Materialien 1967
Das Begräbnis des alten Staatsmannes
Äxte & Eichen
Seht her, da kommen sie und tragen einen Sarg durch die Straßen, darin liegt der alte Staatsmann. Warum schwankt dieser Sarg? Sein Leichnam rollt und schlingert, es ist deutlich zu hören, sein Kopf wackelt hin und her auf schwarzem Kissen und schlägt gegen die Wände. Die Orden haben sie ihm auf den Sarg gelegt, oben drauf, die ganzen Medaillen, auf Samt; werden jetzt feucht vom Regen.
Sie haben an den Trommeln die Felle locker geschraubt, daher klingen die Schläge so dumpf.
Gleichschritt zum Trauermarsch. Immer der gleiche Trauermarsch. Seit Stunden marschieren die Soldaten durch den Regen, und es ist immer der gleiche Trauermarsch.
Die Fahne ist auf den Sarg geklatscht. Soldaten tragen rechts, tragen links, jeder das Ohr am Sarg, als ob sie hineinhorchen wollten, was der da drin noch zu sagen hat, der alte Staatsmann. Hat aber nichts mehr zu sagen, der alte Staatsmann. Wiegt nicht der Leichnam leicht? Nur der Sarg lastet schwer, mit Bronze beschlagen.
Hinter dem Sarg, da seht ihr sie schlurfen, all die anderen Staatsmänner, die ebenso verdienten, zittrige Greise mit Brillen, Schals und Stöcken; kurzsichtig tasten sie mit den Füßen voran. Gebeugt sind die Körper – jawohl, die Last der Verantwortung. Steil gekrümmt sind die Körper – gewiss, man trägt sie mit Würde. Die Kirche muss doch bald kommen, darin er bestattet werden soll, der alte Staatsmann. Es ist jetzt Viertel vor Elf, und die Kirche muss kommen.
Ja, ja, da gehen sie also nun alle hinter dem Sarg des alten Staatsmanns. Sie alle selbst alte Staatsmänner hinter dem Sarg eines alten Staatsmanns. Freunde des alten Staatsmanns, Feinde des alten Staatsmanns – ist gleich, sie alle kannte er gut, der alte Staatsmann, und ihn haben sie gut gekannt, den alten Staatsmann. Hat schon viel miterlebt, der alte Staatsmann. Gutes und Schlechtes hat er erlebt in seinem Staatsamt. Gutes und Schlechtes vollbrachte er selbst in seinem Staatsamt. Mehr Schlechtes als Gutes freilich – ja, alter Staatsmann. Denn Gutes und Schlechtes – es galt dir gleich, alter Staatsmann. War dann dein Gutes Schlechtes – wie? – alter Staatsmann.
Ach, das Volk ist so undankbar, nicht wahr? – alter Staatsmann. Also: Du hattest Verdienste – ha, ha, alter Staatsmann!
Gleichwohl: Jetzt ist er tot, dieser alte Staatsmann. Dieser alte Staatsmann ist tot. Endlich.
Ist er denn wirklich tot, unser alter Staatsmann? Es hieß doch: im Geiste weiter unseres alten Staatsmanns …
Ja, doch, er lebt nicht mehr, ist tot, unser alter Staatsmann.
Bald liegt er tief in der Gruft, und Staatskränze welken auf dem Grab des alten Staatsmanns. Und auf der Tafel wird stehen: Dem alten Staatsmann.
Aber manchmal, da stand einer auf vom Tod, so ein alter Staatsmann. Und die Leiche kam zurück ins Parlament, in den Regierungspalast, und jeder erkannte ihn wieder, den alten Staatsmann. Doch man wagte ihn nicht ein zweites Mal zu beerdigen, den alten Staatsmann.
Darum haltet den Deckel fest, Soldaten! Haltet den Deckel fest des Sargs, darin liegt unser alter Staatsmann. Er ist tot, jawohl: tot wie ein Brett, unser alter Staatsmann.
Aber haltet den Deckel!
Nützt nichts! Er fiel unten durch, der Boden des Sargs war locker, schon läuft er mit im Zug, sein eigener Trauergast, und man lässt ihn, weil’s niemandem auffällt.
Der alte Staatsmann, gewiss, nur die Nase ist anders.
Der alte Staatsmann, gewiss, doch er trägt keine Brille.
Der neue Staatsmann – also etwas weniger Leiche.
Der Fortbestand des Staates ist gesichert. Morgen wird der Himmel erneut mit Zement ausgegossen. Gewitter haben sich bis spätestens abends acht Uhr zu entladen.
Wir aber beobachten die Risse im Zement, halten die Fernrohre im Anschlag auf die sich bildenden Milchstraßen, Wege, die eine ferne Welt versprechen, auch wenn sie jetzt noch sehr schmal sind.
Draußen aber wird man dann auf die Kuppel schreiben: Hier ruhen sämtliche Staatsmänner. Der Zement war ihr Grab.
kürbiskern. Literatur und Kritik 3/1967, 137 f.