Materialien 1969

Streikagitation bei den Müllarbeitern

Im Juli hatten die Arbeiter-Basisgruppen durch ein Eingreifen in die Tarif„auseinandersetzungen“ der IG Metall mit der Kampagne „Klassenkampf gegen Wahlkampf“ begonnen. Die dadurch in der Arbeiterschaft geschaffene Basis führte dazu, dass sich auf das Flugblatt Nr. 5 („DER STREIK ROLLT“) Arbeiter aus verschiedenen Betrieben meldeten; einige von ihnen fragten direkt „Wir wollen streiken, wie machen wir das?“. Die Zusammenarbeit mit diesen Arbeitern führte zum Warnstreik bei Zündapp. Offensichtlich muss dieses Flugblatt Nr. 5 auch in die Hände einiger Arbeiter bei der Müllabfuhr gekommen sein, denn sie riefen an und beriefen sich dabei auf dieses Flugblatt.

Aus dem Kontakt mit diesen Arbeitern entwickelte sich die Streik-Agitation der Arbeiter-Basis-
gruppen, die wir im folgenden einmal zeitlich und einmal durch die ersten zwei verteilten Flug-
blätter darstellen. Ausführliche Streikprotokolle sind in der Dokumentation der Arbeiter-Basis-
gruppen zur Kampagne „Klassenkampf gegen Wahl‚kampf’“ enthalten.

Montag, den 22. September: Agitation in der Mittagszeit bei den Abladestellen für die Müllab-
fuhrwagen und den Depots. Fast nur die Fahrer kommen mit zu den Abladestellen und in die Depots, deswegen wurden ihnen die Flugblätter zur Weitergabe an ihre Kollegen mitgegeben; ebenso wie an den folgenden Tagen konnte mit den Fahrern zum Teil recht ausführlich diskutiert werden. Fast alle waren grundsätzlich für Streik, glaubten jedoch nicht recht daran, dass er zu-
stande kommt. Während die Arbeiter meinten, dass man streiken solle, wenn bei den Verhand-
lungen am Mittwoch nichts herauskommen sollte, agitierten wir dahingehend, dass es besser ist, während der Verhandlungen zu streiken — siehe Argumentation auf dem 2. Flugblatt.

Dienstag: Agitation bei Arbeitsbeginn in den Betriebsbahnhäfen Sachsenstraße und Neußer Straße.

Mittwoch (Tag, an dem die ÖTV und die Vertreter der Gemeinden in Stuttgart verhandelten): In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch hatten wir auf den Wagen in den Betriebahnhöfen Aufkleber angebracht, auf denen für Mittwoch zum Streik aufgerufen wurde; Agitation vor Arbeitsbeginn in den beiden Betriebsbahnhöfen; die Arbeiter lassen sich weitere Aufkleber geben und kleben sie an die Wagen; 2. Flugblatt; Streik.

Donnerstag, 2. Oktober: Flugblatt und Diskussionen in den Betriebsbahnhöfen

Freitag: 3. Oktober: Flugblatt und Diskussionen in den Betriebsbahnhöfen

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1. FLUGBLATT (Montag, 22.September 1969)

Kolleginnen und Kollegen, in Kaiserlautem, Offenbach, Wanne-Eickel, in Nürnberg, in Duisburg, in Mühlheim/Ruhr und in Berlin lassen sich unsere Kollegen nicht mehr länger vertrösten. Sie warten nicht mehr darauf, bis die Herren von der ÖTV sich endlich mit den „Herren“ Unterneh-
mern auf einen Termin für die längst überfällig gewordenen Tarifverhandlungen geeinigt haben. SIE STREIKEN!

UND WAS IST MIT DEM LOHN IN MÜNCHEN ?

Er ist niedriger als in vielen anderen Städten, z.B. Hamburg,. Frankfurt und Braunschweig. Nämlich 3,65 im ersten und zweiten Jahr, und nach zehn Jahren Arbeit ganze 45 Pfennig mehr und das seit zwei Jahren. Die nicht sehr großen Zulagen, die man uns gewährt, fallen in der Altersversorgung, ja sogar bei Urlaub und Krankheit, weg.

Dabei ist München eine der Großstädte mit den höchsten Lebenshaltungskosten. Von den Preis-
erhöhungen in den letzten zwei Jahren können wir alle ein Lied singen. Von den Semmeln bis zur Miete ist alles teurer geworden. Mehr, und teuere Verpackungen; wir müssen sie doppelt bezahlen. Erstens mit unserer Arbeitskraft (wir müssen sie weg schleppen) und zweitens mit unserem Geld-
beutel.

Bei der letzten Grauen Kreis Mieterhöhung wurden natürlich nicht zuletzt die sogenannten Sozial-
wohnungen der Stadt München und der Gewerkschaft (Neue Heimat) ganz schön teurer.

Die Herren im Rathaus haben sich nicht etwa gefragt, ob wir mit unserem Hungerlohn die Miete überhaupt bezahl en können.

Es wird Zeit, dass wir uns selber fragen, ob wir noch mitmachen. Für die schwere Dreckarbeit, die wir täglich mache, kriegen wir sogar noch weniger als unsere Kollegen in anderen Betrieben. Mei-
nen die da oben denn, dass wir billiger leben können? Bestimmt nicht! Aber: Freiwillig werden sie uns nicht mehr zahlen.

Nicht genug damit, dass sie uns mehr als schlecht bezahlen. Dafür dürfen wir auch noch über das festgesetzte Maß hinaus schuften. Ist ein Kollege von der Fuhre krank oder im Urlaub, ist es Glücksache, wenn ein Vertreter kommt. Ansonsten müssen wir auch seine Arbeit noch nebenbei machen, und bekommen keinen Pfennig mehr. Früher gabs dafür mehr Geld — heute ist das auch noch abgeschafft.

