Materialien 1967
Rede vor Gericht
Herr Vorsitzender, Sie haben den Antrag des Staatsanwalts gehört. Wenn ich von meinem Recht Gebrauch mache, darauf zu antworten, dann muss ich den sogenannten Tatbestand allerdings in einem anderen Licht beleuchten als dieser. Es ist nämlich eine typisch rechtsformalistische Be-
trachtungsweise, wenn er meint, es stünde jedem der Weg zum Verwaltungsgericht offen, der mit dem Verbot einer Demonstration nicht einverstanden sei. Erstens kostet das Geld; zweitens, was das Schwerwiegendere ist, muss eine Demonstration nach dem Versammlungsgesetz bereits 48 Stunden vorher angemeldet werden, was bereits jede spontane Aktion verhindert; drittens hat ein Einspruch beim Verwaltungsgericht gegen schikanöse Auflagen oder gar ein Verbot keine aufschie-
bende Wirkung, so dass weitere kostbare Zeit verstreicht und insgesamt ein Effekt erreicht wird, der auf die Verhinderung und Unterdrückung politisch unliebsamer Demonstrationen hinausläuft. Man spricht soviel von der „Freiheit“, die gegen den „Osten“ verteidigt werden müsse; nimmt man aber in der Praxis diese Freiheit für sich in Anspruch, dann ist sofort von den „Grenzen der Frei-
heit“ die Rede, so dass man den Eindruck gewinnt, es sind in Wirklichkeit die „Grenzen der Frei-
heit“, die hier verteidigt werden sollen.
Und diese Grenzen sind sehr eng gezogen! Knapp vier Wochen nach der hier zur Verhandlung ste-
henden „Ketten-Aktion“ fand hier in München eine angemeldete Solidaritäts-Demonstration für Fritz Teufel statt. Sie wurde vom Amt für öffentliche Ordnung verboten. Begründung: Der Zug würde den Straßenverkehr in der ohnehin durch U-Bahn-Bau und Wochenendverkehr überlaste-
ten Innenstadt gefährden. In der Praxis der Behörden findet also das hohe Recht der Meinungs- und Versammlungsfreiheit seine Grenze in der Straßenverkehrsordnung!
Wenn es sich demnach bei dem Zug einer kleinen Gruppe in das Polizeipräsidium um eine „De-
monstration“ gehandelt hat, dann um eine Demonstration der Ohnmacht. Wie tief diese Ohnmacht des einzelnen Staatsbürgers in unserer Gesellschaft ist, wird erst so recht verständlich, wenn man die vereinigte Macht betrachtet, die ihm auf allen Gebieten des Lebens gegenübertritt:
In der Familie haben die Eltern die Macht;
in der Schule haben die Lehrer die Macht;
im Betrieb haben die Vorgesetzten die Macht;
auf der Straße hat die Polizei die Macht;
und im Gerichtssaal hat der Herr Vorsitzende die Macht,
die im Gerichtsverfassungsgesetz mit dem schönen Wort „Sitzungspolizei“ umschrieben wird und ihm ausdrücklich das Recht gibt, alle Personen zu bestrafen, die seinen Befehlen nicht gehorchen oder sich einer sonstigen „Ungebühr“ schuldig machen.
Alle diese Mächte sind für den einzelnen völlig unkontrollierbar; dagegen kontrollieren sie ihn und beherrschen tendenziell jeden Bereich seines Lebens. Diese Kontrolle von oben kennzeichnet letz-
ten Endes auch das politische Leben im engeren Sinn. Sogar Angehörige der Bonner Parteien spre-
chen heute stellenweise warnend von einer „Parteiendemokratie“, die faktisch eine Parteiendikta-
tur ist, wenn man bedenkt, dass nur 4 Prozent des Volkes in Parteien organisiert sind und von die-
sen 4 Prozent wiederum nur eine kleine Funktionärselite die sachlichen und personellen Entschei-
dungen trifft. Dafür darf dann das Volk alle vier Jahre zur Wahl gehen, abgerichtet wie der be-
rühmte Pawlowsche Hund, dessen Reflexe in diesem Fall von einer Wahlreklame konditioniert werden, die in jeder Beziehung dem Werbefeldzug einer Waschmittelfirma entspricht: es kommt nur noch darauf an, welcher Kandidat das stärkste Image als weißer Riese, welche Partei die größte politische „Waschkraft“ hat. Wie wenig Einfluss die Wähler tatsächlich auf die Gestaltung des poli-
tischen und gesellschaftlichen Lebens haben, hat nicht zuletzt auch die Beschwerdeinstanz des Bundestags unumwunden demonstriert: sie wies 1961 die Beschwerde eines Wählers, der sich „be-
trogen“ fühlte, mit dem Bemerken zurück, die Parteien seien nicht verpflichtet, ihre Wahlverspre-
chungen zu halten.
