Materialien 1963
Von der Angst zur Aktion
Sonderbar intakt
ist die Waage der Gerechtigkeit.
Die Wahrheit wiegt darauf nackt
schwerer als im Kleid.
Stanislaw Jerzy Lec
Die Klagen mehren sich: Gewaltverbrechen, Trunkenheitsdelikte, alle Anzeichen von Verrohung werden in unserer Gesellschaft immer häufiger. Die Jugendkriminalität steigt. Die kriminellen Vergehen sind heute doppelt so hoch wie im Elendsjahr 1932. 1950 wurden bereits 60.000 Jugend-
liche zwischen 14 und 21 Jahren verurteilt. 1959 waren es bereits 142.000. Die Zahl der Sittlich-
keitsverbrechen ist in der Bundesrepublik gegenüber der Vorkriegszeit auf über 600 % gestiegen. Gleichzeitig ist die Aggressivität, die nur in extremen Fällen kriminelle Ventile sucht, allgemein gewachsen. Der amerikanische Arzt und Psychiater Harry F. Tashman, der anhand praktischer Fälle den Ursachen ehelicher Störungen nachzugehen versucht, kommt zu dem Urteil: „Hinter einer glitzernden Fassade von Wohlstand und Würde verbirgt sich ein Maß an Unbehagen, das bis zur körperlichen Erkrankung und zum vorzeitigen Tod führen kann.“
Ist das in allen Ländern so? Nein. Unter den westlichen Ländern ist er gerade Kuba, bei dem genau das Gegenteil festzustellen ist. Seit dem Sturz der Diktators Batista im Jahre 1958 sind die Fälle von Mord, Todschlag und Sexualdelikten immer seltener geworden. Gleichzeitig sind Hoffnung, Optimismus und Lebensfreude der kubanischen Bevölkerung gewachsen. Eine soziologische Un-
tersuchung, die von einer Studien-Gruppe der amerikanisch Princeton-Universität unter Leitung von Prof. Cantril durchgeführt wurde, hatte das Ergebnis, dass die Kubaner das Leben nicht nur lebenswerter finden, sondern auch weit optimistischer in die Zukunft blicken als Amerikaner und Westdeutsche.
In Kuba steht ein ganzes Volk unter Waffen. Und dieses Volk bestimmt sein Schicksal selbst. Sogar, wenn es Fidel Castro einfallen sollte, zum Despoten zu werden: es würde ihm nicht gelingen. Denn wo ein Volk in Solidarität sich zusammengefunden hat, um gemeinsam seine Zukunft zu bauen, da sind keine „Herren“ mehr möglich. Die Angst verschwindet und das Selbstvertrauen wächst. Ein Volk, das seine Unterdrücker verjagt hat, kennt seine eigene Kraft. Im erfolgreichen Kampf mit den verhassten Herren und ihrer Armee hat es zu seiner Selbstverwirklichung gefunden und die menschliche Souveränität jedes Unterdrückten wieder hergestellt.
Das ist ein wichtiges Faktum. Der Philosoph Jean-Paul Sartre schreibt: „Wenn Unterdrückte Ge-
walt anwenden, dann ist dies nicht mehr als eine befreiende Reaktion auf die unterdrückende Ge-
walt. Die Gewalt der Unterdrückten ist ihnen durch die Unterdrücker aufgezwungen worden. Nur durch Kampf kann sich der Unterdrückte emanzipieren, indem er den Unterdrücker unterdrückt. So traurig es ist, ein Kolonisierter wird oft erst dadurch ein Mensch, im wahren Sinne des Wortes ein freier Mensch, dass er einen Kolonialisten tötet.“
MORD AM MENSCHEN
Wenn Sartre das schreibt, dann redet er nicht dem Töten das Wort. Er befreit nur dieses mensch-
liche Problem von der Sentimentalität, mit der es gewöhnlich verschleiert wird. Denn Unterdrük-
kung bedeutet nicht nur materielle Gewalt. Knüppelschwingende Polizisten, Gefängnisse, Zucht-
