Materialien 1969

Sieben wilde Tage

Das deutsche Woodstock, es geschah in Franken -
ein Sommermärchen der Linken aus dem Jahr 1969

Vor der Justizvollzugsanstalt Ebrach putzt ein junger Mann mit einem lärmenden Pusterohr die Beete, die, wie ein Schild besagt, von den Häftlingen gepflegt werden. Wie die Leiterin, wie der Psychologe lässt auch Hauptsekretär Hassler, der durch die Anstalt führt, nichts auf seine Schützlinge kommen. Nur lasch seien sie geworden, so lasch, und wenn doch einer ausbrechen könnte, dann hätte er sich die Freiheit „echt verdient“. Vom „Knast-Camp“, und dass sich hier in Ebrach vor vierzig Jahren viele Wege trennten, dass die einen nur mehr Gewalt kannten und die anderen ihr nur knapp entgingen, davon wissen sie nur aus Büchern. Fiebrige Tage, ein wahnsinniger Sommer, lange her.

„farbe, papierrollen, handabzugsmaschinen, musikinstrumente“ waren mitzubringen, außerdem „kinder, kleinere Zelte, DECKEN/SCHLAFSÄCKE LUFTMADRATZEN, streichhölzer, kameras, filme (. . .) pinsel, proviant, hasch, streichhölzer, trips, wasserfeste kleidung für waldspatziergänge, ölfarbe, plakafarbe, (. . .) steinschleudern, granatwerfer, viel farbe, häftlingskleidung (blaue arbeitshose und jacke), bereitschaftspolizeiuniform, saugpostpapier, richterroben“, gern auch Bälle und „einheitliche trikots“, denn „es geht um den dieterkunzelmannpokal“. Radikale Kleinschreibung war Pflicht damals, die Kunst verlangte danach, es sollte schließlich ein Happening werden.

Granatenwerfer hatte dann doch keiner dabei, aber Musik war bestellt, und „der Bauer“ wollte jeden Tag sechzig Liter Milch spendieren und mindestens ein Schwein. Die „Rote Knastwoche“, zu der in München, Berlin und Frankfurt auf Flugzetteln aufgerufen wurde, sollte in Ebrach stattfinden (ein paar hundert Einwohner, aber „2000 Kühe“), mitten im Steigerwald zwischen den ehrwürdigen Bischofsstädten Würzburg und Frankfurt, also genau dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen.

Dort werden in den Tagen vom 15. bis zum 21. Juli 1969 alle Bilder, die vier Wochen später durch das Musikfestival Woodstock so populär wurden, im kleinen Stil vorweggenommen: Massenhaft junge Leute fallen ein, aber sie wollen nur friedlich Musik hören; ein Bauer stellt ihnen eine Wiese zur Verfügung; Drogen gibt es zuhauf und das entsprechende wilde Treiben; eine italienische Gauklertruppe, sie nennt sich „Uccelli“ (Vögel), bringt einen Hammel mit und beschriftet ihn mit „Hund“. Und Sex. Sex gibt es natürlich auch: „Im Beisein von etwa 200 Personen treibt ein APO-Mädchen innerhalb weniger Minuten mit zwei Männern aus der Gruppe Geschlechtsverkehr“, meldet der Bayernkurier, dessen Autor wahrscheinlich gern dabei gewesen wäre.

Es geht auch sonst schlimm zu: Die versammelten Landstörzer stürmen das Landratsamt Bamberg, toben sich im Büro aus, die Polizei greift ein und sperrt die Randalierer ein, aber die verstopfen das Klo mit Semmelknödeln usw. Es fehlt nicht die Stimme des Volkes, die sich voller Empörung an den bayerischen Ministerpräsidenten Goppel wendet: „Lenke Ihre Aufmerksamkeit auf die Vorgänge im Bamberger Raum, wo die APO sich außerhalb der natürlichen Gepflogenheiten des primitivsten menschlichen Anstandes stellt. Die Außergesetzlichen haben in gröbster Weise die öffentliche Ruhe und Ordnung gestört, das Landratsamt Bamberg besetzt, die Akten durch das Fenster auf die Straße geworfen und sich bei ihrer Festnahme in übelster Form aufgeführt. Diese Personen“, ging das Geschimpfe weiter, „nützen alle Lücken der Paragraphen eines Rechtsstaates aus, benehmen sich wie Tiere, auf die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich ist . . .“ usw. usf.

