Materialien 1967

Mytho-Poetisches

Zu einem Zitat, das gerade [anno 1993] in der SZ erschienen war: »Was die 68er Generation verändert hat … die Studentenbewegung auf der Suche nach einer in Europa vorzeigbaren deutschen Geschichte … grub linke Traditionen aus und thematisierte sie … man kann sie als eine Generation der Verlags- und Buchhandlungsgründer und Antiquariatsbesucher ansprechen …«

Herbert:

»Da kann ich nur zustimmen. Die Verlage haben in der 68er Bewegung eine große Rolle gespielt, weil es sich um eine Intellektuellen-Bewegung handelte und viele der Protagonisten durch Bücher motiviert wurden. Die Verlage hatten aber nicht nur die Aufgabe, Bücher herzustellen, sondern sie waren auch, wie die Buchhandlungen, Zentren, Sammelplätze, eine Art Focus, wo man hinging und sich austauschte.

Verlage und Buchhandlungen hatten einen ähnlichen Charakter wie die Kneipen, wenn auch auf einer etwas seriöseren Ebene.

Die Kneipen, in die wir gingen, befanden sich in der Türkenstraße: >Der kleine Bungalow<, >Charivari<, >Stop In<, manchmal auch der >Alte Simpl<. Kneipen haben mich mein ganzes Leben intensiv begleitet. Die Türkenstraße war für mich die wichtigste Straße Münchens, obwohl ich nur zwei Jahre dort gewohnt und gearbeitet habe. Von 84 bis 86, auf Nummer 55, danach musste der Verlag zumachen: Konkurs. Für mich ein Ereignis, das mich tief mit der Türkenstraße verbindet. Seit 1967 bedeutet sie mir viel: ganze Nächte habe ich in ihren Kneipen verbracht und zwei der in meinem Leben wichtigen Frauen dort getroffen.

Die Türkenstraße ist für mich stark emotional aufgeladen.

Es gab viele Orte, wo in München politische und subkulturelle Diskussionen gepflegt wurden: im SDS, im >blatt<, in den Buchhandlungen, im Verlag. Aber wenn es zehn Uhr wurde, begab man sich in die Türkenstraße, ins Kino oder direkt ins >Stop In< oder ins >Charivari<. Dort wurde weitergeredet. Man trank und rauchte unendlich viel. Der Druck des Tages hatte abgenommen und die Emotionen brachen heraus. Man konnte sich lustig machen über die Situationen, die man tagsüber erlebt hatte. Es wurde ziemlich viel gelacht.

Dort sammelte sich das ganze subkulturelle Volk Münchens: die Linken, die Anarchisten, die kleinen Poeten, die Ausgeflippten, die Päderasten. Das war aber nicht das Feld, wo sie aktiv wurden, es war eher eine Art Rückzugsgebiet, um sich mit Freunden über ihr Milieu zu unterhalten. Oft kam man Tag für Tag erst um drei Uhr nachts ins Bett.

Es war aber auch ein kreatives Milieu. Neue Dinge, neue Aktionen entstehen ja oft in einem Zustand, in dem man enthemmt ist. Deshalb spielte die Türkenstraße so eine große Rolle: Besetzungen, Demonstrationen, Aktionen wurden hier entwickelt.

Sie war eine Art Hefe. Eine Hefe, die zum Vorschein brachte, was in uns steckte.

Die Straße war damals auch voller Spitzel. Voller Polizisten. Die waren da, tranken mit uns ein Bier und versuchten, etwas aus uns herauszubekommen. Aber es wirkte nicht bedrohlich, im Gegenteil, man nahm es als Teil der eigenen Identifikation.

Interessant war, dass das >Stop In< von zwei sehr zionistisch orientierten Israelis geführt wurde, während wir uns zu der Zeit schon für die Palästinenser geschlagen hatten, aber das störte irgend wie keinen. Sie führten eine gewisse Regie, die notwendig war, damit dieser wilde Haufen nicht durchdrehte.

