete Kritik an diesem Begriff ist selber ideologisch. Es sollte nicht mehr nötig sein zu betonen, dass nicht die Technik, sondern die gesellschaftliche Organisation der Produktivkräfte für die Differenz der Systeme entscheidend ist; aber es scheint immer noch nötig zu wiederholen, dass die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und deren kollektive Kontrolle nicht diese Differenz ausmachen, auch dann nicht, wenn diese Kontrolle von einer Arbeiterklasse ausgeübt wird, deren Bedürfnisse und Aspirationen dem kapitalistischen System der Bedürfnisse in Nachahmung und Anpassung verhaftet sind. Die Koexistenz mit dem Spätkapitalismus treibt die sozialistischen Gesellschaften zu einer Konkurrenz auf Leben und Tod – zu einer Konkurrenz, in der die Entwicklung der Produktivkräfte und der Bedürfnisse weitgehend diplomatisch-politischen und militärischen Erfordernissen unterworfen ist. So wird, hier wie dort, Technik zu einem in den Produktionsprozess eingebauten Herrschaftsmittel. Und als solches schreibt die Technik, die noch nicht zum Mittel der Befreiung gemacht ist, bestimmte Verhaltensweisen im und zum Herrschaftsapparat vor – hier wie dort. Trotzdem bleibt bestehen, dass die Chance der Befreiung dort liegt, wo die Produktionsmittel vergesellschaftet sind. Die politische Ökonomie der sozialistischen Länder bedarf des Friedens, nicht der aggressiven Expansion.

Aber der technisch-politische Wettbewerb in der Entwicklung der Produktivkräfte löst noch eine andere Tendenz der Angleichung aus, die für die Zukunft noch unheilvoller erscheint. Die gegenwärtige internationale Konstellation führt zu einem Interessengegensatz zwischen den „alten“, stabilisierten, technisch fortgeschrittenen und industrialisierten sozialistischen Ländern einerseits und den „neuen“ und ärmeren anderseits. Die ersteren rücken in die Kategorie der Besitzenden auf; ihnen mag der revolutionäre Kommunismus der Armen jenseits der Grenze sehr wohl als eine neue „Revolution von unten“ und daher als eine Gefahr vorkommen. Und nicht nur ihnen allein, denn auch die „Gesellschaft im Überfluss“ wittert hier eine Gefahr: aus dem amerikanischen „Kampf gegen den Kommunismus“ ist längst ein Kampf gegen den Kommunismus der Ärmsten geworden.

Wenn in den entwickelten Industrieländern mit ihrem steigenden Lebensstandard die „Vorstellung von Freiheit, von der sich Revolutionäre und Revolutionen inspirieren ließen“, unterdrückt ist, so ist sie um so akuter und offener dort, wo die Unterdrückten gegen das System rebellieren. Hier fällt der revolutionäre Begriff der Freiheit mit der Notwendigkeit, die nackte Existenz zu verteidigen, zusammen: in Vietnam genauso wie in den Slums und Ghettos der reichen Länder.

3. Frage

In der zeitgenössischen Industriegesellschaft ist die Ökonomie nicht mehr die Basis der politischen Entscheidungen, sondern selber eine Funktion der Politik. Die ökonomischen Prozesse sind heute nachdrücklicher politisch vermittelt als vor fünfzig Jahren. Darin deutet sich eine neue, bislang ungekannte Form des Totalitarismus an. Die Gesellschaftstheorie scheint diesem Tatbestand nicht gewachsen: sie redet ihren eigenen Kategorien nach dem Mund und überlässt die Fakten sich selbst. Die Praxis hat, so sieht es aus, mit den Ideen gebrochen. Kann die gegenwärtige Entwicklung der Gesellschaft noch mit Begriffen wie „Entfremdung“, „Verdinglichung“, „Ausbeutung“, „Existenzminimum“, „Verelendung“ interpretiert werden?