So steht auch die große Errungenschaft der bürgerlichen Revolution, die Gewaltenteilung, heute praktisch nur noch auf dem Papier. Erstens sind die Bürokratien dieser Gewalten bereits so stark miteinander verfilzt, dass sie für den einzelnen Staatsbürger nur noch wie eine einzige reibungslos funktionierende Staatsmaschinerie in Erscheinung treten. Zweitens hat nicht zuletzt auch dieser Prozess wieder bewiesen, dass sich die verschiedenen „Obrigkeiten“ in der Behandlung von Fällen, in denen Menschen auch nur ein Quentchen unserer sagenhaften Freiheit in Anspruch zu nehmen wagen, offenbar völlig einig sind: alle Fragen an Polizeizeugen nach den Hintergründen und inne-
ren Zusammenhängen des polizeilichen Vorgehens blieben unter Hinweis auf das „Dienstgeheim-
nis“, auf „polizeitaktische Erwägungen“ unbeantwortet oder wurden als „offensichtlich unerheb-
lich“ zurückgewiesen. So arbeiten sich Polizei und Justiz gegenseitig in die Hand.
Wenn man dann noch an die unkontrollierte Tätigkeit in- und ausländischer Geheimdienste auf deutschem Boden denkt, wenn man daran denkt, dass nach den Zahlen des Verfassungsschutzes auf 1.000 Einwohner wenigstens ein geheimer Spitzel kommt – eine Zahl, die sich nur noch mit den Verhältnissen in Frankreich kurz vor Ausbruch der französischen Revolution vergleichen lässt -, dann wird klar, welche „Spielregeln“ gemeint sind, wenn man uns entgegenhält, wir hätten uns gefälligst an die Spielregeln zu halten – Spielregeln, die nicht wir geschaffen haben. Und an deren Einhaltung vor allem jene Kreise ein Interesse haben, die in ihrem Sprachrohr „Industriekurier“ ihre autokratischen Interessen unverhüllt mit dem Satz’ zum Ausdruck gebracht haben: „Demokra-tie ist im Betrieb genauso unmöglich wie in der Schule oder im Zuchthaus!“
Das also ist der gesellschaftliche Hintergrund, vor dem die friedliche Aktion einer kleinen Gruppe, die das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit für höher erachtet als das Versammlungs-
gesetz, gesehen werden muss. Solange diese autoritären Strukturen fortbestehen und solange die gesellschaftsbeherrschenden Mächte es verstehen, sie weiterhin im Einzelmenschen zu verankern, solange werden Demokratie und Freiheit nichts als leere Worte bleiben. Um was es hier geht, dafür nur ein kleines Beispiel. Ich war tief beeindruckt, als ich von einem Vorfall am Rande des Eich-
mann-Prozesses hörte — ein Vorfall übrigens, der von der sogenannten Öffentlichkeit gar nicht zur Kenntnis genommen, geschweige denn interpretiert worden ist. Im zitiere den französischen Psy-choanalytiker Béla Grunberger: „Als Eichmann der Aufzählung der ihm vorgeworfenen ungeheu-ren Verbrechen beiwohnte, war er unbewegt. Dies waren für ihn leere Worte ohne jeglichen Inhalt. Erst als der Präsident des Gerichts ihn mahnte, sich bei der Anrede zu erheben, brachte er verwirrt Entschuldigungen hervor, stotterte und errötete vor Beschämung. Diesmal, endlich, fühlte er sich schuldig. Denn hatte er nicht gegen die ihm im Rahmen seines Dressats eingepaukte Regel versto-ßen, Vorgesetzten gegenüber Respekt zu bezeugen?“ Dieses Beispiel bringt sehr gut die lebensbe-drohende Macht der Autorität zum Ausdruck, der wir uns von Kind auf an zu unterwerfen haben: in ihrem Namen kann man ruhigen Gewissens sogar Schreibtischmörder spielen und mit einem Federzug Tausende von Menschen ums Leben bringen – man weiß sich ja einig mit einer allmäch-tigen Autorität, deren Befehle und Anordnungen (siehe Gerichtsverfassungsgesetz!) man ausführt; das Gewissen regt sich erst, wenn man gegen derartige Anordnungen verstößt.