Eben komme ich aus dem ARRI, wo ich den Film >Saison en enfer< über Rimbaud gesehen habe. Rimbaud, der seine poetische Dimension aufgekündigt hat, um ohne Rast und Ruh durch die Welt zu wandern. Tabak-, Elfenbein- und Sklavenhändler war er in Aden und Java, ist dauernd einer Sehnsucht nachgelaufen, die sich nie verwirklicht hat.

Da fiel mir die Türkenstraße ein: viele Figuren, die ich hier getroffen habe, ein Teil des Milieus, waren doch ständig einer Sehnsucht nachgelaufen, die sich nicht verwirklicht hatte: da hatte die Revolution nicht stattgefunden und die ersehnte Begegnung auch nicht. Da haben sie sich mit der Situation abgefunden und eine eigene Kultur gebildet. Sie haben sich eingerichtet in der Hölle, die keine Sehnsucht mehr kennt. Man kann sich da durchaus gemütlich einrichten. An einem Ort, von dem man eigentlich wegwollte.

Aber nicht mehr konnte. Weil man wie gefesselt war und auch die Tür nicht mehr gefunden hat. Deshalb hat man sich abgefunden mit diesem Raum und dieser Kultur und etwas entwickelt, was zwar den Idealen nicht mehr entsprach, aber doch ganz lebbar, ja faszinierend war.

Der Peter Schult, zum Beispiel, der schwule Schriftsteller mit seinen Knabenlieben, der hat in einem Text >Gefallene Engel< diesen Raum mythologisiert. Er hat sich dort ansässig gemacht. Er hat einen Lehnstuhl hineingestellt und eine Apotheose all’ der Menschen gemacht, die aus der Gesellschaft herausgefallen sind.

In seinem Roman >Sackgassen< hat er versucht nachzuweisen, dass Sackgassen etwas Interessantes sind, weil man sich dort seine eigene, neben der offiziellen Gesellschaft existierende Gesellschaft aufbaut.

Mich hat dieses auf den ersten Blick nicht sichtbare subkulturelle Milieu fasziniert. An die Straße gebunden. Obwohl sie für mich, psychologisch gesehen, eine Sackgasse war.

Wenn ich durch die Straße gehe, fühle ich mich immer noch wie 28. Die Leute, die aber in den Kneipen sitzen, sind Leute meiner Generation. Und sie werden immer älter. Ich fühle mich ihnen verbunden. Ich sehe an ihren Gesichtern, dass sie ihre Ideale nicht verwirklicht haben, dass sie sich aber trotzdem nicht in die Gesellschaft integriert haben. Dass sie aber nicht mehr die Kraft haben, ihre Kreativität am Schopf zu packen und etwas Neues zu machen. Das stimmt mich traurig.

Viele, die ich hier getroffen habe, sind gewaltsam umgekommen: der Andreas Baader und die Gudrun Ensslin, der Rudi Dutschke und der Schult, der ist ja irgendwie auch vor der Zeit abgetreten. Während die neue Generation, die sich hier ansiedelt, es zwar schafft, aber keine Ideale hat, innerhalb des Alltäglichen stehen bleibt und nichts mehr anstrebt, was darüber hinausgeht.

Ich habe die Absicht, mich abzunabeln. Ich möchte diesen Raum verlassen, gerade weil er so wichtig für mich war. Weil ich ihn sehr geliebt habe. Irgendwo ist es für mich ein Endpunkt, ich wohne in der Georgenstraße, praktisch Ecke Türkenstraße. Und ich habe nie gewusst, was es mir unmöglich machte, die Georgenstraße zu verlassen: es war die Türkenstraße, die mich festhielt.

