Materialien 1968

Bonn und Karlsruhe schaffen die „Unzucht“ ab

Dem Porno-Film „Krankenschwestern-Report“ ist die Justiz offenbar nicht recht gewachsen. Dem Protest der verunglimpften Schwestern, dem deutlichen Verdikt der Ministerpräsidenten und auch der Staatsanwaltschaften ist es nicht gelungen, ein Verbot des Films durchzusetzen und die Verant-
wortlichen auf die Anklagebank zu bringen. Allerdings: Wer die Entwicklung der Rechtsprechung zum Thema „Unzucht“ verfolgt hat, den wundert das nicht; kaum irgendwo haben unsere obersten Richter so versagt wie in diesem „seelischen Umweltschutz“:

Vor zwanzig Jahren war das noch anders. Am 17. Februar 1954 hatte der Große Senat für Strafsa-
chen am Bundesgerichtshof die Frage, was Unzucht sei, als oberste Gerichtsinstanz in einer Grund-
satzentscheidung klar und überzeugend beantwortet:

„Nun kann es aber nicht zweifelhaft sein, dass die Gebote, die das Zusammenleben der Geschlech-
ter und ihre geschlechtlichen Beziehungen grundlegend ordnen und die dadurch zugleich die ge-
wollte Ordnung der Ehe und der Familie (in einem entfernteren Sinne auch die des Volkes) fest-
legen und verbürgen, Normen des Sittengesetzes sind und nicht bloße, dem wechselnden Belieben wechselnder gesellschaftlicher Gruppen ausgelieferte Konventionalregeln … Normen des Sittenge-
setzes dagegen gelten aus sich selbst heraus; ihre (starke) Verbindlichkeit beruht auf der vorgege-
benen und hinzunehmenden Ordnung der Werte …; sie gelten unabhängig davon, ob diejenigen, an die sie sich mit dem Anspruch auf Befolgung wenden, sie wirklich befolgen und anerkennen oder nicht; ihr Inhalt kann sich nicht deswegen ändern, weil die Anschauungen über das, was gilt, wechseln.“1

Die Gegner dieser an der Schöpfungsordnung und den humanen Grundwerten orientierten Er-
kenntnis haben sich inzwischen auch beim Bundesgerichtshof durchgesetzt. „Die Memoiren der Fanny Hill“ waren für den 1. Strafsenat das geeignete Objekt, in seinem (leider) bahnbrechenden Urteil vom 22. Juli 19692 offenbar werden zu lassen, dass sich die Auffassung bei den Bundesrich-
tern in Karlsruhe um 180 Grad gedreht hat:

„Die Anschauungen darüber, was gemeinschaftsschädlich wirkt und wo demnach die Toleranz-
grenze gegenüber geschlechtsbezogenen Darstellungen zu ziehen ist, sind zeitbedingt und damit dem Wandel unterworfen … Einen solchen Wandel hat aber die allgemeine Auffassung in der jüngsten Vergangenheit offensichtlich durchgemacht. … Angesichts dieser Entwicklung kann die Schilderung geschlechtlicher Vorgänge als solche nicht mehr als unzüchtig im Sinne des § 184 StGB angesehen werden, wenn sie nicht aufdringlich vergröbernd oder anreißerisch ist und da-
durch Belange der Gemeinschaft stört oder ernsthaft gefährdet. Denn das Strafgesetz hat nicht die Aufgabe, auf geschlechtlichem Gebiet einen moralischen Standard des erwachsenen Bürgers durchzusetzen, sondern es hat die Sozialordnung der Gemeinschaft vor Störungen und groben Belästigungen zu schützen.“

Dieser gewandelte Ausgangspunkt lässt nun den Richtern in Karlsruhe jene Fanny-Hill-Memoiren in einem naiv-harmlosen Licht erscheinen; in der Begründung dieses Urteils heißt es:

„Die Erzählung enthält allerdings in dichter Folge eine Vielzahl sehr offener, ins einzelne gehender Schilderungen sexueller Erlebnisse, Vorgänge und Empfindungen, teilweise auch solche perverser Geschlechtlichkeit. In der gesamten Darstellung wird die Sinnenfreude stark herausgehoben, die Sexualität bei alledem aber in den Bereich der allgemeinen Lebensfreude einbezogen … In dem Zusammenhang der jeweiligen Vorgänge muss ferner die freilich auffallende Vielzahl von bildhaf-
ten Umschreibungen der männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane gesehen werden. Es geht nicht an, diese verschiedenen Ausdrücke aus der Darstellung herausgelöst zusammenzustellen und vornehmlich aus dieser Zusammenstellung auf die ,eindringliche sinnliche Wirkung’ und die Un-
züchtigkeit des Romans im ganzen zu schließen.“

Nicht nur in Karlsruhe, auch in München ging man mit schlechtem Beispiel voran. Das Bayerische Oberste Landesgericht hatte schon fünf Jahre vorher mit dem vielbeachteten „Spur“-Urteil vom 22. Januar 1964 die Bürger mit normalem Empfinden und gesunden Grundauffassungen schockiert. Einige Maler und Bildhauer hatten sich unter der Bezeichnung „Spur“ zu einer „Künstlergruppe“ zusammengefunden und Heftchen mit den übelsten Schweinereien verbreitet, deren Wiedergabe hier einfach unmöglich ist; der harmloseste Passus beginnt folgendermaßen: „singend stand ich vor dem locus, mein dünnschiss dampfte und spritzte: halleluja, eigener herd ist goldeswert, gloria in excelsis deo“.