häuser, Folterkeller und KZ’s sind nur ihr sichtbarer Ausdruck. Die Unterdrückung beginnt bereits, wo Menschen an ihrer vollen Entfaltung gehindert werden. Sie lässt den Menschen verkümmern. Der Wiener Psychoanalytiker Igor A. Caruso stellt unmissverständlich fest: „Jede Unterdrückung führt unweigerlich zur Entfremdung, und jede Entfremdung kommt einem Mord am Menschen gleich.“
Weil aber die Situation der Unterdrückung nicht von den Unterdrückern selbst beseitigt wird (in-
dem sie freiwillig gehen), bleibt dem Unterdrückten am Ende nur die Auflehnung, der Kampf, die Gewalt. Die Angst davor hält ihn meist längere Zeit davon ab, sich zur Wehr zu setzen. Sie ist ja ein Teil seiner Entfremdung, in der er sich einzureden versucht, er sei gar nicht unterdrückt, und die in ihm wachgerufenen Aggressionen bei Seinesgleichen abreagiert. Sartre, der von den unterdrück-
ten Afrikanern spricht, sagt: „Die Unterdrückung ruft im Unterdrückten einen solchen Zorn her-
vor, dass er ihm selbst Angst macht, und er findet Wege, um sich gegen diese Angst zur Wehr zu setzen. Denn wenn er sich der Gewalt dieser Angst unvermittelt überlassen würde, ehe er sich ihrer bewusst wird und sie organisiert, dann hieße das, sich vor die Maschinengewehrläufe zu werfen und den Tod zu suchen. Auf diese Weise lassen sich auch die Stammeskämpfe aus der Gewalt ab-
leiten: Der Zorn, den die Unterdrücker heraufbeschworen haben, richtet sich nicht gegen sie, son-
dern führt zum Bruderkampf. Aus dem gleichen Grund geben sich die Unterdrückten religiösen Mythen hin, denen große Macht zugeschrieben wird, um zu vorhindern, dass sie sich einer hem-
mungslosen Gewalt überlassen.“
EIN FARBIGER PSYCHIATER
Das Problem der Unterdrückung ist damit nicht bewältigt. Die in ihrer Existenz bedrohten Men-
schen können ihre Aggressionen nur bis zu einem gewissen Grad verdrängen; dann muss es zu einer befreienden Tat kommen. Überall auf der Erde sehen wir heute Menschen mit dem Mut der Verzweiflung gegen die Unterdrückung kämpfen. Die große Mehrheit unserer Presse ist dann voll von Berichten, in denen die „blutigen Ausschreitungen“ von Aufständischen breit geschildert sind. Mit psychologischer Raffinesse wird dem Leser die „Primitivität“ und das „Untermenschentum“ von Völkern suggeriert, die man jahrhundertelang an ihrer Entwicklung gehindert hat – und die jetzt das Joch der Unterdrückung mit aller Gewalt abschütteln wollen.
Natürlich ist diese Gewalt nicht „schön“. Trotzdem bezeichnet Sartre sie „als Reaktion von huma-
ner Konsequenz und im Sinne des menschlichen Heils“. Wie ist das zu verstehen?
Es gibt ein Buch von Frantz Fanon, „Die Verdammten dieser Erde“, das gerade auf diese Frage eine Antwort gibt (Frantz Fanon: Les Damnés de la Terre. Verlag Francois Mespero. 40, rue Saint-Séve-
rin, Paris, 1961). Fanon war ein farbiger Psychiater; er kämpfte auf Seiten der Algerier gegen die Franzosen. In seinem Buch, das leider nicht auf Deutsch erschienen ist, untersucht er, der die Un-
terdrückten-Situation am eigenen Leibe erfahren musste, mit der Objektivität des Wissenschaftlers ihre Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten (Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt am Main 1966, GG.).