Jetzt möchte ich aufs Land und sehe in diesem Gespräch einen gewissen Abschluss. Ich möchte die Türkenstraße mit Ehre hinter mir lassen. Die Abnabelung empfinde ich als Verlust, aber auch als Chance für einen Neubeginn: Unbelastet zurückkommen, der Straße, den Menschen neu begegnen können.

Ich habe die Türkenstraße als Teil meines eigenen Selbst erkannt, die ich aber auf der Wanderung des Lebens wie eine Station hinter mir lassen muss. Die große Mutter der Enttäuschten und Verlorenen.

1967 war ich Mitglied im Kölner SDS und in einem Arbeitskreis aktiv, der sich mit den Themen der Dritten Welt beschäftigte. Die Gisela Erler auch, die Tochter von Fritz Erler, mit der ich damals zusammen war. Wir vertraten die Ideen der unterdrückten Völker und der Befreiungsbewegungen in ihrem Kampf gegen den Kolonialismus. Und verbreiteten sie.

Zum Beispiel eine Rede von Che Guevara, wo er sich kritisch mit dem russischen Kommunismus auseinandersetzte. Gar nicht orthodox. Irgendwie hat es sich dann ergeben, dass wir ein Verlagshaus um diese Idee gründeten.

In Kuba gab es einen ständig tagenden Kongress der Befreiungsbewegungen, der sich >Tricontinental< nannte. Das bezog sich auf die Dritte Welt und den Dritten Weg, den sie einschlagen wollte zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Daher der Name >Trikont<.

Gleich am Anfang bekamen wir die Bibel des großen Vorsitzenden Mao Tse-tung in den Verlag. Sie bildete unser Finanzpolster. Es war ein kleines umfangreiches Büchlein, 400 Seiten auf Dünndruck, genau das Papier der Bibelseiten, mit rotem Plastikeinband, die >Mao-Bibel<. Wir haben viel davon verkauft.

Am Ende, nach fast zwanzig Jahren, habe ich ein Buch über den Dalai Lama veröffentlicht, der ja von Mao in schrecklicher Weise vertrieben worden war. Ich sah das nicht als Kontrapunkt, sondern eher als Ergänzung. Als ich es dem Dalai Lama erzählte, war er erst verdutzt, dann hat er gelacht.

Der Verlag hatte zwar eine Reihe von Gesellschaftern und Menschen, die ihm nahestanden, aber letztlich haben die Gisela Erler und ich das Programm bestimmt.

Wir sahen uns zunächst als Sprachrohr der studentischen Bewegung mit Büchern über die Studentenrevolte und die >Aktivierung des Proletariats<. Dabei waren wir aber nicht dogmatisch, wir waren das Sprachrohr der Sponti-Bewegung, einer Mischung aus Hippies, Anarchisten, neuer Linker und Einzelnen, die man nicht so genau definieren konnte, die zu einem Milieu gehörten, aber zu keiner Organisation.

Der Verlag war ein weiterlebender Korpus, der für die vielen, schnell zerfallenden Bewegungen immer der Bezugspunkt war. Deshalb auch die starke emotionale Bindung.

Wir haben oft sehr schnell als erste neue Ideen auf den Markt gebracht. Wir sahen uns als Schrittmacher der neuen Protestbewegungen, die nicht mehr nur das geknechtete Proletariat umfassten, sondern auch die Grauen Panther, Homosexuelle, Frauen oder die regionalen Bewegungen in Spanien.

Wir brachten Themen auf und in zwei Jahren waren sie Teil der offiziellen Verlagspolitik. Die hatten dann die anderen Verlage aufgegriffen. Wir änderten dann meist das Programm, führten es mit neuen Themen fort. Aber am Schluss war die Vorlaufszeit so kurz geworden, es waren nur noch Monate, bis die anderen Verlage sich unserer Themen bemächtigt hatten, sie auf den Markt warfen. Da konnten wir nicht mehr mithalten. Und so billig produzieren wie sie konnten wir auch nicht. Zum Schluss gab es Hardcover, schöne Bücher, die an die dreißig Mark kosteten.

