Materialien 1969

Eintritt ins Mittelalter

… Eine Kollegin riet mir dann: „Du gehst zum Augustiner, ein Fressgeschäft ist alleweil das Beste.“ Das war 1967.

Was ich bei den Augustiner Gaststätten vorfand, war wirklich tiefstes Mittelalter. Das Wort „Arbeitsrecht“ war in diesem Betrieb total unbekannt.

Die Arbeitszeit lag bei sechzig Stunden in der Woche, Überstundenvergütung gab es nicht, Dienstpläne existierten gerade mal für eine Woche, sie wurden am Montag früh ausgehängt. Am Wochenende mussten die Leute zum Küchenchef gehen und fragen, wann sie in der nächstfolgenden Woche zu arbeiten hätten. Der Tarifurlaub war minimal, und oft wurde er auch nur ausbezahlt. Ich habe erlebt, wie der Betriebsleiter zur Bedienung sagte: „Du, Centa, am Montag brauchst Du nicht in Urlaub gehen, weil, wir brauchen Dich und haben keine Leute.“ Da antwortete sie: „Na ja, dann bleibe ich halt da; zahlen sie mir den Urlaub aus?“ Er: „Ja, geh nur hinauf ins Büro – dort wird er dir ausbezahlt.“ Es war gang und gäbe, dass der Urlaub ausbezahlt wurde.

Kündigungsfristen wurden nicht eingehalten – die Leute wurden wegen Lappalien fristlos entlassen. Viele wohnten in einer Personalunterkunft und standen dann ganz kurzfristig auf der Straße. Das Weihnachtsgeld war sehr niedrig: Das Servicepersonal, das schon lange da war, bekam Anfang Dezember 100 Mark. Wer erst einige Jahre dabei war, erhielt nur 50 Mark und zwar zwei Tage vor Weihnachten. Also das war nicht zu fassen.

Ich denke noch heute mit Schrecken an diesen rüden Umgangston. Die Leute wurden ausgebeutet und hatten Angst, sich zu wehren. Ich sagte schon bald zur Lohnbuchhalterin: „Wissen Sie was, da bleibe ich nicht. Dies alles ist so furchtbar – so etwas habe ich überhaupt noch nicht erlebt! In dem Betrieb kann man doch nicht arbeiten.“ Sie sagte: „Nein Frau Dieling, bitte schön, bleiben Sie. Sie werden sehen, es ist nicht so schlimm. Vielleicht momentan für Sie ein bisschen überraschend, aber da gewöhnt man sich dran. Und außerdem, Sie kriegen doch jeden Tag, wenn Sie nach Hause gehen, ein Paket Wurst.“ Ich meinte: „Naja, zumindest bleibe ich für die Probezeit.“ Aus der Probezeit sind dann zwanzig Jahre geworden.

Erster Schritt: Gründung eines Betriebsrats

Ich versuchte dann, einiges zu verbessern. Der Augustiner hatte keinen Pächter, er gehörte zur Brauerei. Den Betriebsleiter dort hatte ich schon einigermaßen im Griff, doch ich wusste auch, viel kann ich mir bei dem nicht herausnehmen. Vorerst war wichtig, dass ich mich selber absicherte. Diese ganze Situation im Betrieb konnte ich nur verbessern, wenn ein Betriebsrat gewählt wird. Der bietet dann per Gesetz den Kündigungsschutz, wodurch man natürlich gegenüber der Geschäftsleitung eine viel stärkere Position hat.

Ich nahm Kontakte mit der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten auf und wir wählten dann tatsächlich einen Betriebsrat. Es war der erste Betriebsrat im Münchner Gaststättengewerbe. Die Beteiligung der 90-köpfigen Belegschaft war sehr mager, die organisierten Mitglieder konnten wir an einer Hand abzählen.

