Materialien 1967
Der Dichter, der Kardinal und der Abgrund
Die erste (und einzige) Gelegenheit, mich mit Kardinal Julius Döpfner von München-Freising zu unterhalten, ergab sich 1967 – auf seinen Wunsch, in einer kirchenpolitischen und gleichzeitig deutsch-deutschen Angelegenheit, die hier nicht von Interesse ist. Unsere Unterhaltung wurde wesentlich umorientiert durch die Tatsache, dass im Spiegel der Berichtswoche eine Rezension meiner Aufsatzsammlung »Fragen an Welt und Kirche« von Heinrich Böll erschien. Sie war schon ziemlich hart – nicht für mich, aber für das deutsche katholische Establishment; Böll konnte ja, wenn er wollte und wenn es ihm der Anlass zu diktieren schien, recht rüde Ausdrücke gebrauchen.
Der Kardinal, ein Mann aufrichtiger Emotionen, war reichlich erbost und meinte, sinngemäß, dass es so wohl doch nicht gehe. Man vergegenwärtige sich die damalige innerkatholische Stimmung: Alles, auch der Kardinal selber, rechnete noch auf eine große zusätzliche Entfaltung durch den Geist und die Anstöße des Konzils, und Döpfner, wenn auch eher ein Mann der Grande tactique als der bahnbrechenden Neuerung, durfte ehrlich für sich beanspruchen, seinen Beitrag zum vorläufi-
gen Gelingen des Konzils geleistet zu haben. Bölls Haltung in der genannten Rezension schien ihm von unerträglicher Verhärtung zu zeugen – eben in dieser historischen Stunde, wo es, nicht nur seiner Meinung nach, auf Verständigung und gemeinsame Anstrengung ankam.
Ich versuchte den Kardinal zu informieren und erwähnte nebenbei, er wisse doch, was Bölls Lieblingsland sei. Er wusste es nicht, und ich sagte es ihm. Die Reaktion des Kardinals war nicht nur Überraschung, sie war ein fast somatischer Schock. »Irland!« rief er mehrmals und schlug sich, im Sitzen nach vorn schnellend, auf den Schenkel. »Ausgerechnet Irland!«
Es ist überflüssig, die Anekdote näher zu kommentieren. Mir machte sie in geradezu klassischer Konzentration klar, was in diesem unseren Lande und in dieser unserer Kirche alles schiefgelaufen war, spätestens seit 1945 – vor allem aber den Abgrund, der den Dichter Heinrich Böll und sein Glaubensverständnis von dem des real existierenden deutschen Katholizismus trennte.
Der Abgrund war nicht breit, sondern lang, endlos lang. Gerade das, was man dem Dichter verzie-
hen hätte, was man heutzutage jedem katholischen Intellektuellen verzeiht, brachte Heinrich nicht ins Spiel ein: Glaubenszweifel, dogmatische Schwierigkeiten, Vorwürfe der mangelnden Zeitbezo-
genheit, der mangelnden Modernität. Dergleichen kennt man, für dergleichen gibt es moderne Theologie und jene Art von aggiornamento, was man mit »Überholung des Managements« über-
setzen könnte. Aber Böll war auf eine schon ärgerniserregende Weise frei etwa vom sogenannten Theodizee-Problem, dogmatische Feinheiten interessierten ihn nicht, er war »gläubig« in einem fast mittelalterlichen Sinn. Seine kühnste, über alles Definitorische und Buchhalterische hinaus-
greifende theologische Formel, die er einer seiner Figuren in den Mund legt: »Gott wegen seiner Schöpfung trösten.« Um eine solche Gläubigkeit im bekannt trostlosen »modernen« Sinn auch nur beraten zu können, fehlen dem real existierenden Katholizismus alle Voraussetzungen – jedenfalls hierzulande. (Er selbst hat sie immer anderswo vermutet, oft mit höchst generöser Vorgabe: eben in Irland, auch im Osten.) Das Anrennen gegen alte Autoritäten ist ihm fremd, er mag die Väter, er mag Thomas von Aquin, er mag, vor allem, die Saaten, die an den Wegrand gefallen sind und nun unerwartet und wundersam von selbst aufgehen.