Im Trikont erschienen die ersten Frauenbücher. Folge war eine Spaltung des Verlages in Dianus-Trikont und die Frauenoffensive. Es war kein Aufstand, es war eine Hilfestellung von meiner Seite. Weil die Gisela sehr mit der Frauenbewegung sympathisierte. Über ein Jahr benutzte die Frauenoffensive, noch ohne eigenen Namen und juristische Selbständigkeit, unseren ganzen Apparat, bis sie sich selbständig machte. Als der Verlag aus Köln hierher gezogen war, existierte er zunächst in der Georgenstraße, in einer Wohnung. Dann sind wir in die Sandstraße gezogen, dann in die Theresien-, die Josephsburg-, die Kistlerstraße, zurück in die Agnes-, dann, im August 1984 in die Türkenstraße.

Ich war froh, hier einzuziehen, in das schöne Büro neben dem >Simpl<, in ein Haus, auf dem die Jahreszahl 1881 stand. Ich nahm es für ein gutes Omen, war es aber nicht, weil letztlich der Verlag dort ins Totenbett kam.

Ich dachte zu der Zeit, ich könnte den Verlag von einem kleinen zu einem mittleren hochbringen. Weil die Thematik, die wir hatten, auf großes Interesse in der Öffentlichkeit stieß. Wir hatten die besten Rezensionen, aber die Bücher wurden trotzdem nicht gekauft. Finanziell ging es uns nicht so gut. Wir hatten zwar eine strahlende Wirkung, die sich aber nie in Gold und Geld umsetzte.

Ich hatte angefangen, über unsere Verhältnisse hinaus, das Programm aufzustocken: statt bisher 10 Bücher habe ich 20 gemacht. Das hat den Verlag völlig überfordert. In der Agnesstraße waren wir zwei Leute, hier in der Türkenstraße in kürzester Zeit 19. Ich habe damals den Kongress mit den Dalai Lama und Carl Friedrich von Weizsäcker organisiert. Es war ein großes Spiel, ich habe alles auf eine Karte gesetzt und gewußt: wenn jetzt keine starke Resonanz kommt, haben wir keine Chance mehr. In dem Sinn habe ich das Spiel verloren. Wir waren einfach zu früh dran.

Aber der Konkurs war milde: die Autoren konnten zum Teil aus der Masse ausbezahlt werden. Im Grunde hatte der Verlag damit auch seine Schuldigkeit getan. Er hatte seine Initiationsfunktion sowieso schon verloren.

Nach diesem Konkurs konnte ich auch kein richtiges Programm mehr stricken. Ich wusste nicht mehr, wo’s langging. Mir fiel die Sehnsucht der Türkenstraßler ein: immer etwas mehr zu wollen als zu können.

Dann die daraus resultierende Melancholie als Krankheit der Straße. Stehengeblieben sein, sich eingerichtet haben. Wie es noch Buchhandlungen und Kleinverlage gibt, die übriggeblieben sind und alle so einen kleinbürgerlichen Mief ausstrahlen mit ihren Restposten aus einer als ideal und heroisch empfundenen Vergangenheit. Wo noch Metaphern gehegt werden, die nie für eine Hinterstube gedacht waren, jetzt aber dort gelandet sind. Deshalb wirken sie besonders skurril.

Es war wichtig, dass ich mich dann zurückgezogen habe, um ohne Druck, etwas veröffentlichen zu müssen, mich mit der Welt, aus der ich herkam und die mich motiviert hat zu beschäftigen. Um tiefer in die Dinge hineinzuschauen und zu fragen: Wie komme ich da heraus? Welches sind Bilder und Motive, die aufs >andere Ufer< verweisen?

Ich strebe nach dem Anderen. Ich fühle mich immer noch als Revolutionär (lacht), wenn auch mit anderen Mitteln, anderen Methoden. Ich habe immer noch die Hoffnung, ja die Gewissheit, dass sich was tut.

