Materialien 1968

Rote Fahnen an der Münchner Akademie

Ende der Ära Kaspar

Dem Pförtner der alt ehrwürdigen Münchner Kunstakademie im Herzen Schwabings ging der Atem flach. Zum sechsten Male erklomm er Sockel und Standbild eines germanischen Bronzereiters vor dem Haupteingang, um eine von Notstandsdemonstranten dort gehisste rote Fahne herunterzuholen. Der Klenze-Bau, seit mehr als hundert Jahren eine Festung des „vorindustriellen Bewusstseins“, wie ein Asta-Sprecher formulierte, zeigte sich revolutionär maskiert. Ein riesiger Baldachin aus bemalten Leintüchern mit den Parolen „Kein 1933“ über dem Haupteingang, Anti-Notstands-Mahnungen seriell über die Fensterfronten der kolossalen Kunst-Kaserne drapiert, Parolen an den schön geschwungenen Freitreppen und Pop-Figuren, Erhängte, Blutbespritzte, Gekreuzigte an Galgen und auf dem grünen Rasen der Kunstschule. Stacheldraht und ein Schild „Zwangserziehungs-Camp“ vervollständigten die Ausstellung neuen Bewusstseins, mit der Münchner Kunststudenten der Ära Prof. Kaspar und der Herrschaft einer zeitfeindlichen Schönmalerei an ihrer Schule ein Ende bereiteten. Vom 18. – 21. Mai veränderten die Studenten das äußere Bild und die innere Struktur ihrer Hochschule. Ein gegen die zweite Lesung der Notstandsgesetze von ASTA und HSK inszeniertes Notstandshappening mit dem soeben gegründeten Münchner Straßentheater führte zu einem dreitägigen Generalstreik, zur Umfunktionierung des Präsidenten Paolo Nestler und eines Teils der Professoren und zur offensiven Rücktrittsforderung an den aus dem Dritten Reich schwer belasteten Prof. Hermann Kaspar, der Hitlers Reimskanzlei und Münchner Festumzüge dekorierte und weder aus seinem konservativen Starrsinn noch aus seiner Verflechtung mit dem Bayerischen Kultusministerium und anderen Staatsinstanzen viel Hehl gemacht hatte. Das Ärgernis Kaspar war das Ärgernis Münchner Akademie überhaupt. An keiner deutschen Kunsthochschule hielten sich trotz gelegentlichen Reformversuchen und Berufungen von Avantgardisten so viele typische Verwaltungsprofessoren und eine so fortschrittsfeindliche Clique. Noch vor wenigen Monaten entfernten die bayerischen Kunstprofessoren die Ansätze des SDS in Gestalt des Studenten Wiprsek aus der Akademie. Und der taktierende neue Präsident Paolo Nestler schrieb an tendenzen auf einen Protestbrief, er sei zutiefst erstaunt, dass wir durch solche Methoden die Meinungsfreiheit bedroht und den Notstand praktiziert sähen. Am 18. Mai ereilte ihn die Meinungsfreiheit seiner Schüler. Von über 200 Studenten vor die Mikrophone und später zu einer ausführlichen Diskussion gedrängt, flüchtete Nestler nach vorn in sein besseres Wissen und unterzeichnete als erster die Antinotstandsresolution der Studenten, billigte den dreitägigen Streikaufruf und die Dekoration der Akademie und inspizierte selbst Solidaritätsadressen an deutsche und ausländische Akademien zum Kampf gegen die Bonner Notstandsgesetze. Derweil rollten Papierballen von der Freitreppe auf die Akademiestraße und Kinder und Studenten schmierten in einer Do-ist-yourself-Aktion ihre Meinungen und Empfindungen („Kiesinger ist doof“) auf die improvisierten Wandzeitungen. Das Innere der Akademie glich dem Smolny in Eisensteins „Oktober“, ameisengleiche Aktivität, Ordonanzen, Malkolonnen, Delegationen von befreundeten Gruppen, Zeitschriften und Teams, Lautsprecherdurchsagen („Bitte den Rasen betreten“) und Versammlungen. SPD-Bundestagsabgeordneter Müller, der sich am ersten Tag als Notstandsakzeptierer bekannte, beobachtete das Treiben verschüchtert wie ein in einen Jakobinerclub geratener Marquis. Bei Redaktionsschluss dieser tendenzen war sicher, dass am 29. Mai zur dritten Lesung unter der allgemeinen Formel „Generalstreik“ öffentliche Aktionen stattfinden würden. Der ASTA drängt die Direktion inzwischen, beim bayrischen Kultusministerium die Voraussetzungen zur Drittelparität für die Studenten bei der Leitung der Hochschule durchzusetzen. Mitten unter den Debatten über die Einschränkung der Freizügigkeit im Notstandsfalle kam der Vorschlag, endlich einen Kindergarten zur Vergrößerung der Freizügigkeit der künstlerischen Kolleginnen zu schaffen. Die Künste zeigten menschliche Züge …


tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 51 vom Juni/Juli 1968, 106.

Überraschung

Jahr: 1968
Bereich: Kunstakademie

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