Materialien 1967

Zeitalter der Empfindlichkeit

Eine Skizze von Erich Kästner

Wenn am kommenden Sonntag ein Fußballkapitän erklärte: „Wir spielen ab heute mit 15 Mann“, würde man ihn zunächst auslachen. Beharrt er aber auf seinem Standpunkt, so brächte man ihn in die psychiatrische Klinik. Nehmen wir nun an, auf Grund von Überlegungen und Zufällen setze sich, etwa in 50 Jahren, das 15-Mann-System durch und es erklärte dann ein Fußballkapitän: „Wir spielen ab heute mit 11 Mann“, würde man ihn zunächst auslachen. Beharrte er auf seinem Standpunkt, so brächte man ihn in die psychiatrische Klinik.

Dieses Beispiel soll zweierlei veranschaulichen. Einmal: Spielregeln sind unantastbar. Zum andern: Spielregeln wandeln sich, indem man sie antastet. Das gilt nicht nur für die Fußballklubs, sondern für jede Gemeinschaft. Das Zusammenleben im Staat, in der Sippe, in der Partei, in der Kirche, in der Zunft, im Verein – ist ohne Spielregeln unmöglich. Deshalb hasst man die Spielverderber weit mehr und fanatischer als die Falschspieler. Denn die Falschspieler betrügen zwar, aber sie tun es „regelrecht“.

Die Gemeinschaften merken nicht, wenn und wann ihre Konventionen altern … Sie merken’s auch nicht, wenn diese mausetot sind. Und die Repräsentanten dieser Gemeinschaften: sie wollen es nicht merken. Sie verteidigen die Totems und Tabus mit Krallen und Klauen, mit Bann und Acht. Jene Männer, die mit dem Finger auf das Welken und Sterben der alten Regeln zeigen und neue, lebendige Regeln fordern, sind ihre natürlichen Feinde. Luther, Swift, Goya, Voltaire, Lessing, Daumier und Heinrich Heine waren solche Spielverderber. Sie gewannen den Kampf. Aber erst, nachdem sie gefallen waren.

Solche ehrlichen Männer, die nichts als ihre eigene Sprache reden, sind rarer als vierblättriger Klee. Die Lessings gibt es nicht im Dutzend. Da müssen sich erst Ehrlichkeit, Verstand, Mut, Talent und kaltes Feuer in ein und demselben Menschen mischen, ehe halbwegs ein echter Spielverderber zustande kommt. Und wie oft vereinigen sich diese fünf Gaben schon in einem einzigen Manne! Luthers Satz: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ gehört ins Deutsche Museum. Ins Raritätenkabinett.

Nun gibt es auch kleinkalibrige Spielverderber. Sie sind die „Unruhe“ des konventionellen Alltags. Man nennt sie Journalisten. Es gibt nicht nur Journalisten der Feder, sondern auch des Zeichenstifts: Und es gab sie! Erinnern Sie sich noch jener kräftigen Beiträge, die von einigen Spielverderbern unseres Jahrhunderts herrühren und aus früheren Jahrgängen des Münchner „Simplizissimus“ stammen?

Die Publizisten und das pp. Publikum sind mittlerweile ins Zeitalter der Empfindlichkeit hineingetreten. Wir haben vor lauter Aufregungen, und es gab ja genug, „total“ vergessen, den Maulkorb abzunehmen; den man uns 1933 umgebunden hatte. Die einen können nicht mehr schreiben, die anderen können nicht mehr lesen. Versuchen sie’s trotzdem, so lesen sie statt mit den Augen versehentlich mit den Hühneraugen. Man kann ohne Übertreibung von einer Hypertrophie des Zartgefühls sprechen. Schon in den zwanziger Jahren schrieb Kurt Tucholsky, auch so ein rastloser Spielverderber, in einem satirischen Gedicht:

„Sag mal, verehrtes Publikum,
bist du wirklich so dumm?
Ja, dann …
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbreifresser?
Ja, dann …
Ja, dann verdienst du’s nicht besser!“


Metall 18 vom 5. September 1967, 13.

Überraschung

Jahr: 1967
Bereich: Medien

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