Ich glaube noch an das Wunder. Das Wunder war immer sehr wichtig für mich. Ich habe das Wunder immer sehr gern gemocht. Für mich war auch die linke Revolution mit dem Begriff >Wunder< verbunden.

Das begegnet mir im Leben partiell immer wieder, dieses Einbrechen einer anderen Dimension.

Das erhält mich am Leben wie ein Elixier, das hält mich innerlich jung. Ich mag es einfach nicht, mich abzufinden.

Zwei große Themen hat die Linke sträflich vernachlässigt: die Natur und den Mythos.

Die Natur war für uns Linke, wie auch für jeden Christen, ein ganz normaler Ort der Ausbeutung. Dabei war Naturliebe immer ein Bestandteil meiner Lebensgeschichte. Bis fünf war ich in Kärnten, am Millstätter See, bis neun in der Eifel, bis wir nach Köln zogen. Als Kind war ich immer zusammen mit einer Schlange und einem Huhn und hab’ aus demselben Topf mit ihnen gegessen. Nur das Schwein fehlte da noch laut Buddhismus. (lacht) Das gab es alles bei den Linken nicht. Das war zwar nicht tabu, aber man hat darüber gelacht. Auch die Anarchisten. Während es Naturliebe bei den Konservativen sehr wohl gab, was ich immer mit einem gewissen Neid betrachtet habe. Und mit Freude gesehen habe, dass es sie bei den Grünen wieder gibt.

Zum Mythos: Das Leugnen des Mythos war das Problem der gesamten Linken. Das hat Ernst Bloch als einziger erkannt. Die Hinwendung zum Mythos ist schon seine Überwindung. Man geht in einen leeren Raum und kommt zurück und schafft sich einen neuen Mythos, weil ohne Bilder der Mensch nicht leben kann. Die Frage ist nur: welche Bilder bestimmen das Bewusstsein der Gesellschaft? Seit dem 4. Jahrhundert nach Christus die Apokalypse des Johannes von Patmos, der die Lösung von Konflikten in der totalen Verteufelung und Vernichtung des Gegners sieht. In der Dualität, nicht in der Überwindung der Dualität.

Seit 1968 spielte die Gewaltdiskussion innerhalb der Linken eine große Rolle. Gewalt gegen Sachen habe ich immer unterstützt, keine Frage, dass militante Demonstrationen nötig waren. Was war eine Fensterscheibe gegen das Besprühen der vietnamesischen Wälder und Dörfer mit Agent Orange? Gewalt gegen Personen, das war ein Thema, wo ich mich nicht entschieden hatte, das bis 1976 in der offenen Diskussion blieb. Bis es sich von selber erledigte.

Anfang der 70er wurde uns ein Manuskript angeboten: Bommi Baumanns >So fing es an<, das sich wesentlich mit dem Thema Gewalt beschäftigte, die Gewalt der RAF, und das deshalb so glaubhaft war, weil der junge Arbeiter alle Phasen selbst mitdurchlaufen hatte und zunächst sehr begeistert vom bewaffneten Kampf war. Zum Schluss kommt er jedoch zur Überzeugung, dass Gewalt nach außen nichts bringt, weil sie sich schließlich nach innen wendet, auf die Beteiligten zurückschlägt, zu einer völligen Versteinerung der Herzen und einer Aggressivität gegeneinander führt. Im letzten Kapitel stellt er gegen die Gewalt die Liebe. Also eine grundsätzliche Absage an die Gewalt.

Es gab langwierige Diskussionen im Verlag, ob man das Buch überhaupt machen solle, weil ein Teil der Genossen ja bereits im Gefängnis saß, und ob man ihnen mit so einem Buch nicht in den Rücken fallen würde. Leuten, die man als Idealisten geschätzt hatte, wie die Ensslin oder die Ulrike Meinhof, wenn uns auch ihre Aktionen nicht sinnvoll erschienen und wir sie nicht unterstützten.

