Materialien 1967

Politische Prozesse

Urteile Münchner Gerichte gegen Demonstranten, chronologisch nach Vorfällen geordnet

Anmerkung zu den in der folgenden Zusammenstellung gebrauchten Begriffen „Einzelstrafe“ – „Gesamtstrafe“:

Wenn die Strafe als „Einzelstrafe“ bezeichnet ist, so bedeutet das, dass in dem betreffenden Urteil außer der Teilnahme an dem Vorgang des betreffenden Abschnitts gleichzeitig auch noch die Teilnahme an anderen Vorgängen abgeurteilt wurde. Nach § 74 I des Strafgesetzbuches (StGB) werden in einem solchen Fall zwar für jede einzelne Tat eine Einzelstrafe ausgeworfen, diese Einzelstrafen aber im Urteil nicht zusammengezählt, sondern die schwerste Einzelstrafe wird lediglich erhöht. Dabei darf nach § 74 III StPO das Maß der Gesamtstrafe den Gesamtbetrag der verwirkten Einzelstrafen nicht erreichen.

Wenn diese Einzelstrafen deshalb auch nicht als solche vollstreckt werden können, so ergibt sich doch aus ihrer Höhe, wie das betreffende Gericht die Tat rechtlich beurteilt, da diese Einzelstrafe als Endstrafe verhängt worden wäre, wenn nur diese Tat abzuurteilen gewesen wäre.

Zu dem Begriff „Tateinheit“
Von Tateinheit spricht man, wenn ein und dieselbe Handlung verschiedene Straftatbestände er-
füllt. Nach § 73 StGB kommt bei einer solchen Tateinheit nur dasjenige Gesetz, das die schwerste Strafe, und bei ungleichen Strafarten (z.B. Gefängnis und Zuchthaus) dasjenige Gesetz, das die schwerste Strafart androht, zur Anwendung.

I. Vorfall am 26. März 1967, Ostersonntag (Vietnampredigt)

Sachverhalt
Als am 26. März 1967 während des Pontifikalamtes im Dom das Evangelium verlesen war und Kardinal Döpfner sich anschickte, zu seiner Predigt ans Mikrophon zu treten, stieg der 39jährige Johann Steinbrecher auf die Kanzel und rief in die herrschende Stille: „In Vietnam ist noch Passionszeit. In Vietnam wird Christus durch Christen getötet. Die Friedensenzyklika des Heiligen Vaters in Ehren, aber in welch himmelschreiendem Widerspruch dazu steht doch die Tatsache, dass in Vietnam katholische Priester auf Seiten der Mörder stehen und tüchtig mitmorden? Und nicht genug damit – amerikanische Priester spenden den Mördern auch noch Segen und Sakra-
mente. Woher nehmen sie denn den Auftrag dazu? Christus hat doch gesagt ,Gehet hin und lehret alle Völker’, nicht aber ,Gehet hin und mordet alle Völker’.“

Während des letzten Satzes zog ihn ein Kirchenordner von der Kanzel herunter und übergab ihn einem Kriminalbeamten, der ihn zum Polizeipräsidium brachte. Die Predigt von Kardinal Döpfner verzögerte sich dadurch um insgesamt zwei Minuten.

Noch in der Kirche kam plötzlich ein Kirchenbesucher auf Steinbrecher zu, beschimpfte ihn mit „Elender Kommunist“ und „Elender Hund“ und drückte ihm dabei mit beiden Händen mehrmals so die Gurgel zu, dass er ärztlich behandelt werden musste.

Obwohl nach Aussage von Steinbrecher dieser Mann zusammen mit anderen freiwillig mit zum Polizeipräsidium kam, um sich als Zeuge zur Verfügung zu stellen und dabei auch seinen Namen und Adresse angab, hat die Polizei nur höchst oberflächliche Ermittlungen angestellt, um Stein-
brecher dann auf den Privatklageweg zu verweisen. Dieses Verhalten der zuständigen Beamten erzielte den wohl gewünschten Effekt: Steinbrecher gab angesichts der Schwierigkeiten einer privaten Ermittlungstätigkeit den Gedanken an eine Strafverfolgung des Täters auf.

