Materialien 1967

Justiz-Rationalisierung?

Liebe Freunde!

Am 9. Januar 1968 folgte ich einer Ladung des KM Wittener zur Vernehmung in eigener Sache und erfuhr von ihm, dass ich angeblich Flugblätter verteilt haben sollte. Ein Zeuge, dessen Name mir bis dahin unbekannt war, hatte ausgesagt, ich hätte ihm auf offener Straße Flugblätter mit der Bitte übergeben, diese in seinem Betrieb, der Fa. Metzeler, zu verteilen. Ein weiterer Zeuge gab an, ich hätte ihm solche Flugblätter in seiner Wohnung übergeben. Ich erklärte, dass diese Behauptungen nicht zutreffend seien. Das Protokoll wurde in diesem Sinne erstellt.

Am 2. März 1968 wurde mir ein Strafbefehl des Amtsgerichts München, Abt. Strafgericht, zugestellt. „Nach einer Anzeige des Polizeipräsidiums München vom 21. Februar 1968 haben Sie an einem nicht mehr sicher feststellbaren Tag kurz vor Weihnachten 1967 Ihrem Bekannten Friedrich Riederer 65 Flugblätter mit dem Auftrag gegeben, diese auf dem Werksgelände der Fa. Metzeler AG in München zu verteilen. Die Flugblätter, als ‚Metzeler-Betriebs-Weckruf’ bezeichnet, enthielten, wie Ihnen bekannt war, kein Impressum. – Diese Handlung erfüllt den Tatbestand einer Übertretung nach § 7, 13 Abs. 1 lit. a Bayer. Pressegesetz. Beweismittel: Zeuge Riederer. Auf schriftlichen Antrag der Staatsanwaltschaft wird nach den angeführten Vorschriften und nach §§ 407 ff. der Strafprozessordnung gegen Sie eine Geldstrafe von 100.— DM festgesetzt. An Stelle der Geldstrafe tritt im Falle der Uneinbringlichkeit eine Haftstrafe zehn Tagen.“ Dieser Strafbefehl trägt das Aktenzeichen 43 Cs 340/68.

Ein sehr vereinfachtes Verfahren, zu einer Strafe zu kommen, finden Sie nicht auch? Zu einfach, sage ich. Die Aussage eines notorischen Wichtigmachers genügte in meinem Fall. Derselbe Riederer hatte mir von der Existenz der Flugblätter in seinem Betrieb, der Fa. Metzeler, erzählt und ich hatte ihm gegenüber diese Tatsache begrüßt und für gut geheißen. Als Zeuge bei der Polizei hatte Riederer auch angegeben, dass ich in meinem Viertel, dem Münchner Westend, als Sozialist bekannt sei.

Zur Person des Zeugen Fritz Riederer: Er ist Arbeiter der Fa. Metzeler, etwa Anfang 40 Jahre alt. Geschieden und Vater von fünf Kindern, geht ein Großteil seines Lohnes ab zum Unterhalt seiner Kinder, von denen zwei unehelich sind. Er erzählte mir im Zusammenhang mit den Flugblättern, dass die Werksleitung eine Prämie von DM 100.-ausgesetzt hätte, wenn Hinweise gemacht würden, die zur Feststellung der Person führen würden, die diese „kommunistischen Hetzflugblätter“ in Umlauf brächte.

In früherer Zeit habe ich diesen „Zeugen“ Riederer öfters bei mir zum Essen eingeladen gehabt, aus Mitleid, weil es ihm oft nicht möglich war, von dem wenigen Geld, das ihm von seinem Lohn verblieb, sich sattzuessen.

Was war ausschlaggebend für die mir zuerkannte Strafe? Die fadenscheinige Aussage des Zeugen Riederer? Oder die von mir ohne weiteres zugestandene Tatsache, dass ich Sozialist bin und diese Flugblattaktion gutgeheißen habe? – Wie hoch lautet denn der Strafbefehl gegen Mitglieder der Bundesregierung, die den Völkermord in Vietnam durch die amerikanischen Imperialisten gutheißen?

Obwohl ich den Strafbefehl als unrecht ansehe, werde ich, auch wenn es mir in Anbetracht meiner finanziellen Lage schwer fällt, zahlen. Ich habe erkannt, dass diese Justiz eine Klassenjustiz ist, von der ich kein Recht für mich erlangen kann, weil ich im Gegensatz stehe zu jenen, die meine Klasse, die Arbeiterklasse, ausbeuten.

Helmuth Münch1
8 München 12
Tulbeckstraße 36/0

Eigendruck im Selbstverlag


Flugblattsammlung,Archiv der Münchner Arbeiterbewegung.

:::

1 August Kühn (25. September 1936 – 9. Februar 1996), der zuweilen auch unter dem Namen Rainer Zwing publiziert, heißt eigentlich Helmuth-Hans Münch. Zunächst arbeitet er als Optikerschleifer, dann als Journalist, kurzzeitiger Aufenthalt in Israel, schließlich Kabarettist, Arbeit in einer Speiseeisfirma und Angestellter einer Versicherung. Sein bekanntester Roman „Zeit zum Aufstehn“ (Frankfurt am Main 1975) wird 1978 für das Fernsehen verfilmt. Als dem DKP-Mitglied 1982 der Ernst-Hoferichter-Preis der Stadt München verliehen wird, weigert sich der 2. Bürgermeister Winfried Zehetmeier (CSU), den Preis Jörg Hube, Kurt Seeberger und August Kühn persönlich zu überreichen, und sagt seine Teilnahme an der Verleihung ab. Heute ist in München eine Straße nach August Kühn benannt.