Wir waren noch mitten in den Diskussionen, als eine Abordnung von RAF-Unterstützern aus Berlin kam und sich einmischte. Wir redeten und redeten und redeten. Es war Mitternacht vorbei, als einer von denen sagte: >Jetzt ist aber Schluss!< und einen Revolver auf den Tisch warf. >Wenn ihr das Buch raus bringt, knallen wir euch ab!<

In dem Augenblick wurde mir klar, dass wir das Buch rausbringen mussten. Ich hatte keine Angst vor ihnen, aber für mich war damit die Diskussion zu Ende. Ich gab das Buch am nächsten Tag in Auftrag.

Und obwohl von Heinrich Böll und dem Innenministerium empfohlen, wurde es von der Bayerischen Staatsanwaltschaft verboten. 1.000 Exemplare waren aber schon verkauft. Das führte zu einer Kampagne weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus, bis wir 350 Herausgeber gefunden hatten: Sartre war dabei, Simone de Beauvoir, ein Mitglied des englischen Oberhauses, und viele bekannte Schriftsteller und Organisationen. Die Ausgabe erschien dann nicht mehr unter unserem Namen, sie wurde in Frankfurt ausgeliefert unter den wohlwollenden Blicken der Frankfurter Staatsanwaltschaft. 80.000 Exemplare haben wir davon verkauft.

Dieser Baumann war für mich die Person, die letztlich dieser Bewegung den Garaus gemacht hat. Das konnte kein Intellektueller, die verhielten sich überhaupt ganz abstrakt zu den RAF-Leuten. Das konnte nur ein Arbeiter, der seine Finger in die Wunde legt: dass nämlich Gewalt auf die zurückwirkt, die sie anwenden und ihre Seelen verformt. Nach Bommi Baumann war das Gewaltproblem für mich gelöst. Während seiner Untergrundzeit hat er in einem Film mitgespielt, der in Italien gedreht wurde und keiner hat es gemerkt, hat ihn erkannt. Später musste er seine Strafe absitzen, wurde danach zum gerngesehenen Gast in diversen Fernsehshows und hat heute eine Kneipe in Berlin. Er ist immer noch Mitglied der Subkultur, aber nicht der aggressiven. Ein pazifistischer Punk, würde ich sagen.

Das ARRI am Ende der Straße mit seinen vielen Jungfilmern hat sich in der Zeit wesentlich aus der Emotionswelt der Türkenstraße gespeist. Aus diesem Nachtmilieu, in dem die Aktionen entstanden. Nicht, dass es hier speziell ein Terroristenmilieu gegeben hätte, es war eine subkulturelle Mischung von allem Möglichen. Man kam nicht her, um terroristische Aktivitäten zu planen, sondern um Leute zu treffen, zu reden, in einer W.G. zu übernachten.

Diese Stimmung hat die Trotha in ihren Filmen eingefangen, der Werner Herzog die Sehnsucht nach Exotismus und der Faßbinder die Wut der Selbstzerstörung. Themen, die alle mit der Türkenstraße zu tun haben. Die wir viel emotionaler ausgetragen haben als die Jungfilmer selber, hatte mir der Schlöndorff bestätigt. Unsere Seelensubstanz wurde von ihnen künstlerisch verarbeitet, wir waren sozusagen die prima materia, aus der die Alchimisten von ARRI ihre Filme machten.

Das hatte durchaus einen vampiresken Zug, diese direkte Verarbeitung von Themen und Menschen.

Ganz am Anfang gab’s Beziehungen zu >Libresso<, dann kaum noch: man ging sich aus dem Weg. Wir hielten sie mit ihrem literarischen Zirkel für völlig antiquiert und mit ihren Beziehungen zur DDR direkt für konterrevolutionär. Sie machten ihre offiziellen Besuche in der DDR und wenn wir rüberfuhren, besuchten wir die Leute im Untergrund, die Anarchoiden sozusagen, die später die wichtige Rolle bei der Vereinigung spielten.