Wie Tiere, das hat er wirklich an den Ministerpräsidenten depeschiert, der Altphilologe Franz Josef Strauß, 1969 CSU-Vorsitzender und Bundesfinanzminister.

Aber was geschah nun wirklich?

In Ebrach fand sich im Juli 1969 zum ersten und einzigen Mal die unvereinigte Linke zusammen, die Jeunesse dorée der letzten sechziger Jahre. Wie durch eine Telefonkette gerufen, organisiert fast wie ein flash mob, trafen sich hier Andreas Baader und Gudrun Ensslin, die künftigen Anführer der Roten Armee Fraktion (RAF), außerdem Brigitte Mohnhaupt, Irmgard Möller, Juliane Plambeck und Rolf Heißler, lauter Unbekannte, die aber zwei, drei Jahre später jeder von den Fahndungsplakaten kannte. Dazu die Reste der Berliner Kommune 1, Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann, Georg von Rauch, Thomas Weisbecker und Ina Siepmann, und mitten unter ihnen der Chronist dieser Generation, Gudrun Ensslins ehemaliger Verlobter Bernward Vesper, der bis zum Hals voll mit Drogen nach Bamberg gefahren kam, voller Angst auch vor der Wiederbegegnung mit der durch Kaufhausbrandstiftung und fünfzehn Monate Gefängnis geadelten Gudrun. Vesper sah nur „Abbruchstimmung, die Lächerlichkeit und den Todernst der Landguerilla“.

Das „Knast-Camp“ muss, für ein paar Tage wenigstens, ein Kinderparadies gewesen sein, ein Ferienlager der Blumenkinder: Sport, Spiel, Spannung, und die bösen Lehrer stehen schimpfend, aber machtlos am Rand. Eine Woche drauf, am 21. Juli 1969, betrat um vier Uhr morgens mitteleuropäischer Zeit der erste Mensch den Mond. In seinem Raumanzug kann Neil Armstrong kaum fremder gewirkt haben als die Langhaarigen, die durch Ebrach und dann durch die Kreisstadt Bamberg stürmten. Die Berliner, die Münchner ziehen über die Dorfstraße, einmal hierum, einmal herum, lassen sich anschauen in ihren Rüschenhemden, ihren Samt- und Lederjacken, die sie mitten im Hochsommer tragen.

Die Revolution lag in der Luft, die Beatles ließen das Lied aus jedem Transistorradio jaulen, und Mick Jagger gab den Marschtritt für den Straßenkampf vor. In der schlichten deutschen Wirklichkeit war die Revolution längst am Ende. Der SDS hatte sich aufgelöst, der Frust war allgemein, die immer härteren Drogen ersetzten den Aktivisten den Straßenkampf. Entsprechend absurd die Vorstellungen der Missionare aus der Großstadt: dass sie die Bauern aufwiegeln könnten gegen die Obrigkeit, die Lehnsherrschaft.

Vielleicht war an diesem historisch fundierten Weltbild die Abtei Ebrach schuld, die mitten im Steigerwald und ohne Zweifel von den Abgaben der Bauern so groß und mächtig gediehen war. Die Abtei, im Jahre 1127 von Zisterziensermönchen gegründet, war über die Jahrhunderte reich und reicher und prächtiger geworden. Die Äbte hofften, dass Ebrach, das stolze Ebrach, reichsunmittelbar werden könne, nicht mehr abhängig von Würzburg oder dem Herzogtum Bayern, sondern untertan allein dem Kaiser. Ein prunkvolles Treppenhaus wurde ihm errichtet, ein womöglich noch prunkvollerer Kaisersaal, aber der Kaiser, ach, der Kaiser kam nicht. Stattdessen kam 1803 die Säkularisation, und die Mönche mussten ihr Kloster verlassen. Aus Ebrach wurde ein Gefängnis, das schönste Gefängnis der ganzen Welt.

Was die aufgeregten Demonstranten in Ebrach verloren hatten?

