Materialien 1967

Auskunft über den Protest

Wir kommen in einen Saal, reden über Vietnam, oder hören zu, wie über Vietnam geredet wird, der hat ein Gedicht gemacht, einer sucht sich mit Prosa zu helfen, nachher wird nochdiskutiert, dann hat sich’s wieder. Bis zum nächsten Mal. Wer sich an einer solchen Versammlung beteiligt, der kennt die Urteile, die darüber im Schwange sind. Eine sehr gemischte Umwelt ist sich über uns einig. Enge Freunde und hochweit entfernte Gegner haben uns eintönig genug mitgeteilt, dass wir nichts ausrichten werden mit unserem Protest. Und eins ist sogar wahr: es dürfte uns schwer fal-
len, eine Wirkung oder gar einen Erfolg zu melden. Warum bleiben wir also nicht doch lieber zu-
hause und schauen uns auf dem Bildschirm Bonner Schattenboxen an? Wenn es einer ganz gut meint, sagt er, wir wollten uns durch unsere wirkungslosen Proteste nur das Gefühl verschaffen, überhaupt etwas getan zu haben. Das heißt, wir tun das um unserer selbst willen. Jeder nur für sich. Es führt zwar zu nichts, die Amerikaner werden deswegen morgen nicht eine einzige Bombe weniger werfen, sie werden auch keine Sekunde länger zögern, in Thailand ein zweites Vietnam zu veranstalten, aber der Protestierer hat wenigstens seinen Protest abgeliefert, das Bier schmeckt besser und er hat wieder den richtigen Schlaf. So komisch und so traurig es ist: das Bier schmeckt mit und ohne Protest und der Schlaf richtet sich nicht nach Vietnam; das heißt, so eine richtige Erleichterung bringt es gar nicht, protestiert zu haben.

Es gibt kaum etwas, was so wenig zufrieden stellt wie der Besuch einer solchen Versammlung. Die meisten unter uns kennen dieses Gefühl: wir sind und bleiben unter uns. Und wer nicht unserer Ansicht ist über das, was in Vietnam passiert, der hat alteingesessene Gründe für seine Meinung, dem liefert die hilfswillige Parallel-Presse täglich die Nahrung zur Erhaltung seiner Meinung, die jenen Krieg nicht feiert, ihn aber für unbedingt notwendig hält. Und selbst wenn es uns allen ge-
lingt, dann und wann einen nur halb Betäubten dem Rechtfertigungsniesel der Parallel-Presse zu entziehen, was nützt das? McNamara ist doch offenbar durch keine menschliche Sprache erreich-
bar.

Protestieren wir also tatsächlich bloß, um uns ein ungefähres Gefühl zu verschaffen, das dann doch nicht zufrieden stellt? Sartre schrieb neulich einen Artikel mit der Überschrift: Ich fahre nicht nach Amerika; darin heißt es über frühere Erfahrungen: „Wir haben oft auf der Straße demonstriert … Das hat dazu gedient, den Algeriern zu zeigen, dass es immerhin eine französische Minderheit gab, die diesen Krieg als ungerecht betrachtete, aber geben wir doch zu, dass wir keine wirklichen Re-
sultate erzielt haben. Objektiv hat unsere Opposition nichts genützt.“

Trotzdem fuhr Sartre nicht nach Amerika. Es scheint ihm ganz selbstverständlich zu sein, dass ein berühmter Schriftsteller jetzt nicht nach Amerika fahren kann. Ja, es scheint ihm persönlich ganz unmöglich zu sein, jetzt dort hinzufahren. Ob das nun ein Resultat hat oder nicht, er kann nicht hinfahren. Er weiß zu genau, dass Amerika einen Krieg von anachronistischer Brutalität führt. Wer einen solchen Krieg durch sozusagen rein politische Überlegungen rechtfertigt, der betet einfach nach, was ihm von Dean Rusk plus Pentagon geliefert wird. Wer aber diese hochtrainierten Recht-
fertigungskunststücke nicht nachbeten kann, in dem wird sich von selbst ein Widerwille bilden. Er regt sich auf. Er fängt an, sich genauer zu informieren. Er hat nicht länger das Gefühl, er hätte, wenn er ein Springerblatt gelesen hat, schon die Zeitung gelesen. Es entsteht ein Zwang, alles überhaupt Erfahrbare zu erfahren. Und je mehr man von diesem Krieg erfährt, desto energischer wird der Widerwille gegen das Trio Mc-Namara-Johnson-Rusk. Und wenn sich dieser Widerwille seiner selbst bewusst wird, nötigt er zum Protest. Protest entsteht also nicht aus einem sonst ar-
beitslosen Gefühl; er ernährt sich von Fakten. Protest entsteht auch nicht aus intellektuellem Überdruss. Nicht, weil einer aus einheimischen Problemen lieber zu exotischen flieht. Etwa weil sich’s dort leichter humanitär schwärmen lässt. Auch Wirkungsabsichten sind zuerst kaum im Spiel. Die hilfswilligen Rechtfertiger dieses Krieges versuchen, den Protest einzuschüchtern mit dem Hinweis auf seine Wirkungslosigkeit, sie möchten ihm einreden eine Herkunft aus bloßer Empfindung. Das heißt: wir sollen lernen, uns und unsere Einsichten zu beherrschen, wenn die USA jetzt einen solchen notwendigen Krieg nach dem anderen führen werden. Wir sollen lernen, die ausgegebenen Rechtfertigungen zu akzeptieren. Sobald wir das tun, wird man uns freundlich aufnehmen in die Reihe der politisch Sachverständigen. Sobald wir den Rechtfertigungs-Jargon erlernt haben, wird man uns in politischen Redaktionen und Parteien ernst nehmen. Den Protest aber sollen wir überwinden wie eine Kinderkrankheit. Ein Zeichen der Unreife oder chronischer Weltfremdheit.

Meine Damen und Herren, was mich betrifft, ich habe mich in den letzten fünfzehn Jahren ver-
schiedene Male und aus verschiedenen politischen Anlässen bemüht, Widerwillen mit angebote-
nen Rechtfertigungen so frühzeitig zu unterdrücken, dass der Protest verhindert werden konnte. Ich habe viel von den angebotenen politischen Psychopharmaka geschluckt. Ich habe — zum Bei-spiel — die SPD ganz ernst genommen, habe mich ohne Zimperlichkeit eingeübt in ein Zeitalter amerikanischer Freiheitsverbreitung. Ich fand, es lebe sich angenehmer, wenn man sich nicht zu sehr sträubte. Aber seit Amerika in Vietnam seinen Menschenjagd-Krieg offen betreibt, seitdem spreche ich auf die Rechtfertigungsdrogen nicht mehr an. Was auch immer man mir erzählen mag über die Aussichtslosigkeit des Protests, ich habe ihn mir nicht ausgedacht, ich habe ihn nicht zu verantworten, er ist erzeugt vom kriegführenden Amerika und vom verhohlen zustimmenden Bonn. Für mich ist der Protest so notwendig geworden wie für die Kriegführenden ihr Krieg.

Martin Walser


Kursbuch 9 vom Juni 1967, Berlin, 178 ff.

Überraschung

Jahr: 1967
Bereich: Internationales

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