Das Amtsgericht hatte die „Künstler“ wegen der Verbreitung unzüchtiger Schriften verurteilt, das Bayerische Oberste Landesgericht jedoch sah es anders:

„Nach heutiger Auffassung hat die Kunst nicht nur die Aufgabe, dem ,Wahren, Guten und Schönen’ Ausdruck zu verleihen … Entscheidend für den Grad der Vollendung eines Kunstwerks sind viel-
mehr formale Merkmale, wie etwa die schöpferische Leistung, die Verwendung dem Inhalt gemä-
ßer Ausdrucksmittel, die Unterordnung der Teile unter einen beherrschenden Leitgedanken, die Aussagekraft und ,Dichte’ … In diesem Zusammenhang kann auch der Grad der künstlerischen Vollendung eine Rolle spielen; denn künstlerische Unzulänglichkeit kann zur Folge haben, daß für den Beurteiler der Eigenwert der Form gegenüber einem Anstoß erregenden Inhalt in den Hinter-
grund tritt …“

Unsere Vorwürfe brauchen sich nicht auf die Richter zu beschränken. Der 47. Deutsche Juristentag in Nürnberg hat 1968 eine wohlvorbereitete Kampagne gegen den Rest des immerhin noch gelten-
den Sexualstrafrechts unternommen. Ausgerechnet eine Staatsanwältin (Dr. Barbara Just-Dahl-
mann) hat sich dabei hervorgetan:

„Nicht ohne erhebliche Mitschuld der Kirchen beider Konfessionen hat die Abwertung allen ge-
schlechtlichen Tuns durch Jahrhunderte dazu geführt, dass man bei der Mitteilung, etwas Unmo-
ralisches sei geschehen, nur noch an den sexuellen Bereich denkt …“

Die „Abqualifizierung allen geschlechtlichen Tuns außerhalb der Ehe als unzüchtig“ sei Heuchelei, Prüderie, doppelte Moral, Verklemmung usw. Man könne doch nicht ernstlich, „ohne sich zu schämen, sagen, der Geschlechtsverkehr zwischen zwei Menschen, die sich lieben, die gar eine dauernde Lebensgemeinschaft anstreben … sei Unzucht – nur weil der Stempel des Standesbe-
amten noch fehlt …“

Dann folgen Begründungen wie: „Aber diese Zeiten der christlichen Erbaulichkeit sind doch wohl vorbei … Der Christ gehört in die Welt und in der Welt gibt es Dirnen“. Daher seien unter anderem folgende Strafbestimmungen zu streichen: Entführung zur Unzucht, Unzucht unter Ausnutzung einer Dienststellung, unzüchtige Schriften und Sachen und Schaustellungen, Zuhälterei usw. So-
weit die progressive Juristentags-Staatsanwältin.

Diese Tage ist man in Bonn in der Tat daran, das sogenannte Sexualstrafrecht weiterhin zu verdün-
nen und zu verharmlosen. Das im Bewusstsein des Volkes eindeutige und eingebürgerte Wort „Un-
zucht“ soll abgeschafft und durch die spröde Amtsstubenformulierung „sexuelle Handlung“ ersetzt werden. Die Strafbarkeit einer großen Kategorie solcher „sexueller Handlungen“ soll künftig ent-
fallen. Für die Gemeinschaft sei das nicht erheblich, es fehle an der „Sozialrelevanz“. Dabei ist doch kein Lebensgebiet von Natur aus so auf den anderen Menschen bezogen, also in höchstem Grad sozial-relevant, wie das der geschlechtlichen Beziehungen!

Was sich hier diese Wochen in Bonn zusammenbraut, ist eines eigenen Kommentars wert. Die Bilder dazu sind in den Kinoschaukästen an allen Ecken zu sehen.

Inzwischen mag ein präzises Wort aus Karl Rahners Lexikon für Theologie und Kirche (6. Band, Spalte 686) zur Besinnung dienen:

„Im Verlauf des Profanierungsprozesses kann ein Wertkonflikt zwischen Kunst und Sittlichkeit entstehen. Auch echte Kunst kann lasziv sein. In der modernen Malerei und Graphik (und der Verfasser möchte anfügen: auch im Film) wird die Problematik verschärft durch die Tatsache, dass zuweilen aus der Verneinung der sittlichen Wertordnung die geistige Freiheit für die Entstehung neuer Kunstwerke erwachsen ist … Es besteht die Gefahr, dass die Bewunderung für das Kunst-
werk den Blick für die höhere Ordnung der sittlichen Werte trübt …“

Otto Gritschneder

Münchener Katholische Kirchenzeitung, 18. Februar 1973.

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1 BGHSt 6, 46.

2 BGHSt 23, 40.


Otto Gritschneder, Randbemerkungen, München 19843, 426 ff.

Überraschung

Jahr: 1968
Bereich: Zensur

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