Was ihn unversöhnlich, ja unversöhnbar machte, was ihn in die literarischen Wutanfälle trieb, deren einer den Kardinal so störte, war etwas ganz Anderes – etwas, was den fixen theologischen Sachverstand in keiner Weise belästigt, weil es sich um »menschliche Schwächen« handelt, oder doch in diesem Sinne abgehandelt wird: das Unmenschliche der Praxis, ihre Affinität zum »Sakra-
ment des Büffels« (deutsch könnte man auch sagen: zum inneren Schweinehund). Dabei wird er nie historisch, braucht es nicht zu werden, braucht nicht von Inquisition, nicht von Hexenprozes-
sen, nicht von Albigenserkriegs-Greueln zu reden. Ihm genügt die Unbußfertigkeit des verfassten, real existierenden Katholizismus nach 1945; ihm genügt die Polit-Pornographie (sein Ausdruck) der kirchlichen Massenpresse; die kontrastierende elegante Oberflächlichkeit des elitären kirchli-
chen Kulturbetriebs; die Verdruckstheit in Fragen der Ehe; die Gefühllosigkeit, mit der, nach Aufhebung des Nüchternheitsgebots vor der Kommunion, die generationenlangen Gewissens-
qualen der Kleinen Leute in der Vergangenheit übergangen werden – eine Gefühllosigkeit, der es nicht einmal zum fahlen Bedauern reicht. Ihm genügt die Rigorosität und Massivität, die der poli-
tische Katholizismus in Fragen wie Antikommunismus und Militärseelsorge aufbringt, während er Dogmatisches mit letzten Endes zynischen Formeln umkreist; ihm genügt, aufs Ganze gesehen, die Leichtigkeit, mit der er in die Große Allianz der Plastik-Zivilisation hineinsteuert, damit eine große, durchaus ambivalente kulturkritische Position verlassend, ohne ihr auch nur ein ehrendes Ange-
denken zu widmen.
Und spätestens hier taucht ein Wort auf, ein bleiches Wort, das er selbst in dieser Form niemals ausdrücklich gebraucht: das Wort Verrat.
Da wird’s, aus naheliegenden Gründen, eben doch wieder theologisch, doch wieder sehr prinzipiell. Es geht, kurz und brutal gesprochen, um den Heiligen Geist. Ist er wirksam oder nicht?
Dass diese Frage ein Frommer stellt, sie nicht abstrakt-theologisierend, sondern anhand des real existierenden Katholizismus stellt, macht die Sache doppelt skandalös, und dass er sie als Anwalt der Kleinen und Schwachen (einschließlich der kleinen und schwachen Priester) stellt, macht sie doppelt gefährlich. Bisher hat der verfasste Katholizismus, hat die verfasste Kirche mit Hilfe der Kleinen und Schwachen noch immer alles ausgestanden, den kompletten Riesenskandal des 19. Jahrhunderts nicht ausgenommen. Voltaires, Darwins, ungläubige Theologie-Professoren können und konnten noch allemal in Kauf genommen werden. Es ist die Rebellion der Kleinen und die Rebellion um scheinbar »kleiner« Ursachen willen (etwa um der Ablasspraxis willen), welche die tödlichen Gefahren birgt.
So ist, einerseits, der Groll und die Überraschung von Kardinal Döpfner doch nicht so verfehlt gewesen – und Bölls Position, sein Groll und seine Parteilichkeit, doch nicht so deutsch-provinzi-
ell, wie man (und der Verfasser nimmt sich nicht aus) das oft zu sehen versucht war. Bölls Groll nimmt gerade im Licht der letzten kirchlichen Entwicklungen prophetische Züge an: Döpfners Nachfolger, der kleine sanfte gefährliche Joseph Ratzinger, einst den Brokat progressiver Theolo-
gie tragend, ist oberster Glaubenshüter in Rom geworden, und wenn nicht alles trügt, überträgt er den sanften gefährlichen Stil der deutschkatholischen Intoleranz ins Globale. Die Hoffnungen, die sein Münchener Amtsvorgänger in den konziliaren und nachkonziliaren Geist setzte, hat er aus-
drücklich abgeschrieben. Er hat damit, indirekt, der Unversöhnlichkeit und Unversöhnbarkeit seines Landsmannes Böll rechtgegeben. Bölls Indikatoren, die Instrumente, mit denen er den Zustand des real existierenden Katholizismus maß, erweisen sich leider als sehr präzise – präziser jedenfalls als die der sogenannten Insider.
Einer von ihnen, der Vorsitzende des Zentralkomitees deutscher Katholiken und bayerische Kul-
tusminister, hat den Abgrund gerade auch beim Tod Heinrich Bölls sichtbar gemacht, als er einen Nachruf in Bild veröffentlichte – oder jedenfalls seine Zustimmung dazu erteilte. (Diese Kombina-
tion hätte dem Autor der »Katharina Blum« Grund zu höchst passenden Bemerkungen gegeben – hier wurde in voller Scheußlichkeit jene Allianz sichtbar, von der wir sprachen, und die er zeitle-
bens bekämpfte.) In diesem Nachruf erzählt Hans Mayer, er habe bei einem persönlichen Treffen über Kaffeetassen versucht, Böll zu einem hoffnungsreicheren Blick auf die Bundesrepublik zu überreden. Der Dichter sei aber hartnäckig pessimistisch geblieben.
Dieser Ansicht Bölls kann man sich, gerade aufgrund dieses Nachrufs, nur anschließen. Auch was den von Hans Mayer betreuten Real-Katholizismus betrifft.
Carl Amery
L’80. Zeitschrift für Politik und Literatur 36 vom Dezember 1985, 35 ff.