Materialien 1968

Aus einem Papier der Hochschulgruppe sozialistischer Studenten

an der Münchner Akademie:

… In der Geschichte der Akademie München wurde zum ersten Male eine politische Öffentlich-
keitsarbeit von der scheinbar solidarisierten Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden ge-
leistet. Die Wertfreiheit der Wissenschaft und die Autonomie der Kunst war bisher die übliche Praxis der Hochschulen, aus der wiederum die Trennung des hochschulpolitischen und gesell-
schaftspolitischen Bewusstseins resultierte. Genau in dieser Teilung liegt die ideologische Funktion dieser Gesellschaft, die auf Grund dieser Gewaltenteilung ihre Privilegien autoritärer Herrschaft stützt. Qualifiziert die arbeitsteilige Gesellschaft den Künstler als den Spezialisten seines Metiers, so disqualifiziert sie ihn gleichermaßen als politisches Subjekt zur eindeutigen Rollenfunktion.

Die politische Aktivität der Studentenschaft in den Tagen des Arbeitsstreiks durchbrach mit der aktuellen Problematik der Notstandsgesetze das erste Mal die Situation des künstlerischen Fach-
idioten. Diese Durchbrechung war aber nur eine scheinbare Politisierung, weil sie nur eine emo-
tionale Reaktion darstellte und weitgehend nicht kritisch reflektiert wurde.

Die Solidarisierung der Professoren fand in einem unpolitischen Wettbewerbseifer statt, der sich zwar verbal mit den Aktionen identifizierte, aber sowohl die aktuelle politische Situation wie auch die langfristigen gesellschaftspolitischen Aufgaben verdrängte. Was innerhalb der Akademie an Widersprüchen aufzudecken wäre, kann wegen autoritärer Manipulationen und totaler Kontrolle seitens der Professorenschaft durch die auf sich selbst gestellten Studenten in keiner Weise ge-
leistet werden …

Eine geheime Sitzung des Kollegiums der Akademie war nötig, um den Zugeständnissen des Prä-
sidenten gegenüber der politischen Öffentlichkeitsarbeit in der Akademie die Zustimmung der Professorenschaft zu versichern. In geheimer Wahl stellten sich die Professoren bis auf einen hinter das Vorgehen des Präsidenten. Dies geschah aber erst nach einem öffentlichen Aufruf der HSK zur Solidarisierung, dessen Wortlaut folgt:

„Aufruf zur Solidarität“

Wir fordern die gesamte Studentenschaft auf, sich mit jenen Professoren und Assistenten zu soli-
darisieren, die sich der gestrigen Resolution gegen die Notstandsgesetze angeschlossen haben.

Diese Bereitschaft zeigt ein loyales Verhalten dieser Professoren gegenüber der Studentenschaft, welches von einer reaktionären Gruppe innerhalb der Professorenschaft boykottiert werden soll.

Es ist bezeichnend, dass gerade jene Professoren, die im Nazi-Regime sich hinter ihrem scheinmo-
ralischen Künstlertum der Verantwortung zum Widerstand entzogen haben und dadurch zum Mitläufer wurden, auch jetzt wieder versuchen, sich jeglicher gesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen.

Die permanente Statusunsicherheit, die der Kunststudierende auf sich nehmen muss, führt zur Angst. Nicht nur finanzielle Abhängigkeit von Eltern oder Stipendien tragen dazu bei, vielmehr die willkürlichen Entscheidungen der Autoritäten über die Abhängigen. D.h. der Student wird unbe-
wusst an Verhaltenserwartungen von Personen gebunden, die darüber entscheiden, ob er Stipendi-
en bekommt oder nicht, ob er ausstellen darf, in den Werkstätten arbeiten und ob er in die Klasse des jeweiligen Professors wieder aufgenommen wird.

Die Angst und Unsicherheit, die dadurch entsteht, drängt sie in den meisten Fällen zu irrationalen Autoritätsfixierungen und erzeugt Aggressionen gegen Kommilitonen, bei denen eine angstfreie Selbstwahrnehmung inzwischen durch den gemeinsamen politischen Lernprozess möglich wurde. Dieser jahrelange Prozess bewusstloser Abhängigkeit hat die Studentenschaft von der öffentlichen Selbstwahrnehmung aufs weiteste entfernt. Darum das Desinteresse an politischer Bewusstseins-
bildung und die passive Hinnahme irrationaler Vermittlungen durch Lehrende an die Lernenden, die Fixierung an handwerkliche Traditionen, Materialfetischismus und blinde Arbeitswut.

Der Allgemeine Studentenausschuss der Akademie München, dessen Satzungen ausdrücklich zur politischen Bewusstseinsbildung verpflichten, repräsentierte in den vergangenen Jahren augenfäl-
lig durch seine ausschließlich auf die Gestaltung von Festen orientierte Arbeit die zunehmende Interessenlosigkeit der Studenten.

Die überraschend neue Situation, in die die Akademie durch die 2. Lesung der Notstandsgesetze gekommen ist, verbreitete die gefährliche Illusion von Demokratisierung: die Einheit zwischen Lehrenden und Lernenden. Die Professorenschaft bleibt ihr eigenes unpolitisches Opfer, solange sie nur ideell oder verdrängt auf drei Tage Agitation und Protest gegen die Notstandsgesetze zu-
lässt. Die Solidarität der „progressiven“ Fachidioten ist Ausdruck von Zynismus in einer Situation, in der man dem Präsidenten Fortschritt und Selbstbewusstsein zugesteht – der Studentenschaft dafür um so weniger – um sie gerade dadurch auf den alten Teppich zu holen.


tendenzen. Zeitschrift für engagierte Kunst 52 vom August/September 1968, 150.

Überraschung

Jahr: 1968
Bereich: Kunstakademie

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