RECHTFERTIGUNG DER EIGENEN TATEN
Er zeigt, wie in einem kolonisierten Land die Welt praktisch zweigeteilt ist: auf der einen Seite stehen die weißen Herren, auf der anderen Seite die Sehwarzen. In der Stadt der Weißen ist alles sauber, alles gut gepflastert – die Menschen tragen Schuhe, gehen in elegante Klubs; alle sind sattgegessen. Die Behausungen der Kolonisierten bestehen dagegen aus armseligen Hütten, es gibt keine Kanalisierung, die Straßen starren vor Dreck: die Menschen sind von Hunger und Entbeh-
rung gezeichnet. Ist es ein Wunder, dass die Kolonisierten mit Sehnsucht auf die Stadt der Weißen blicken und hinüber möchten? Ja, es ist nicht einmal erstaunlich, dass sie so sein möchten wie die-
se Herren da. Aber das ist unmöglich. Denn Herren kann es nur geben, wo es Knechte gibt. Und Knechte sind nötig, wo ein System ohne sie zusammenbräche. Von unten nach oben gibt es keinen Weg – auch wenn die Unteren in ihrer Ohnmacht sich dies vorübergehend einreden mögen. Wir müssen dazu wissen, dass die weißen Eroberer mit Beginn ihrer Herrschaft die gesamten sozialen Beziehungen, die Handels- und Wirtschaftsstrukturen des eroberten Gebietes zerstörten. Die Le-
bensgewohnheiten der eingeborenen Bevölkerung, ihre Sitten und Gebräuche, die gesamte orga-
nisch gewachsene Kultur wurden zerschlagen, ausgerottet, zugrunde gerichtet. Die Besiegten gal-
ten als Tiere, als der Inbegriff alles Minderwertigen: böse, faul, untüchtig und hinterhältig. Heute, nachdem viele dieser Menschen den Kampf gegen ihre Unterdrücker aufgenommen haben, heute behauptet man dagegen, dass sie „zu schnell vorankommen“ wollen. Man hat die erste Behauptung geglaubt und man glaubt heute nicht weniger an die zweite. Aber das alles dient nur der Rechtfer-
tigung der eigenen Taten. Bei der Sicherung seiner Interessen, die nur durch Unterdrückung ge-
währleistet sein konnten, hat man nie danach gefragt, was man bei den Beherrschten damit anrich-
tete. Darum steht man heute der zwangsläufigen Entwicklung mit Verständnislosigkeit und Wider-
willen gegenüber.
ABERGLAUBEN UND GEREIZTHEIT
Was aber geht mit einem Menschen in der Unterdrückung vor sich? Er hat sich zur Wehr gesetzt; sein Widerstand ist gebrochen worden. Nun muss er lernen, sich ruhig zu verhalten. Seinem Ver-
halten sind bestimmte Grenzen gesetzt, die er nicht überschreiten darf. Dadurch entstehen Aggres-
sionen. Das sind die heftigen Gefühle der Unmuts, der Aufgebrachtheit, Wut und Angriffslust, die immer dann entstehen, wenn der Mensch in seiner Lebensmöglichkeit eingeengt wird. Wohin da-
mit? Gegen die Herren, die Urheber dieser aggressiven Gefühle, darf er sie nicht richten – es wäre sein Untergang. So muss er sie unterdrücken, verdrängen – was die Angst verstärkt. Wir kennen ja auch in unserer Gesellschaft Menschen genug, bei denen sich die Angst vor den eigenen Aggressio-
nen in Magengeschwüren, Kreislaufstörungen oder Herzkrankheiten niederschlägt. Auch die hefti-
gen Träume dieser Menschen sind vielen von uns bekannt. Alle Kolonisierten haben diese Träume, schreibt Fanon: Träume, in denen sie springen und rennen müssen; Träume, in denen sie von Autos verfolgt (aber nicht eingeholt) werden; Träume, in denen sie mit einem Satz über einen breiten Fluss springen müssen usw. Sie haben jeden Tag gegen ein Minderwertigkeitsgefühl anzu-
kämpfen, das die weißen Herren ihnen einzuimpfen versuchen, indem sie sie zu bestimmten Tätig-
keiten und Berufen nicht zulassen und sie auch sonst an ihrer Entfaltung hindern. So kommt es, dass ein Kolonisierter aus Angst vor der ihm fremd gewordenen Realität sich eine eigene Welt schafft, in die er sich flüchten kann: magische Riten, Spuks, Zauberei und Aberglauben. Auch in unserer Gesellschaft sind solche Verhaltensweisen ja nicht unbekannt. Man muss aber wissen, dass vor der Kolonisation Spuk und Aberglauben nicht so stark vertreten waren. Ein weiteres Ventil für seine aufgestauten Aggressionen schafft sich der Kolonisierte in einer ganzen Reihe sogenannter hysterischer Massenerscheinungen, bei denen bis zur Ekstase getrunken, musiziert und getanzt wird. Auf diese Weise gelingt er ihm vorübergehend, seine Deklassierung als Kolonisierter zu ver-
leugnen und zu vergessen. Dass ihm das nie ganz gelingt, zeigen nicht zuletzt die Stammeskämpfe, die vor der Kolonisation längst aufgehört hatten: die Reibungen untereinander, die Gegenmensch-
lichkeit wachsen; bei jeder Gelegenheit zieht man ein Messer heraus, um sich gegenseitig umzu-
bringen. Alle diese Symptome verschwinden bezeichnenderweise, sobald der Befreiungskampf beginnt: sobald die Unterdrückten es wagen, ihre Aggressionen gegen die Herren zu richten.