An der Uni in München hatte der 21-jährige Philosophiestudent Reinhard Wetter in Polizeiuniform gegen die Überwachung von Vorlesungen durch Zivilbeamte demonstriert. Das war Amtsanmaßung, und an Wetter sollte für die aufmüpfigen Studenten ein Exempel statuiert werden. Hinten im Gerichtssaal saßen – so viel Gewaltenteilung musste sein – der Polizeipräsident und ein Staatsekretär, damit der Ordnung auch gewiss Genüge getan wurde. Der Richter urteilte, was das Gesetz hergab und die Ordnungsmächte haben wollten: acht Monate Jugendstrafe und, nein, keine Bewährung.

Wetter kam erst nach Stadelheim, dann weiter in die Jugendstrafanstalt Ebrach. Der Anstaltsfriseur machte sich gleich mit sadistischer Grobheit über seine langen Haare her, und die Häftlinge drohten ihm: „Komm du nur erst zu uns auf den Saal!“ Er kam aber sicherheitshalber in eine Einzelzelle, durfte nur drinnen arbeiten und sah die anderen bloß beim Hofgang. Sie schlugen den Studierten dann doch nicht zusammen, sondern kamen bald neugierig zu ihm, ließen sich erklären, was er angestellt hatte und suchten seine Hilfe für Eingaben und Beschwerden.

Reinhard Wetter war ein Musterhäftling, auch für den SDS, der eine „Knastablieferungsaktion“ für ihn organisiert hatte. Selbst der stud. jur. Peter Gauweiler, als RCDS-Funktionär geschworener Feind der APO, versicherte den „Kommilitonen Wetter“ auf einer Postkarte seiner Solidarität. In Ebrach hört der Spaß auf. Wetter schraubt Räder für Kinderwagen zusammen, bedruckt Kranzschleifen, gibt als Assistent des Schreinermeisters Werkzeug an die Mitgefangenen aus. Als seine Freunde draußen für ihn demonstrieren und Freiheit für alle politischen Gefangenen fordern, merkt er es kaum. Nur hinaus in die Gärtnerei darf er nicht mehr, denn, wer weiß, vielleicht kommen ihn die Kommunisten doch befreien.

Reinhard Wetter war 1969 das prominenteste Opfer der Staatsmacht, die endlich aufräumen wollte mit dem Protest. Als er dann später im Oktober freikam, war nicht bloß der fröhliche Sommer der Anarchie vorbei, der Häftling kannte die Welt nicht mehr. Ein Eishauch der Entfremdung empfing ihn: der SDS aufgelöst, die DKP gegründet, mit ihr zahlreiche weitere, vorzugsweise stalinistische Kadergruppen. In Ebrach hatte Wetter einige Illusionen aufgegeben, und den Märtyrer wollte er nicht machen. Es ist seltsam: auf dem letzten Foto der Kommune 1, das Reinhard Wetter Brust an Brust mit Uschi Obermaier zeigt, ist im Hintergrund der Filmstudent Holger Meins zu erkennen, der fünf Jahre später von der RAF ausersehen wurde, im Gefängnis den Hungertod zu sterben.

Wetter kam zu Brigitte Mohnhaupt, aber die sprach nicht mehr, sie schwieg nur. Er legte seine Gefängniserfahrung in mehreren Büchern nieder und kehrte schließlich an die Uni zurück, um Jura zu studieren, obwohl „ich Jura noch immer nicht besonders mag“. Die bayerische Justiz verfolgte ihn bis zum Abschluss seines Studiums; das vorgeschriebene Referendariat musste er sich erklagen. Heute ist er Rechtsanwalt in einer Kanzlei gleich hinter der Münchner Fußgängerzone und auf Arbeitsrecht spezialisiert. Er hat Glück gehabt. Seine damalige Freundin Irmgard Möller schloss sich der RAF an, wurde 1972 gefasst und blieb wegen Beteiligung an den Mordanschlägen der RAF im Gefängnis bis 1995. Wetter hat sie nie besucht; er vermocht’s nicht.

Wer ahnt all das in den wilden Tagen von Ebrach? Nach ihrer aufsehenerregenden Prozession über die Dorfstraße lagern die Kommunisten auf einer Wiese am Waldrand. Der Schriftsetzer Christoph Mück, eben achtzehn, ist mit einem Mädchen („meine erste Freundin!“) von Bamberg hinaus in den Wald gezogen, weil beim Knastcamp die Krautrock-Gruppen Amon Düül und Tangerine Dream auftreten sollten. Es wird kalt am Abend, und Mück verzieht sich unter die mitgebrachte Decke, aber „passiert“ ist nichts, vor allem nicht das, was der Bayernkurier gern gesehen hätte.