Die Wahl fand in der Kegelbahn statt und – naja, wir kriegten das ganz gut hin. Wir hatten eine Bedienung, die Selma, die war eine ehemalige Volksschauspielerin. Die stellten wir als erste Vorsitzende auf, weil ich mich nicht traute. Ich hatte große Hemmungen zu reden. Selma konnte das. Ich dachte mir: „Das macht gar nichts, die stellen wir jetzt da vorne hin – und ich mache die Arbeit.“ Ich war dann Stellvertreterin und Schriftführerin, ich wusste ja, wie alles geht.

Die Selma hatte nicht die geringste Ahnung von einem Betriebsrat. Für mich war es aber dann doch nicht so einfach, denn wenn ich mit ihr verabredete, sie solle dies und das sagen, dann machte sie es nicht. Vom Büro aus hatte ich aber natürlich alle Möglichkeiten. Wenn ich die Leute eingestellt habe, war die nächste Frage gleich nach der Gewerkschaft.

Erste Betriebsversammlung

Für unsere erste öffentliche Betriebsversammlung trafen wir uns mit dem Fachsekretär unserer Gewerkschaft, fertigten Plakate an, ich schrieb die Arbeitsberichte und kriegte alles ganz gut hin. Dann war die Betriebsversammlung. Wenn ich daran denke, könnte ich heute noch lachen. Die Selma ging an dem Nachmittag erst mal zum Friseur und zur Kosmetik. Sie behängte sich mit viel Schmuck – war also recht schön anzuschauen. Dann trug sie meinen Arbeitsbericht vor. Am Ende der Versammlung fragte sie mich: „Du, – wie war ich?“ Sie hatte ihren großen Auftritt zwar nicht verstanden, aber dafür genossen.

Betriebsratsvorsitzende

Nach zwei Jahren legte ich ihr nahe, zurückzutreten und das akzeptierte sie auch. Nach diesen zwei Jahren mussten wir bereits Neuwahlen abhalten, denn die Betriebsräte und ihre Ersatzleute waren zum Teil schon wieder aus dem Betrieb ausgeschieden. Aber das Ergebnis war dann schon besser. Ich ließ mich zur Vorsitzenden wählen, das delegierte ich jetzt nicht mehr.

Einige Jahre später waren schon 70 Prozent der Belegschaft organisiert. Die Beteiligung bei Betriebsratswahlen lag bei neunzig Prozent. Das waren wirklich schöne Ergebnisse.

Aber man muss im Gastgewerbe dafür erhebliche Überzeugungsarbeit leisten. Das ist tatsächlich das A und O.

Allmähliche Verbesserungen

Als erstes Ziel nahmen wir uns das Weihnachtsgeld vor. Wir setzten durch, dass es am 30. November ausgezahlt und mit dem Lohn versteuert wird. Das hört sich einfach an, aber es war mühsam. Mitunter war es zum Auswachsen.

Dann hoben wir die Urlaubssperre auf. In den Gaststätten durften die Leute während des Sommers keinen Urlaub nehmen, da dies Saison sei. Ich musste denen also klar machen, dass eine Gaststätte wie der Augustiner in der Neuhauser Straße kein Saisonbetrieb ist. Der ist das ganze Jahr durchgehend geöffnet. In Garmisch oder Berchtesgaden gibt es Saisonbetriebe, aber doch nicht bei uns. Die Urlaubssperre wurde dann auch abgeschafft.

Dann haben wir als erste Gastwirtschaft in München, noch vor der tariflichen Regelung, die Fünftagewoche durchgesetzt. Da bin ich heute noch stolz drauf. Wir verklickerten der Brauereidirektion, dass es für alle Vorteile hat, wenn sie am Sonntag zusperren. Wir haben also am Sonntag einen Ruhetag eingelegt, und den zweiten freien Tag kriegten die Arbeitnehmer unter der Woche. Damit war alles wunderbar.