Wäre Eichmann ein Einzelfall, dann brauchte ich hier nicht von ihm zu sprechen. Dass er es nicht ist, zeigt ein zweites Beispiel. Nach dem Journal of Abnormal and Social Psychology wurde an der amerikanischen Yale-Universität vor einigen Jahren folgendes Experiment durchgeführt. Unter dem Vorwand, man wolle herausfinden, inwieweit sich die Gedächtnisleistung eines Erwachsenen durch körperliche Züchtigung steigern lasse, ließ man eine größere Anzahl von Versuchspersonen — Studenten, Arbeiter, Angestellte, Beamte — an einem fiktiven Experiment teilnehmen, das fol-gendermaßen aussah: vor den Augen der Versuchsperson wird ein Mensch auf den elektrischen Stuhl geschnallt. Die Versuchsperson nimmt im Nebenraum Platz und legt bei jedem Fehler, den der Mensch auf dem elektrischen Stuhl begeht, einen Schalthebel um, der diesen unter Strom setzt. Die Illusion des Vorgangs wird dadurch erhöht, dass die „Schmerzensschreie“ des Betreffenden zu hören sind und er bei 300 Volt gegen die Trennwand trommelt. Bei 375 Volt erscheint ein Warn-signal auf dem Schaltpult: „Gefahr! Schwere Schocks!“ Die letzten Hebel sind nur noch mit der Chiffre XXX bezeichnet. Natürlich stand der „elektrische Stuhl“ in Wirklichkeit nicht unter Strom. Natürlich wollte man gerade das Umgekehrte herausfinden: wieviel Menschen bereit sind, bedin-gungslos den Anordnungen einer Autorität zu folgen und dabei in Kauf zu nehmen, einen anderen Menschen zu töten. Das Ergebnis war erschreckend: 65 Prozent!
Wenn man dann daran denkt, dass das strategische Bomberkommando der USA — also jenes, das sich 24 Stunden am Tag mit Atomwaffen an Bord in der Luft befindet — seine Bedienungsmann-schaften gerade unter dem Gesichtspunkt auswählt, ob sie bereit sind, Befehlen von oben zu gehor-chen, ohne nach dem Sinn oder der Berechtigung zu fragen, dann kann einem nur angst und bange werden. Aber auch wenn diese Bomben niemals fallen, wirken die im Einzelmenschen verankerten autoritären Strukturen täglich auf alle zurück, die hierzulande die möglich und nötig gewordene größere Freiheit anstreben. Die Studenten von Berlin, von denen etliche schon wiederholt von auf-geputschten braven Bürgern, die sich im Einklang mit der staatlichen Autorität wissen, verprügelt worden sind, wissen jedenfalls ein Lied davon zu singen.