Antwort

Es ist nicht richtig, dass in der „zeitgenössischen Industriegesellschaft … die Ökonomie nicht mehr die Basis der politischen Entscheidungen (ist), sondern selber eine Funktion der Politik“. Im engen „ökonomischen“ Sinne war die Ökonomie nie die Basis; auch heute ist sie „politische Ökonomie“: der Prozess der Produktion und Distribution wird weitgehend von der Politik bestimmt und bestimmt seinerseits die Politik, in der sich die großen oligopolistischen Interessen durchsetzen (sie sind keineswegs immer in Harmonie). Und mehr als zuvor ist die politische Meinung und Stellungnahme der Produzenten und Konsumenten ein ökonomischer Faktor: Element im Tauschprozess. im Kauf und Verkauf der Arbeitskraft, im Warenabsatz. Man muss politisch „allright“ sein, um im Geschäft, im Bureau, in der Fabrik konkurrieren zu können. Politische Propaganda und kommerzielle Reklame koinzidieren. Die politische Ökonomie des Spätkapitalismus ist auch „psychologische Ökonomie“: sie produziert und verwaltet die vom System erforderten Bedürfnisse – auch die Triebbedürfnisse. Es ist diese Introjektion der Herrschaft, die, mit der wachsenden Befriedigung der Bedürfnisse, Begriffe wie Entfremdung, Verdinglichung, Ausbeutung suspekt macht. Ist der Nutznießer der „Gesellschaft im Überfluss“ nicht wirklich bei sich selbst im Anderssein? Findet er nicht tatsächlich sich selbst wieder in seinen „gadgets“, seinem Auto, seinem Fernsehgerät? Aber wiederum: beseitigt die falsche Subjektivität den objektiven Sachverhalt?

4. Frage

In einem Aufsatz aus dem Jahr 1965 haben Sie die These vertreten, dem Kapitalismus sei es gelungen, seine Widersprüche in eine „manipulierbare Form“ zu bringen; er habe das „revolutionäre Potential“ absorbiert. Bedeutet das, dass unter den gegebenen Umständen kritische Theorie und politische Praxis nicht mehr zusammenzubringen sind? Mit anderen Worten: Was heißt „revolutionär“ angesichts einer Gesellschaft, die den Gedanken der Revolution und das Bedürfnis nach ihr gewaltlos stillgelegt hat?

Antwort

Die Manipulation der spätkapitalistischen Widersprüche hat ihre eigene Dynamik, deren sprengende Kraft heute in der Eskalation des Krieges in Vietnam und in der Expansion des amerikanischen Kapitals in Europa, Südamerika und Asien wirksam ist. Es ist sinnlos, in dieser Tendenz die Keime eines bewaffneten Konflikts zwischen den kapitalistischen Mächten zu entdecken: das Gesamtinteresse gegenüber dem gemeinsamen Gegner zwingt die Rivalen zusammen. Aber innerhalb der Nationen bestehen durchaus partikulare Interessen an der Zurückdrängung des amerikanischen Kapitals; nationale Unabhängigkeit wird wieder zum progressiven Faktor. Ein Rückzug des amerikanischen Kapitals könnte – im Zusammenhang mit der durch die fortschreitende Automation entstehenden Arbeitslosigkeit – zu schweren Erschütterungen führen; sie würden die Gleichschaltung der antagonistischen Kräfte in den USA auflockern. Es ist möglich, dass dann die neofaschistischen Intentionen triumphieren und dass die Majorität der organisierten Arbeiter ihnen folgt oder neutral bleibt; es ist jedoch auch möglich, dass die Gegenbewegung wächst und sich organisiert.

In dieser Situation könnte die Opposition der amerikanischen Jugend zu politischer Wirkung gelangen. Diese Opposition ist ideologiefrei oder von tiefem Misstrauen gegenüber aller Ideologie (auch der sozialistischen) durchdrungen; sie ist sexuelle, moralische, intellektuelle und politische Rebellion in einem. In diesem Sinne ist sie total, gegen das System als Ganzes gerichtet: sie ist der Ekel vor der „Gesellschaft im Überfluss“, das vitale Bedürfnis, die Spielregeln eines betrügerischen und blutigen Spiels zu verletzen, nicht mehr mitzumachen. Wenn diese Jugend das bestehende System der Bedürfnisse und seine stetig sich mehrende Warenmasse verabscheut, so deshalb, weil sie beobachtet und weiß, wie viel Opfer, wie viel Grausamkeit und Dummheit täglich in die Reproduktion des Systems eingehen. Diese Jungen und Mädchen teilen nicht mehr die repressiven Bedürfnisse nach den Wohltaten und nach der Sicherheit der Herrschaft – in ihnen erscheint vielleicht ein neues Bewusstsein, ein neuer Typus mit einem anderen Instinkt für die Wirklichkeit, fürs Leben und fürs Glück; sie haben die Sensibilität für eine Freiheit, die mit den in der vergreisten Gesellschaft praktizierten Freiheiten nichts zu tun hat und nichts zu tun haben will. Kurz: hier ist die „bestimmte Negation“ des Bestehenden – aber ohne wirksame Organisation und an sich selbst unfähig, entscheidenden politischen Druck auszuüben. Nur im Bündnis mit den Kräften, die dem System „von außen“ widerstehen, kann eine solche Opposition zu einer neuen Avantgarde werden; wenn sie isoliert bleibt, läuft sie Gefahr, der Verharmlosung und damit dem System selbst zu verfallen.

Interview: Günther Busch


Kursbuch 9 vom Juni 1967, Berlin, 1 ff.