Es gab eine Phase, wo wir uns intensiv mit Marx beschäftigten, aber nicht wie sie mit dem politisch-ökonomischen, eher mit dem philosophischen. Der Marx der >Entfremdung<, das war der, der uns interessierte, der animierend für unsere Aktionen war. Das Bewusstsein, nicht die materielle Seite. Das unterschied uns von >Libresso< und der DKP.

Wir wollten Zwänge ablegen, Freiheit haben, um uns bewusstseinsmäßig weiterentwickeln zu können. Dann kamen die Einflüsse der Hippie-Bewegung und der Rockmusik dazu, die Aktionen der Gruppe >Spur< mit Dieter Kunzelmann, die politischen Happenings. Es gab dauernd Überschneidungen zwischen moderner Kunst und politischen Aktionen durch die Happenings – das alles gab es bei den> Libresso<- Leuten nicht. Sie waren irgendwie >alt<, während wir uns >jung< fühlten.

Deshalb hörte wohl auch die Türkenstraße für uns vor dem >Libresso< auf. Drei Liebesbeziehungen verbinden mich mit der Türkenstraße, vielleicht auch vier.

Mit der Gisela und dem Verlag bin ich hierher gezogen. Unsere Beziehung ging aber in den frühen 70er Jahren auseinander. Diesen Bruch habe ich in der Türkenstraße verarbeitet. Es hatte eine fürchterliche Eifersuchtsszene vor der >Engelsburg< gegeben, die mich fast zum Zusammenbruch trieb. Ganz sicher aber ins Nachtleben.

Über die Jahre hat sich dann die Beziehung langsam abgebaut, weil wir uns ja tagtäglich im Verlag noch sahen, Projekte besprechen und realisieren mussten. Weil der Verlag so eine wichtige Rolle in der Linken und der Subkultur spielte, wollte keiner von uns den Verlag freigeben für den anderen.

Im >Stop In< traf ich die Elisabeth. Sie hat mich herausgeholt aus dieser Kultur der Verzweiflung, dieser Akkumulation von Leuten mit Beziehungsschwierigkeiten.

Mit ihr konnte ich eine neue Begegnung gestalten, die auch zu einem Kind geführt hat. Wir waren beide Kinder dieses Milieus, die Elisabeth und ich, beide von der Sehnsucht beseelt, etwas zu verwirklichen, zu etwas anderem durchzubrechen. Zur Revolution (lacht) oder dazu, ein wirklicher Kulturträger zu werden. Wir haben es nicht geschafft. Die Beziehung zu ihr trägt den Stempel der Melancholie.

Es war schon seltsam: obwohl ich in aller Munde war, hatte ich nicht die Anerkennung der Stadt. Ich habe nie eine Subvention bekommen oder einen Platz für einen Auftritt.

Wir galten als gefährlich. Die Gefahr waren die Inhalte unserer Bücher. Und dass wir uns am Rande des bewaffneten Kampfes bewegten, das allein war Gefahr genug.

Die Gruppen, die wir vertraten, waren ja am Anfang geächtet: bewaffnete Befreiungsbewegungen. Und die Milieus, die wir repräsentierten, auch: Gastarbeiter, Dritte-Welt-Gruppen, Homosexuelle, emanzipierte Frauen. Sie alle galten in der starren Bundesrepublik als Gefahr. Wir haben den Kampf zwischen ihnen und der Gesellschaft ausgetragen, wir waren de facto der Schlüssel, der ihnen die Türen in die Gesellschaft öffnete. Wir haben sie eingeschleust. Wie den Rosa von Praunheim.