TEILE UND HERRSCHE
Bis es dazu kommt, ist meistens eine lange Entwicklung zu durchlaufen. Da sind die farbigen In-
tellektuellen, die eine kleine Schicht zwischen Kolonialherren und Kolonisierten bilden. Sie sind von den Herren dazu ausersehen und entsprechend geschult worden, das System der Unterdrük-
kung durch ihre Mitarbeit zu perfektionieren. Sie sind für die Kolonisatoren unentbehrlich und werden von ihnen deshalb entsprechend behandelt. Sie dürfen die Privilegien der Stadtbevölke-
rung genießen (nur 8 bis 10 % der Bevölkerung leben in der Stadt), und ihr Lebensstandard ist höher als jener der Landbevölkerung. Diese Menschen haben den echten Kontakt mit der Gemein-
schaft ihres Volkes verloren. In ihrer Entfremdung orientieren sie sich an den Weißen; sie über-
nehmen deren Verhaltensweisen und auch deren Individualismus und Egoismus.
Die wenigen Auserwählten, die im Mutterland der Weißen eine Ausbildung genießen durften, kommen von dort mit Vorstellungen und Bewusstseinsinhalten ihrer weißen Vorbilder zurück. Nach dem Muster der Kolonialländer gründen sie politische Parteien. Arbeiter und Angestellte in der Stadt sind ihre ersten Mitglieder. Diese Parteien (von den Kolonialherren nach dem Prinzip „Teile und herrsche“ zugelassen) wollen keine wirkliche Änderung der Verhältnisse – höchstens eine Besserstellung ihrer Anhänger: mehr Geld und mehr Ansehen. Ihre Führer halten zwar große Reden mit revolutionären Parolen, aber vor jeder Aktion schrecken sie zurück. Die Massen jedoch nehmen diese Reden meist sehr ernst – ernster jedenfalls, als die Parteiführer sie gemeint haben. Diese haben deshalb Angst vor den Massen und leben in ständiger Furcht vor Bestrafung durch die Kolonisatoren. Kommt es in der Landbevölkerung zu explosiven Ausbrüchen, so distanzieren sie sich davon und gehen eilig die Kompromisse ein, die die weißen Herren verlangen.
DAS SPIEL MIT DER UNABHÄNGIGKEIT
Mit der Zeit wird es aber immer häufiger, dass Parteimitglieder sich gegen die Schaukelpolitik ihrer Führer auflehnen. Sie werden dann sogleich in die Isolation gedrängt, von ihren Parteiämtern entfernt oder sogar aus der Partei ausgeschlossen. Oft wird ihnen obendrein noch die Polizei der Weißen auf den Hals geschickt. Die unliebsamen Politiker müssen dann in die Vorstädte und von da aufs Land fliehen, wo sie sich oft jahrelang verborgen halten. Dort machen sie in der Regel überrascht die Erfahrung, dass ihre revolutionären Parolen, die bei der privilegierten Stadtbe-
völkerung nicht viel Anklang gefunden haben, bei der Landbevölkerung offene Ohren finden.
Auf dem Lande nämlich hat man die Zeit vor der Unterwerfung noch nicht vergessen. Die Führer des einstmaligen Kampfes sind im Bewusstsein der Volkes noch gegenwärtig und werden als Hel-
den verehrt. Das Leben der Landbevölkerung ist weitaus ungesicherter als das der Menschen in der Stadt; das hält die Erinnerung wach an bessere Zeiten. Nachrichten wie jene vom Fall der französi-
schen Festung Dien Bien Phu in Indochina lassen alle Herzen höher schlagen: zeigen sie doch, dass es möglich ist, den langjährigen Unterdrücker mit Waffengewalt zu vertreiben. Der Fall von Dien Bien Phu hat auch unter den Kolonisatoren eine Panik ausgelöst und sie dazu veranlasst, einigen Kolonialländern frühzeitig die Unabhängigkeit zuzugestehen.
Früher oder später, wenn der Reifungsprozess genügend fortgeschritten ist, kann einem koloni-
sierten Land die Unabhängigkeit sowieso nicht mehr vorenthalten werden. Die Kolonialisten ver-
suchen dann, kompromissbereite farbige Politiker an die Macht zu bringen, die für sie die alte Politik nach der formalen Unabhängigkeit fortsetzen (Kamerun, Uganda, Senegal, Kongo usw.). Wenn sich solche Leute nicht finden lassen, wird die Unabhängigkeit regelmäßig herausgezögert (wie in Britisch-Guayana), bis es dann eines Tages zum organisierten Aufstand kommt.