Auch einem polizei- und obrigkeitsfreundlichen Betrachter drängen sich hierzu zwei Erkenntnisse auf: 1. Die zweiminütige Verzögerung der Predigt eines Kardinals ist offensichtlich nach Ansicht der zuständigen Beamten ungleich strafwürdiger als eine gefährliche Körperverletzung. 2. Wenn Studenten gegen den Krieg in Vietnam oder gegen die Militärdiktatur in Griechenland protestieren und dabei mit Sprühdosen Parolen auf Mauern oder Bürgersteigen anbringen, so hat ein Staats-
anwalt (StA Heindl im Prozess gegen Schmitz-Bender vom 7. Juni 1968, s.u.V.) keine Bedenken, dies als „Gesinnungsterror“ zu bezeichnen. Geht aber jemand, dem dies nicht passt, einem solchen Demonstranten an die Gurgel, so wird das öffentliche Interesse an einer Strafverfolgung verneint. Derselbe Staatsanwalt betonte in seinem Plädoyer, ein bestimmtes Strafmaß dürfe nicht unter-
schritten werden, um eine nötige „Abschreckung“ zu erreichen. Dass aber auf der anderen Seite durch das Unterlassen einer erschöpfenden Ermittlungstätigkeit Gesinnungsgenossen des rabiaten Kirchenbesuchers geradezu ermuntert werden, auch in Zukunft ungestraft Selbstjustiz auszuüben, dürfte wohl nicht ganz dem Ideal der Gerechtigkeit entsprechen.

Steinbrecher,
verurteilt wegen Störung des Gottesdienstes, § 167 anstelle einer Gefängnisstrafe von 10 Tagen zu einer Geldstrafe von 200,- DM.

Urteil vom 20. Mai 1968, AGRat Dr. Meyer-Gossner, EStA Jung, RA Ralle.

Zu dem Tatbestand des § 167 wurde in der mündlichen Urteilsbegründung, die schriftliche liegt uns noch nicht vor, ausgeführt, die von § 167 geforderte Störung des Gottesdienstes liege darin, dass der ordnungsgemäße Ablauf insofern gestört gewesen wäre, als private Reden im ordentlichen Ablauf nicht zugelassen seien. Die Gottesdienstbesucher hätten ein berechtigtes Interesse daran, dass der Gottesdienst nicht gestört werde.

Rechtfertigungsgründe:

AGR Dr. Meyer-Gossner: „Was würden Sie tun, wenn jeder mit seinen kleinen Problemen (!!) da ankäme und in der Kirche predigte?“

In der mündlichen Urteilsbegründung sagte er, ein Rechtfertigungsgrund sei nicht gegeben, da der Angeklagte keine Anstalten gemacht habe, auf ordentlichem Weg in der Kirche tätig zu werden.

Strafzumessungsgründe:

AGR Dr. Meyer-Gossner: Als strafmildernd sehe das Gericht es an, dass der Angeklagte aus lauteren Motiven gehandelt habe. Als strafschärfend sei jedoch das „Geltungsbedürfnis“ des Angeklagten zu berücksichtigen.

Tatsächlich hatte Steinbrecher im Verlauf des Gespräches mit dem Vorsitzenden auf die Frage, wie er auf die Idee gekommen wäre, im Dom eine Predigt zu halten, geantwortet: „Ich wollte immer schon gern eine Predigt halten, bin aber nie dazu gekommen.“ Aus den weiteren Ausführungen Steinbrechers war jedoch nach der Ansicht einer Zuhörerin eindeutig zu entnehmen, dass S., der dem Beispiel Christus nacheifert, nicht aus Geltungsbedürfnis „immer schon gern eine Predigt gehalten hätte“, sondern weil er glaubte, auf diesem Weg eine größere Anzahl von Menschen auf das wahre Christentum hinweisen zu können.

