Materialien 1968

Mao lauert überall

Münchens Studenten gegen den Notstand

Ludwig-Maximilians-Universität, Hörsaal 201. Professor Karl Larenz schätzt die Situation richtig ein und sagt zu, er werde sich nach dem Abstimmungsergebnis richten: entweder Diskussion über die Notstandsgesetze oder reguläre Vorlesung über den Paragraphen 242, den Grundsatz von Treu und Glauben. Das Votum der Studenten fällt knapp zugunsten von Treu und Glauben aus. Doch die Unruhe im Hörsaal steigert sich dermaßen, dass Larenz nach kurzer Zeit abbrechen muß.

Eine Stunde später gelingt es dem Strafrechtler Professor Bockelmann im gleichen Hörsaal nur nach einem Notstandsdisput zu seinem eigentlichen Thema zu kommen – dem urbayrischen Anliegen der Wilderei. Wem dies als Anachronismus erscheint, verlässt den Hörsaal. Die „Fachidioten“, so ein SDS-Sprecher über seine streikunwilligen Kommilitonen, bleiben sitzen.

Nachdem der Konvent der größten Universität der Bundesrepublik am vergangenen Wochenende gegen den Willen des AStA den Vorlesungsstreik (vorerst befristet bis Mittwoch) als Protest gegen die geplante Verabschiedung der Notstandsgesetze beschlossen hatte, war bereits am Montag der Lehrbetrieb fast völlig eingestellt. Indes glich der Lichthof der Universität einer Mischung von Revolutionshauptquartier und Hippie-Happening. Die Brüder Humboldt auf ihren Denkmalssockeln trugen Gasmasken und überdimensionale Ritterkreuze, darunter hatten streikende Studenten ihr „Aktionszentrum“ eingerichtet. Studentinnen tippten auf Matrizen Flugblätter am laufenden Band. Pausenlos ratterten die Vervielfältigungsmaschinen nach den Melodien deutscher Volks- und Kirchenlieder erklangen Notstands-Songs, begleitet von Geige und Blockflöte. „Hört ihr Herrn und lasst euch sagen / unsre Uhr hat null geschlagen / das bedeutet Spannungsfall / Mao lauert überall.“

Die linken Studentengruppen hatten sich von vornherein auf einen Mehrfronteneinsatz eingestellt: Bei den streikunwilligen Kommilitonen, beim AStA, der Ausschreitungen befürchtete, falls Streikbrecher durch Barrikaden am Zugang zur Universität gehindert würden, vor allem aber bei den Münchner Großbetrieben. SDS-Sprecher Rainer Jendis: „Eines der Ziele ist, symbolisch klarzumachen, was eigentlich Aufgabe der Gewerkschaften wäre: Die Verteidigung der Grundrechte durch einen Generalstreik“.

Mehr als 300 Werber, vorwiegend muntere Kommilitoninnen in Minidress, hatten die streikenden Studenten bereits am Montag und Dienstag vor den Toren der Münchner Fabriken und großen Firmen postiert. Sie verteilten das „Streik“-Blatt des „Kuratoriums Notstand der Demokratie“, samt persönlicher Beilage in Form eines hektographierten Streikaufrufs „An alle Mitarbeiter der Firma sowieso“. Das Impressum eines Aufrufs: „Eigendruck im Selbstverlag. Fachschaft Soziologie, Brunhild Fischer-Ritzenhoff, München 13, Konradstraße 6.“

Die um die Solidarität der Arbeiter buhlenden Studenten gewannen zunächst nur langsam an Boden. Als einzige traten Anfang der Woche 80 Arbeiter der Münchner Waggon-Fabrik Rathgeber in einen einstündigen Streik – aus Protest gegen den ihrer Meinung nach lauen deutschen Gewerkschaftsbund. Ein Münchner Gewerkschaftssprecher aber erklärte mit wankelmütiger Stimme: „Studenten fordern uns auf zu streiken. Aber wir sind an den DGB-Beschluss gebunden.“

Nur allmählich formierte sich die linke Anti-Notstands-Gemeinschaft. In einer Resolution forderten die Vorstände der Maschinensetzersparten München – Oberbayern und Landesbezirk Bayern in der IG Druck und Papier alle Organe dieser Gewerkschaft auf, auf den DGB einzuwirken mit dem Ziel, zur Bekämpfung der Notstandsgesetze den Generalstreik auszurufen. Führende Münchner Sozialdemokraten und Gewerkschafter veröffentlichten am Dienstag eine Erklärung, in der es hieß, dass die Zustimmung zur jetzigen Fassung der Notstandsgesetzgebung einen Bruch der Parteiloyalität und eine grobe Missachtung des demokratisch gebildeten Willens innerhalb der SPD bedeute. Landtagsabgeordnete, Jungsozialisten und Gewerkschaftsfunktionäre flüchteten zum Mittel der Pression: jene Münchner Bundestagsabgeordneten, die den Notstandsgesetzen zustimmen, will man bei der Kandidatenaufstellung für die Bundestagswahl 1969 in die Wüste schicken.

Die Polizei ließ die demonstrierenden Studenten zu Wochenbeginn noch gewähren. Auch jene, die als Parodie auf den Marsch zur Feldherrnhalle in SS-Uniform von der Universität durch die Ludwigstraße stadteinwärts zogen. Die Staatsanwaltschaft hatte in diesem Fall das Tragen alter NS-Uniformen als einen nicht strafbaren Protest angesehen. Nur drei große Plakattücher holte die Polizei vom universitätsnahen Siegestor herunter. Auf ihnen stand: „Streik gegen Notstand“ – „Kein zweites 1933“ – „Noch einmal“, dazu ein Hakenkreuz.

Zur gleichen Zeit saß im schwarzen Saal der Münchner Residenz in festlicher Gewandung das bayerische „Establishment“ und gedachte jenes Tages vor 150 Jahren, an dem die erste Verfassung des Landes unterschrieben wurde. Ministerpräsident Alfons Goppel fand die Protestaktionen „unbegreiflich“ und formulierte Sätze wie diesen: „Um so mehr sind wir gehalten und verpflichtet, das, was heute unter den Prätentionen der Gemeinsamkeit und unter den Vorwänden der Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit gegen den Staat als Garanten und Wahrer und Diener des Bürgers und Menschenrechts antritt, um eine gleichgültig wie erfasste, aber den zu seinem Glück über die Gemeinschaft als Selbstzweck zwingende Gesellschaft herbeizuführen, abzulehnen, zu widerlegen und in den Fällen des Rechtsbruchs und der Gewalt mit dem Recht und seiner Macht zu unterbinden.“


Die Zeit 22 vom 31. Mai 1968.