Fragen wir den Betriebsrat, oder beschweren wir uns bei der Stadt, dann ernten wir mitleidiges Achselzucken und die Zusage, dass alles noch einmal besser würde. Wir wollen aber nicht irgend-
wann eine Verbesserung, sondern JETZT.

Wie wichtig wir für diese Gesellschaft sind, hat man in New-York, Paris, Rom am deutlichsten gesehen, als unsere Kollegen dort streikten. Wir haben es in der Hand, ob wir uns weiterhin mit dem wenigen zufriedengeben, oder ob wir die „Herren“ zwingen, uns mehr zu geben.

Aus Profitgründen werden heute viele Güter des täglichen Bedarfs so hergestellt, dass sie nach kurzer Zeit schon kaputt sind und neu gekauft werden müssen (z. B. Glühbirnen könnte man – wenn man wollte – heute so herstellen, dass sie nicht nur ein paar Monate sondern Jahre halten). Aber wir, die den verschlissenen Schund abtransportieren müssen, werden am schlechtesten be-
zahlt.

Wir fordern eine sofortige erhebliche Lohnerhöhung, Fortbezahlung aller Zulagen im Urlaub, Krankheitsfall und bei der Altersversorgung – rückwirkend für das Jahr 1969. Diese Erhöhung darf nicht auf die tarifliche Lohnerhöhung angerechnet werden, denn sie ist notwendig zur Deckung der schon während der sehr langen Laufzeit des alten Tarifvertrages erfolgten Preissteigerungen. Außerdem sehen wir nicht mehr ein, warum unsere Mehrarbeit, die durch Urlaub oder Krankheit von Kollegen notwendig wird, nicht bezahlt wird.

Wir fordern, dass die Tarife nicht erst im Januar erhöht werden.

▓  Wir fordern, dass sofort verbindliche Tarifverhandlungen zwischen ÖTV und dem Bund, den Ländern und den Gemeinden geführt werden.

▓  Wir fordern, dass die Tarifverhandlungen nicht aus Rücksicht auf den Wahlkampf hinausgezö-
gert werden.

In der Zeitung konnten wir lesen, dass die ÖTV-Kreisverwaltung München sagte: „Wir wollen und können die Kollegen nicht aufhalten, wenn sie streiken wollen.“

Nehmen wir die ÖTV beim Wort! Die Kollegen bei Zündapp haben den Anfang gemacht: sie haben sich nicht darauf beschränkt, 40 Pfennig mehr in der Stunde nur zu fordern, sondern um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, traten sie am Freitag in den Warnstreik. Auf einmal hat es nun die Geschäftsleitung sehr eilig, mit ihnen über ihre Forderung zu verhandeln.

Unter dem Druck der Streiks unserer Kollegen trifft sich nun morgen am Dienstag die Bundesre-
gierung zur „Erörterung“ der Tarifsituation im öffentlichen Dienst. Wir sollten durch unser ge-
schlossenes Handeln an diesem Dienstag unmissverständlich klarmachen, dass wir uns nicht mit „Erörterungen“ werden abspeisen lassen, sondern verbindliche und sofortige Verhandlungen über unsere Forderungen verlangen!

ARBEITER. BEI DER STÄDTISCHEN MÜLLABFUHR
zusammen mit den Arbeiter-Basisgruppen

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2. FLUGBLATT (Mittwoch, 24. September)

Was sein muss, muss sein!

Die Bundesregierung hat es gestern abgelehnt, vor der Bundestagswahl über Lohnerhöhungen im Öffentlichen Dienst, Transport und Verkehr zu verhandeln. Kiesinger und Strauß: „Wir machen den Arbeitern keine Wahlgeschenke.“

Was heißt hier schenken? Es geht nicht darum, dass uns etwas geschenkt wird. Sondern es geht um unser Recht, für unsere tagtägliche schwere Arbeit, wenigstens soviel bekommen, dass wir die stei-
gende Preise bezahlen können. Wenn hier in dieser Gesellschaft einer was verschenkt, dann sind es doch die Arbeiter.

Die Bundesregierung hat die Verhandlungen auf Oktober vertagt. Aber der Vorsitzende der ÖTV, Klunker, hat uns nicht mehr zu sagen, als dass er das bedauert. Was ist denn das für eine Gewerk-
schaft, die nicht mehr kämpfen kann, sondern nur noch zu „machtvollen“ Bedauerungserklärungen fähig ist.

Heute verhandelt die ÖTV mit den Vertretern der Länder und Kommunen. Wenn wir uns nicht wieder mit einer Bedauerungserklärung der Gewerkschaftsführung oder mit ein paar Pfennigen abspeisen lassen wollen, müssen wir selber für unsere Interessen handeln.

Wenn die Vertreter der Länder und Kommunen heut mit den ÖTV-Funktionären am grünen Tisch sitzen, dann sollen sie wissen: Sie haben es nicht mehr mit wachsweichen Funktionären, die den Wahl„kampf“ dem Lohnkampf vorziehen, zu tun, sondern mit uns Arbeitern:

Darum darf heute keine Fuhre ausfahren!Probieren wir doch mal, ob unsere Wägen quer durch die Einfahrt zu kriegen sind. Wenn wir Fahrer ausbleiben, dann wissen die Kollegen, dass es so weit ist. Sie warten drauf.Die Tonnen hör’n das klappern auf, klettern nicht die Löhne rauf!

ARBEITER BEI DER STÄDTISCHEN MÜLLABFUHR
zusammen mit den Arbeiter-Basisgruppen


apo press. Forum der Arbeiterbasisgruppen und der Lehrlinge, der sozialistischen Studenten & Schüler in München 27, 28/II vom 28. Oktober 1969, 10 ff.