DIE EINHEIT IM KAMPF
Die Reaktion der Kolonialherren auf einen solchen Aufstand ist je nach Lage verschieden. Oft sperren sie die Parteiführer ein; manchmal lassen sie sie auch in Freiheit, damit sie die Massen bremsen. Parteiführer, die sich wirklich für die Interessen des Volkes einsetzen, werden jedoch immer festgenommen, soweit man ihrer habhaft werden kann. An ihre Stelle werden gemäßigtere Kräfte lanciert. Auch die vollkommen entwurzelten und verelendeten Menschen in den Slums der Städte werden für die Zwecke der Kolonialisten eingespannt: da sie mehr oder weniger alle Bin-
dungen verloren haben, lassen sie sich leicht als Söldner gewinnen. Hat der Kampf einmal begon-
nen, gilt als einziges Gesetz die Gewalt – jene Gewalt, die die Kolonisierten seit Menschenaltern gegen sich gespürt haben. Ein Großteil der europäischen Presse entrüstet sich dann meist über die Brutalität der Aufständischen, erwähnt aber mit keinem Wort, dass sie nur die Antwort ist auf die Brutalität der Kolonialherren.
Diese Herren benutzen dann noch eine ganze Skala von Möglichkeiten, ihre Autorität zu wahren. Sie hetzen die Stadtbevölkerung gegen die Landbevölkerung auf; sie versuchen, die alten Feudal-
traditionen wieder zu beleben, die Stammesfehden aufs neue zu entfachen und die entwurzelten Slumbewohner auf ihre Seite zu ziehen. Wenn das nicht hilft, machen sie Teilkonzessionen in der Hoffnung, dass der revolutionäre Elan im Volk dadurch erlahmt. Doch das Volk findet im Kampf seine Einheit. Die Gewalt spielt dabei eine entscheidende Rolle. Sie ist es, durch die sich der Unterdrückte von seinen Minderwertigkeitsgefühlen befreit, die er dem Unterdrücker gegenüber empfunden hat. Er erlebt zum ersten Mal, dass er fähig ist, seinen Herrn zu töten – nicht nur, von ihm getötet oder verprügelt zu werden. Durch dieses Erlebnis, schreibt Fanon, gewinnt der Unter-
drückte endlich seine innere Freiheit.
EINE SCHWIERIGE AUFGABE
Natürlich wird er dadurch anfangs leicht übermütig und nimmt jeden Kampf an – auch in einer für ihn ungünstigen Situation. Das führt oft zu blutigen Niederlagen. Die Führer des Befreiungskamp-
fes haben die schwierige Aufgabe zu lösen, den zum bedingungslosen Kampf entschlossenen Auf-
ständischen auch die Taktik des Rückzugs und des Abwartens einer besseren Gelegenheit beizu-
bringen. Auch das politische Bewusstsein dieser Menschen muss geschult werden: die Rebellen müssen erst lernen, dass es auch unter den Weißen Unterschiede gibt. Am Anfang gelten alle Weißen ohne Ansehen ihrer sozialen Stellung und Einstellung einfach als Feinde. Auch dass es unter der eigenen Bevölkerung Unterschiede gibt, muss erst bewusst gemacht werden. Fanon be-
richtet, dass in Algerien einmal ein Landstrich durch die französische Armee von der Außenwelt abgeschnitten wurde. Einige Dörfer waren dadurch vollkommen isoliert – das haben die Geschäfts-
leute im Dorf ausgenutzt, um die Lebensmittelpreise zu erhöhen. Die Bauern gerieten durch die heraufgesetzten Preise in Schulden, und sie mussten manchmal ihr ganzes Land an die Ladenbesit-
zer verkaufen. Und am Ende haben sie für diese Ladenbesitzer arbeiten müssen. Die FLN musste eingreifen, um das Land wieder zu verteilen und den Ladenbesitzern einen festen Preis vorzu-
schreiben. So wurde der aufständischen Bevölkerung vor Augen geführt, wie man nur mit einem Laden zu Landbesitz kommen kann, indem man seine Mitmenschen übervorteilt und sie schließ-
lich für sich arbeiten lässt.