Als nächstes erkämpften wir die Jahressonderzahlungen für erschwerte Arbeitsbedingungen und den Abbau des Teildienstes. Teildienst hieß, dass die Leute am Nachmittag immer Zimmerstunde hatten. Sie mussten ja schon ganz früh aus dem Haus gehen und kamen erst nachts zurück. Mittags mussten sie arbeiten. Deshalb hatten sie am Nachmittag drei Stunden frei.

Aber das war natürlich zu kurz, um heimzufahren. Die saßen nur herum, lösten Kreuzworträtsel oder gingen ins Cafe, danach mussten sie wieder arbeiten. Das war entsetzlich. Wir sorgten dafür, dass nun zwei Dienste eingerichtet wurden: der Frühdienst bis zum Nachmittag und der Spätdienst im Anschluss. Das funktionierte wunderbar. Die Dienstpläne hingen dann schon für zwei Wochen im voraus aus, damit die Leute wirklich ihre Dienst- und Freizeit einteilen konnten. Um das durchzusetzen, brauchten wir wieder Betriebsvereinbarungen und mussten einen Mordszirkus durchstehen.

Auch so „Kleinkram“ setzten wir durch. Zum Beispiel rutschfeste Fliesen an den Schenken. Was hat es die Bedienungen immer hingehauen, mit dem Bier. Das war schlimm. Wir veranlassten auch, dass leichtes Geschirr angeschafft wurde.

Oder wir bewirkten, dass Arbeitsjubilare geehrt wurden. Das erste Mal hätte ich lachen können. Alle waren da, nicht nur die „25-Jährigen“, sondern auch die „30-Jährigen“ und die „40-Jährigen“. Vorher hatte niemand daran gedacht, dass man die Leute ehren könnte. Im Restaurant wurde das schönste Service, man kann auch sagen: „die schönste Station“ hergerichtet, die Geschäftsleitung, die Brauereidirektion, der gesamte Betriebsrat, alle waren da. Die Jubilare bekamen einen Krug von der Brauerei, eine Urkunde und 600 Mark im Kuvert. Das war natürlich eine Riesenschau. Es war wunderbar.

„Sozialarbeit“

Teilweise fühlte ich mich eher wie eine Sozialarbeiterin und nicht wie eine Betriebsrätin. Wir hatten viele sozial Schwache und viele Obdachlose im Betrieb, hauptsächlich unter den Spülerinnen und den Küchenhelfern. Es arbeiteten auch viele ausländische Arbeitnehmer bei uns, vor allem für die Frauen gab es immer wieder Schwierigkeiten bei den Ämtern und Behörden.

Zu der damaligen Zeit gab es das Kreisverwaltungsreferat noch nicht, man musste also immer in die Ettstraße ins Polizeipräsidium hinübergehen. Lohnsteuerkarten, Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis mussten dort beantragt und abgeholt werden. Oft kamen die Frauen zu mir, weil sie sich fürchteten, selber hinzugehen. Ich wunderte mich, wovor die eigentlich Angst haben, und deshalb bin ich mal mitgegangen. Der Beamte am Schalter raunzte nur: „Was is’n?“ Die Frauen kamen aus der Türkei oder sonst woher und verstanden sicherlich nicht: „Was is’n?“ Wenn sie ihm signalisierten, dass sie ihn nicht verstünden, dann raunzte er sie gleich wieder an. Es herrschte ein schlimmer Ton.

Ich kannte glücklicherweise den Chef von der Lohnsteuerstelle und sprach ihn darauf an. Ihm war schon klar, was da passiert, aber er meinte, das ließe sich nicht so schnell ändern. Er riet mir, in Zukunft den jeweiligen Personen einfach einen Zettel mitzugeben und direkt zu ihm zu schicken. Danach wurden sie bestens betreut …

Erika Dieling


Ingelore Pilwousek (Hg.), Wir lassen uns nicht alles gefallen. 18 Münchner Gewerkschafterinnen erzählen aus ihrem Leben, München 1998, 41 ff.