Im Juli 1969 geht die Zeit der ersten Großen Koalition zu Ende. Wahlkampf herrscht in Westdeutschland, der Außenminister Willy Brandt will nach der Wahl im September Bundeskanzler werden, und genau das will der rhetorisch versierte Strauß mit allen Mitteln verhindern. „Dieser Terror“, drängt der staatsbürgerlich besorgte Finanzminister, „muss jetzt endlich gebrochen werden, damit die Bürger nicht das Vertrauen zum demokratischen Staat und zur Handlungsfähigkeit seiner Organe verlieren.“

Die Organe handeln wie bestellt: Der Landrat schreitet ein, ändert spornstreichs die Vorschriften, entdeckt sanitäre Mängel, und die angemietete Wiese darf nicht mehr genutzt werden. Aufgebrachte Bürger sind pflichtbewusst aufgebracht und melden der Polizei, was sie sehen müssen: Kommunisten, Anarchie, rote Fahnen, die Revolution. Christoph Mück kann nicht glauben, was er sieht: Die Kiffer aus Berlin nehmen in einem Lebensmittelgeschäft mit, was es nur so gibt und greifen sich beim Herausgehen gleich noch eine Steige mit Pfirsichen. Rechtfertigung: „Aber die wissen doch, dass wir klauen!“ Das Volk in seiner Wut steht nicht auf gegen die Obrigkeit, sondern greift einen linken Buchladen in Bamberg an. Einige rühmen sich, weil sie endlich dem Fritz Teufel „eine Ohrfeige verpasst“ haben.

„Es herrschte eine wirklich bedrohliche Stimmung im Ort“, erinnert sich Alice Schwarzer, die als junge Reporterin der Zeitschrift Pardon dabei war und mitsamt ihrem Fotografen von einem Schläger angegriffen wurde. Aus der ganzen Region seien „Holzfäller und andere Burschen“ angereist, um die Eindringlinge aus der Großstadt schlicht „plattzumachen“. Man kannte sie ja, diese Studenten aus der Kommune, freie Liebe, lange Haare, aber nicht arbeiten wollen. Am Ende musste die Polizei, die in München so beleidigt auf das unrechtmäßige Tragen einer Uniform durch den Demonstranten Wetter reagiert hatte, die Sympathisanten des Häftlings vor dem Volkszorn beschützen. Sie „wären wohl allesamt zumindest zusammen-, wenn nicht totgeschlagen worden, wenn die Polizei nicht bis zum Morgengrauen einen Ring um sie gebildet hätte“, glaubt Alice Schwarzer.

Das Sommermärchen, wie könnt es anders sein, es ging traurig aus. Die Zugereisten zog es nach den wilden Tagen von Ebrach wieder fort: zu den Palästinensern, nach Frankreich und Italien und auf jeden Fall in den Untergrund zum bewaffneten Kampf. Wenn sie dabei nicht starben wie Baader und Ensslin, wie Weisbecker und Rauch, wie Siepmann und auf seine traurige Weise auch Bernward Vesper, wanderten sie auf viele Jahre ins Gefängnis und sind fürs Leben zerstört. Fritz Teufel, der bei der Personenfeststellung in Bamberg als Beruf „Fotomodell“ angegeben hatte, einst Clown der Bewegung und heute längst als großer Befreier in die Nachkriegsgeschichte kooptiert, lebt in Berlin und ist sehr krank.

Kunzelmann? Der ewige Aktionist verbrachte ebenfalls mehrere Jahre im Gefängnis, amtierte dann als Abgeordneter der Alternativen Liste in Berlin, brachte das eine oder andre Ei auf dem Kopf des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen aus, schrieb seine Memoiren („Leisten Sie keinen Widerstand!“) und ließ sich dann für tot erklären. Natürlich lebt er trotzdem und feiert am 14. Juli, am Jahrestag des Sturms auf die Bastille, seinen siebzigsten Geburtstag.

Willi Winkler


Süddeutschen Zeitung vom 11./12. Juli 2009.