Worum geht es also? Betrachtet man diese lebensbedrohenden, freiheitsfeindlichen autoritären Kräfte, die die „Spielregeln“ unserer Gesellschaft bestimmen, dann nimmt sich ein Delikt wie der von uns begangene Verstoß gegen das Versammlungsgesetz geradezu erschreckend harmlos aus. Natürlich weiß ich, dass ein Gericht an die Gesetze gebunden ist. Unser Strafgesetzbuch stammt jedoch aus dem Jahre 1870, aus der Zeit des letzten deutschen Kaisers also, der noch keine Staatsbürger kannte, sondern nur Untertanen. Damit war auch die Unterdrückungsfunktion der Justiz eindeutig bestimmt. Nun, der Kaiser musste gehen, seine Justiz blieb bestehen. Wie die Niedersächsische Landeszentrale für Heimatdienst — eine Einrichtung der Bundesrepublik also — vor einigen Jahren zusammenstellte, wurden in der Weimarer Republik folgende Urteile gefällt hinsichtlich von
politischen Morden, begangen von der Rechten und der Linken:
Anzahl
rechts: 354
links: 22
Verurteilte Personen
rechts: 24
links: 38
Todesurteile
rechts: -
links: 10
Freigesprochene Mörder
rechts: 22
links: -
Durchschnittliche Haft pro Mord
rechts: 4 Monate
links: 15 Jahre
Dass diese Art von Justiz im Dritten Reich ihre Fortsetzung fand, darf ich wohl als gerichtsbekannt voraussetzen. Nach einer Schätzung von Historikern sind allein in den Jahren 1933 bis 1939 225.000 Personen zu insgesamt rund 600.000 Jahren Freiheitsstrafen verurteilt worden — nach Recht und Gesetz, versteht sich. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass auch Hitler damals ganz legal, also unter Einhaltung der Gesetze an die Macht kam.
Wie sieht es nun in der Bundesrepublik aus? …
(Gerichtsvorsitzender Dr. Hummel: Herr Angeklagter, Sie sind kein Jurist; ich halte Ihnen deshalb zugute, dass Sie die Grenzen nicht genau kennen, die einem Schlusswort gezogen sind, und muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie sich nur zu dem Tatbestand zu äußern haben, der Ihnen hier zur Last gelegt wird, und keinen politischen Vortrag halten dürfen, so interessant er auch im-
mer sein mag.)
… Herr Vorsitzender, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich halte Ihnen keinen „politischen Vor-
trag“; es käme mir gar nicht in den Sinn, das zu tun. Ich bin tatsächlich der Meinung, dass ich mich nur zu dem mir zur Last gelegten Tatbestand äußere, und dazu gehört, dass ich die Hintergründe, Zusammenhänge und Motive aufzeige, die zu seiner Interpretation wichtig sind. Aber wenn Ihnen das zu ungewöhnlich erscheint, will ich mich zum Schluss kurz fassen und lediglich ein Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf zitieren, das mir in diesem Zusammenhang als repräsentativ er-
scheint; nach diesem Urteil müssen auch offensichtlich sinnlose Weisungen von Polizisten befolgt werden, da einem gewöhnlichen Menschen kein Nachprüfungsrecht hinsichtlich polizeilicher An-
weisungen zustünde. Dieser Geist der heutigen Justiz ist es wohl, den der jetzige Justizminister Dr. Heinemann im Auge hatte, als er kürzlich in der Zeitschrift Recht und Politik schrieb (im zitiere nach der Münchner Abendzeitung), die Juristen in der Bundesrepublik seien zu konservativ; nicht wenige Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Verwaltungsbeamte huldigten der Auffassung, ihre Rolle im sozialen Ordnungsgefüge schreibe ihnen vor, stets für „Beharren und Bleiben“ einzu-
treten, so dass sie damit nötige gesellschaftliche Reformen verhindern würden; sie müssten sich aus der „Gefangenschaft restaurativen Denkens“ befreien.
Im möchte nun ausdrücklich davon absehen, einen Antrag auf Freispruch zu stellen. Das Gericht befindet sich auch so schon in keiner beneidenswerten Lage.
Folgen Sie dem Antrag des Staatsanwalts, dann bestätigen Sie damit zugleich meine kurze Analyse der Autoritätsstruktur dieser Gesellschaft, die an einer Entfaltung der Freiheit nicht interessiert ist.
Sprechen Sie mich dagegen frei, dann verstoßen Sie damit gegen die Interessen jener Kreise, die nichts so sehr wünschen wie gerade die Aufrechterhaltung dieses Status quo.
Im jedenfalls möchte nicht an Ihrer Stelle sein, wenn Sie nachher aus dieser Tür kommen und ein Urteil sprechen, „im Namen des Volkes“!
Hans Werner Saß
9. Februar 1968
kürbiskern. Literatur und Kritik 4/1968, 680 f.