II. Vorfall am 8. Mai 1967 (amerikanisches Konsula

Sachverhalt:
Am 8. Mai 1967 wurde von der „Demokratischen Aktion 8. Mai“ im Löwenbräukeller eine Protestveranstaltung durchgeführt. Im Anschluss an diese Kundgebung formierte sich ein Demonstrationszug von etwa 800 bis 1.000 Personen, um gegen den Krieg in Vietnam zu protestieren. Der Zug nahm seinen Weg über die Briennerstraße zum Prinz-Carl-Palais (bis
hierher war die Demonstration vom Amt für öffentliche Ordnung genehmigt worden) und
von dort in Richtung auf das amerikanische Generalkonsulat in der Königinstraße. Dieses war durch ein starkes Polizeiaufgebot abgeriegelt worden. Nach den Aussagen der Polizei sind dann von den Demonstranten mitgebrachte Eier, Farbbeutel, Mehltüten und Tintengläser gegen die Polizeibeamten geworfen worden.

Etwa gegen 23.14 Uhr gelangte Koderer in einer Gruppe von 40 bis 50 Demonstranten unter Umgehung der polizeilichen Absperrung über die Prinzregentenstraße zur Von-der-Tann-Straße. An der Einmündung der Königinstraße wurde die Gruppe von Polizisten am Weitergehen gehindert.

Gegen 23.30 Uhr setzten sich etwa 15 Demonstranten auf die nördliche Fahrbahnhälfte der Von-
der-Tann-Straße, um den Verkehr aufzuhalten und damit auf ihre Aktion gegen den Krieg in Vietnam aufmerksam zu machen. Die Polizei forderte daraufhin mehrmals mit Lautsprechern zum Verlassen der Straße auf. Als der fließende Verkehr auf dieser Fahrbahn durch die Demonstranten zum Erliegen gekommen war und die Polizei deshalb begann, den Verkehr auf die andere Fahr-
bahn umzuleiten, wechselten die Demonstranten auf die andere Fahrbahnseite über. Gegen 23.35 Uhr wurde die Straße von der Polizei geräumt. Dabei wurden mehrere Demonstranten festgenom-
men.

1. Koderer, verurteilt wegen Landfriedensbruch, § 125 I, in Tateinheit mit Auflauf, § 116 zu einer Einzelstrafe von 5 Monaten. Urteil vom 18. April 1968. AGRat Hofmann, EStA Heindl, RA Wagner.

2. Schlemper, verurteilt wegen Landfriedensbruch, § 125, in Tateinheit mit Auflauf, § 116 zu einer Einzelstrafe von 3 Monaten. Urteil vom 21. Juni 1968. AGRat Dr. Hummel, Ger.-Ass. Glaser, RA Kittl.

3. Zehringer, verurteilt zu 3 Monaten mit Bewährung (m.B.)

4. Bokelmann, verurteilt zu 3 Monaten m.B.

5. Kohlhammer, verurteilt zu 4 Monaten m.B.

6. Tewes, verurteilt zu 3 Wochenendarresten.

Über die Verurteilungen 3 bis 6 liegen uns zur Zeit keine weiteren Unterlagen vor.

III. Vorfälle am 17. Oktober 1967 (Verteilen von Flugblättern in Straßenbahnen)

Sachverhalt:
Am Nachmittag des 17. Oktober 1967 fuhren Studenten mehrmals mit der Straßenbahn
in München jeweils eine Station und verteilten dort Flugblätter gegen die Erhöhung der Straßenbahntarife, ohne jedesmal eine Straßenbahnkarte zu lösen.

1. Wetter, verurteilt wegen Beförderungserschleichung, § 265 a, zu einer Einzelstrafe von
2 Wochen.
Urteil vom 22. Mai 1968, AGRätin Dr. Glum, EStA Schmidt, RA Kittl.

2. Bachmayer, verurteilt wegen Beförderungserschleichung, § 265 a, zu einer Geldstrafe von
30,- DM.
Urteil vom 2. Mai 1968. AGRat Urban …


Kürbiskern. Literatur und Kritik 4/1968, 685 ff.