Meine spirituelle Entwicklung habe ich mit Christiane Thurn vollzogen, der Gräfin aus dem österreichischen Wald viertel. Sie kam einmal in den Verlag. Ich sah sie und sie repräsentierte so ideal das Bild, das ich mir in meiner Jugend von einer Frau gemacht hatte. Sie hatte Charaktereigenschaften, die mich bis ins Tiefste fasziniert haben: Politisch war sie links, sie war Französin – ich frankophil- sie war Jüdin – ich philosemitisch – sie war adelig – ich hatte schon immer ein Faible für Außergewöhnliches – sie war Schriftstellerin, eine in Frankreich recht bekannte und sie war extrem schön.

Mit ihr bin ich in einen Rausch hineingeraten.

Ich entsinne mich an eine Szene im Gericht. Wegen Bommi Baumann musste ich fünfmal vor den Kadi. Christiane und ich saßen auf der Anklagebank. Ich habe mich um den Prozess kaum gekümmert, weder um den Staatsanwalt noch um die versammelte Linke. Ich habe mit Christiane geflirtet, was sowohl den Staatsanwalt in Rage brachte als auch die Linke. Als der Staatsanwalt zum Schluss eine hohe Strafe forderte und sie auch damit begründete, dass er von meiner >asozialen Arroganz< sprach, da hat die Linke geklatscht. Da gab es einen Konsens zwischen beiden.

Ich war überhaupt eine extreme Enttäuschung für die Linke. Durch den Bommi-Baumann-Fall bin ich zu einer Art Verlagsheroen aufgestiegen, zu einer Integrationsfigur. Da sammelten sich um den Verlag Leute von der FDP über die DKP, Frauengruppen, Linke und Anarchisten – die größte Gruppierung vor der Friedensbewegung. Die sich für die Veröffentlichung des Baumannbuches und gegen den Paragraphen 88 a, den Gewaltparagraphen, den sie auf das Buch angewendet hatten, engagierten. Das war 1976 und just in diesem Augenblick vollzog sich bei mir die Wende zur spirituellen Verlagspolitik hin. Man hat es mir sehr übel genommen.

Ich habe es nicht als Bruch gesehen, sondern als neue Ausrichtung des Verlages. Ich habe versucht, es zu erklären, aber ich fand auf einmal keine offenen Ohren mehr. Da sind viele Enttäuschungen geblieben, Wunden, die heute noch nicht geheilt sind.

Ich weiß es von Christine Dombrowsky, die unser Archiv betreut: wenn sie Menschen aus der Zeit anspricht, ob sie noch Beiträge hätten fürs Archiv, wird sie oft schroff zurückgewiesen: ich hätte schließlich den Sozialismus verraten.

Obwohl das ganz falsch ist. Ich habe das politische Engagement ja nicht aufgekündigt, ich habe nur versucht, es mit dem Spirituellen zu koppeln. Ich habe zum Beispiel Bücher über den alternativen Nobelpreis herausgebracht: ich habe weiter engagierte Politik gemacht. Aber wer diesen Schritt nicht ging, wer stehen blieb, ist leicht auf die Verleumdungskampagne hereingefallen. Ich als Verräter! Das Syndrom konnte sich nur entwickeln, weil für viele der Verlag eine Heimat war. Der so bleiben sollte, wie er war.

1976/77 suchte ich eine neue Identität für den Verlag: Trikont allein reichte mir nicht mehr. Da kam ich auf >Dianus< mit seinen verschiedenen Bedeutungen. Janus, der Gott des Anfangs, der dem Januar seinen Namen gab, der Gott mit den zwei Gesichtern. Der alte italische Gott, der für die Römer auch das Bild des Paradieses darstellte, aber eines sinnlichen Paradieses hier auf Erden. Oder Dianus als Mann der Diana …«

Herbert Röttgen


Hella Schlumberger, Türkenstraße. Vorstadt und Hinterhof. Eine Chronik erzählt, München 1998, 517 ff.