Für die Unabhängigkeit gibt es verschiedene Möglichkeiten. Wählen die Führer der revolutionären Bevölkerung tatsächlich die totale Unabhängigkeit für ihr Land, so wird es von seinen bisherigen Herren ebenso total boykottiert. Das Land muss es dann auf sich nehmen, dass diese Herren sa-
gen: „Gut, wir geben euch, was ihr wünscht. Aber ihr kehrt dadurch zum Mittelalter zurück!“ Das war zum Beispiel in Ginea der Fall, wo die Franzosen sogar die Telefonleitungen demontierten, ehe sie abzogen. Auch die Algerier fanden (trotz des Vertrages von Evian, der den Franzosen Zuge-
ständnisse machte) am Tage ihrer Unabhängigkeit zerstörte Fabriken, zertrümmerte Maschinen, demolierte Warenhäuser und niedergebrannte Bauernhöfe vor, die die geflüchteten weißen Besit-
zer nicht den Algeriern „in die Hände fallen“ lassen wollten.
WIEDER VON VORN
Kein Wunder, dass unter solchen Umständen die Kolonialherren meist viel ungeschorener davon kommen und es verstehen, ihr altes Spiel nach der Unabhängigkeit weiter zu treiben. Die Weißen vorschwinden dann zwar, aber an den Verhältnissen ändert sich nichts. Die Bürokratie der Weißen wird nicht abgeschafft, nur dass sie jetzt mit schwarzen Beamten besetzt ist. Diese gebärden sich nicht weniger als Pöstchenjäger als vorher die Weißen. Die Gehälter sind sehr hoch und machen insgesamt manchmal (wie in Dahomay) 80 % des Staatshaushalts aus. Diese Beamtenbürokratie verfügt einerseits nicht über genügend Kapital, um eine eigene Industrie aufzubauen, andererseits legt sie ihr Geld für Luxusartikel an, die aus den westlichen Industrieländern eingeführt werden müssen. Auf Kosten der Bevölkerung werden mit den ehemaligen Kolonialisten Riesengeschäfte getätigt. So bleibt die wirtschaftliche Situation der Landes ganz so, wie sie vor der „Unabhängig-
keit“ gewesen ist: das Land exportiert billig Rohstoffe, und der Lebensstandard der Bevölkerung erhöht sich nicht. Genau das, schreibt Fanon, ist Neokolonialismus. Die Partei, die einmal die re-
volutionäre Bewegung des Volkes repräsentierte, wird nun zum Machtinstrument, das von oben nach unten eingesetzt wird. Die Parteizellen in der Bevölkerung dienen zu Zwecken der Denunzia-
tion, und gewalttätige Elemente werden als Prügler und Attentäter eingesetzt, mit denen Unzufrie-
dene zum Schweigen gebracht werden. Die Energien des Volkes werden statt auf die Zukunft auf die Vergangenheit gerichtet: der Unabhängigkeitskampf wird mystifiziert und mit Riesenfeierlich-
keiten glorifiziert. Da die führende Schicht den Unmut der Massen von sich ablenken will, schafft sie ihm ein ideologisches Ventil im Nationalismus, der nun kräftig angeheizt wird. Ein Rassismus entsteht, der auch gegen andere Völker der gleichen Hautfarbe gerichtet ist – und sogar im eigenen Volk von Stamm zu Stamm aufflammt. Die Stammesfehden leben wieder auf. Wieder werden fort-
schrittliche Parteimänner verfolgt und müssen aufs Land fliehen, wodurch die Entwicklung von vorn beginnt.
VON DER ANGST ZUR AKTION
Aber die Entwicklung lässt sich nicht aufhalten. Sie kann verzögert, unterbrochen, ja vorüberge-
hend gebremst werden – aber sie kann nicht aufgehoben, rückgängig gemacht oder aus der Welt geschafft werden. Solange Verhältnisse bestehen, in denen Menschen an ihrer möglichen Entfal-
tung gehindert und der Unsicherheit ausgesetzt sind, solange wird die Unterdrückung ihren Nie-
derschlag finden im Denken, Fühlen und Handeln des Menschen. Lebensangst, Aberglauben, Wahnideen, Haltlosigkeit, Depression, Feindseligkeit untereinander, Krankheit und Kriminalität sind eine Zeitlang ihre Symptome. Dann muss sie zu einem Umschlag führen: zum zielgerichteten Kampf um die Verbesserung der Lebensverhältnisse.
Rolf Gramke
Heute 4/1963, 14 ff.