Materialien 1957
Wenn du zur Urne gehst ...
Es ist soweit, alle Staatsgewalt geht wieder einmal vom Volke aus, für 24 Stunden wenigstens. Für einen ganzen Tag, Brüder, sind wir Demokraten, praktizieren Volksgemeinschaft in Reinkultur, wählen. Wählt ihr? Was wählt ihr, Brüder? Ja so, ihr wählt die Freiheit, den Wohlstand und den Frieden, soziale Sicherheit für alle, Glück für die Alten und die Jungen, ihr wählt das Gute und Gerechte, das Wahre, das Edle, das Große, was denn sonst, nicht wahr? Und die Partei? Nun, die spielt doch dabei keine Rolle, denn was ihr wählt, Brüder, Kumpels, Freunde, Genossen, verspricht euch schließlich jede Partei, seht euch nur ihre wortreichen Versprechungen an, mit denen sie euch füttern. Ist eine, auch nur eine einzige darunter, die euch nicht all das, wonach ihr euch sehnt, verheißt?
O Bruder, Wähler, König für 1440 Minuten, armselige Eintagsfliege! Zieh einen Frack an, wenn du zur Urne gehst, du gehst zu deiner Beerdigung, denn was auch immer du wählst, du wählst falsch. Du wählst günstigstenfalls vier Jahre Sicherheit für die Abgeordneten, auf dass sie sich auf deine Kosten mästen und mit den papiernen Versprechungen den Hintern wischen. Denn, glaubst du vielleicht, Bruder, es sei ihnen, die diesen Veitstanz aufführen und um eine Gunst buhlen, es sei ihnen ernst mit dem, was sie dir gleisnerisch vorgaukeln?
O ihr Kleingläubigen, die ihr mit bittrem Ernst eure Dummheit zu Markte tragt und glaubt, ihr tätet eine heilige Pflicht. Für wen? hohnlächelt die Asche der Betrogenen verflossener Jahrhunderte. Möge sie die Schlitze der Urnen verstopfen, dass nichts mehr hinein- noch hinausginge, dass sie umsonst dasäßen und warteten auf eine Stimmenmehrheit, die ihnen den Freibrief gäbe, euch übers Ohren zu hauen und zu lackmeiern, wiederum vier Jahre lang.
Ja, geht nur hin und wählt die Partei eures leichtgläubigen Herzens!I Wie auch immer sie heißt, sie hält sich an die gleichen Spielregeln wie alle, die eure Hirne mit den lockenden Losungen umnebelten, die auch dann die gleichen sind, wenn sie anders klingen. O Zeit, in der wir leben, o Welt, die betrogen sein will! Was hat es noch je genützt, dass der eine schwarz wählte, der andere weiß und der dritte rot? Wasserfarben waren es von je, die der erste Alltagsregen verwischte, verwässerte, unterspülte, und jede, die für den Frieden war, rüstete für den Krieg, und die für Sicherheit war, schuf die Unsicherheit. Keine aber hielt, was sie versprach, und fand dann hinterher Gründe, irgendwelchen Umständen die Schuld an ihrem kläglichen Versagen zu geben. Stellt euch vor, Freunde, es machte in den Hirnen aller Wähler „klicks“! Es gäbe bei allen einen kleinen, schmerzhaften Ruck, und der Denkapparat, der kleine, träge Faulpelz, träte in Aktion! Stellt euch vor, am Tage der Wahl blieben alle daheim, alle, Männlein und Weiblein, keiner ginge zur Urne, alle säßen im trauten Kreise der Familie und spielten „Mensch ärgere dich nicht“ und ließen Wahl Wahl sein! Könnt ihr euch das vorstellen, Brüder, Freunde, Kumpels, Genossen, blieb euch noch so viel Phantasie erhalten im Nebel der Wirtschaftswunder?
Wie sie dann dahockten, die Verantwortlichen, die kleinen und die großen Schmarotzer, wie ihre Knie zitterten, ihre Ohren schlackerten, wie ihre Temperaturen stiegen und wie sie sich verzweifelt anstarrten, die Roten, die Weißen und die Schwarzen. Sie hätten dann plötzlich die gleiche Farbe, die sie sowieso haben. Hei, wäre das ein Schauspiel besonderer Art, ein Schwank, wie ihn die Welt noch nie belacht! Sie gingen und öffneten die Urnen ihres Hoffens, und nichts, rein nichts wäre darin, nicht der Schein eines Zettelchens! Niemand wurde gewählt, niemand könnte sich mästen für vier Jahre, weil es bei allen im rechten Moment „k1icks“ machte. Welch Schauspiel, Freunde, welch echte Demokratie, aber ach …
… es macht nicht „klicks“. Ich sehe euch wandeln, Brüder, wie in alten Tagen, pflichtbewußten Gesichts und gesteiften Hemds, zur Urne des heiligen Betrugs wie zu eurer eigenen Beerdigung, elendes Stimmvieh, das die Spesen seiner Verführer bezahlt. Die einen wählen schwarz, die anderen weiß und die dritten rot, und es ist alles dasselbe, ein schmutziges Rosa in Wirklichkeit, eine graue Alltagsfarbe im Feiertagskleid der wohltönenden, aber leeren Versprechungen. Ihr werdet ihnen euer Votum geben, und sie werden sich die Hände reiben, werden sich ins Fäustchen lachen und sagen: Das Volk hat seine politische Reife bewiesen. O Brüder, wendet euch ab und verhüllet euer Haupt!
Wenn du zur Urne gehst, Bruder Wähler, vergiß den Kranz nicht und die schwarze Schleife und das Brett vor dem Schädel, denn du gehst zu deiner Beerdigung! Du wählst deinen Verführer, der insgeheim über dich lacht, und siehe, das unterscheidet den Menschen vom Vieh, das das geheime und gleiche, direkte und allgemeine Wahlrecht nicht kennt, mit dem man seinen Verführer wählt. Du aber wählst ihn, Bruder Wähler, du weißt es nur nicht.
Bernhard Stade
Simplicissimus 37 vom 14. September 1957, 578.