Materialien 1969

Crash. Dichterlesung 1969

Bevor die Lindwurmstraße unter die Unterführung geht, ging es in das Crash, Jim Morrison warb melancholisch umdüstert seit über zwanzig Jahren für den Eintritt, eine der ersten Diskotheken, in denen auf einen Stil gesetzt wurde, der einmal als dunkel, laut und erregend gegolten hat. Kein Platz mehr für Tische und Bänke, ein unerhörter Vorgang, nur noch leere Fläche: riesengroße Lautsprecherboxen, aber kein Platz mehr, sein Bier hinzustellen. Wer dabei war, hatte das Gefühl, dabeizusein, dass eine neue Zeit anbrach.

Sogar eine Dichterlesung wagte das Crash abzuhalten mit vollkommen unbekannten Dichtern, vier Dichter waren eingeladen, und sie durften die vollkommen leere Fläche, die sonst Jim Morrison füllte, mit Literatur füllen; sogar der Bayerische Rundfunk war dabei. Gekannt hat man keinen von den vieren, der erste hieß Alf Poss.

Als er auf den Stuhl kletterte, der den Dichtern zugedacht war, sagte jemand aus dem Dunkel der Leere: »Ui, ein Dichter!«, eine Gemeinheit, die vielleicht auch einen Jim Morrison aus dem Konzept gebracht hätte. Der Dichter trug ein Stück vor, ein Theaterstück, was schwierig ist, und unglücklicherweise ging es in dem Theaterstück um nichts, erklärtermaßen um rein gar nichts. Vielleicht kann man es im Theater als Nichts sehen oder wenigstens nicht sehen, aber es nicht hören können, ist unmöglich. Das Stück hieß »Zwei Hühner werden geschlachtet«, und in dem Stück wurden die zwei Hühner, die das ganze Stück in einen Käfig eingesperrt zu betrachten waren, am Schluss geschlachtet, auf der Bühne sah man das. Ziemlich spektakuläres Stück seinerzeit, wurde später auch prompt verboten. Man schlachtet seine Hühner nicht ungestraft auf der Bühne, aber im Crash ist gar nichts passiert, im Dunkel der vollkommenen Leere blieb es vollkommen still.

Dann las noch ein zweiter und ein dritter Dichter, als vierter las einer, der Herbert Achternbusch hieß. Als erstes räumte er den Platz des Disc Jockeys, der zwischen den Lesungen ein paar heiße Scheiben auflegte, wie er sich in der Art, in der sich Disc Jockeys noch ausdrückten, ausdrückte. Dass er sich da schon schwingen mag, hat ihn der vierte Dichter, der Achternbusch hieß, barsch beschieden, und der Disc Jockey grinste ein wenig verlegen, weil er nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Es hatte ihm offenbar bisher noch niemand gesagt, dass er sich schwingen soll. Er war sonst der König in dem Laden, genauer gesagt der king. Er war zwar auch für Protest und so, total, und Jim Morrison war für ihn der Größte, der Allergrößte, aber was hatte das mit diesem Dichter zu tun? Außer dass er grinste, hatte sich der Disc Jockey noch nicht bewegt. Jetzt hat der sich noch immer nicht geschlichen, sagte der Dichter zu den Rundfunkleuten, als wollte er sich bei ihnen beschweren. Die Rundfunkleute grinsten auch. Sie kauerten neben dem Disc Jockey auf dem Boden und hörten alles nicht direkt, sondern nur über ihre Kopfhörer, denn sie waren schon, wie sie sich auszudrücken pflegen, auf Sendung. Als sie zu grinsen aufhörten, und sie hörten ziemlich schnell zu grinsen auf, schauten sie zunehmend betroffen, wie man schon damals zu solchem Gesichtsausdruck sagen konnte. Er stehe ihm in der Sonne, sagte Herbert Achternbusch zu dem Disc Jockey und war schon auf Sendung; da wurde es dem Disc Jockey zu dumm, und er räumte die Sonne.

Die Rundfunkleute atmeten auf, es konnte offensichtlich losgehen, aber erst zog der Dichter ein vielfach zusammengefaltetes und infolgedessen ziemlich zerknittertes Stück Zeitungspapier aus der Jackentasche, ein außerordentlich umständlicher Vorgang, in dem nichts außer dem Rascheln von Papier auf Sendung war und der auch noch reichlich lang andauerte. Endlich fing er an zu lesen. Es ging entweder um ein Kamel, um das Oktoberfest oder um das Kloster Andechs, so genau ließ es sich schon damals nicht mehr unterscheiden. Plötzlich fluchte er, mitten unter dem Lesen fluchte er, ja kruzifix, hieß es auf einmal im Text, und man wusste nicht, ob es in den Text hineingehörte. Es war still im Dunkel der Leere und der Dichter war sehr laut. Man hatte noch keinen Text bisher gehört, in dem es auf einmal »ja kruzifix« hieß, aber man hatte auch noch nie so einen Text gehört, wie ihn der Dichter Herbert Achternbusch vortrug: als würde einer genauso schreiben, wie er denkt, und das endlos. Kruzifix, schrie er, weil er das, was einmal auf dem Zeitungsfalz gestanden hat, nicht mehr lesen konnte. Weggeschabt die Druckerschwärze vom vielen Umknicken, was er jedoch den Zeitungsleuten anlastete. Auswendig, sagt er, kann er sich an den Text nicht mehr erinnern, aber es sei eine Schweinerei, dass die was ganz was anderes druckten, als was er geschrieben hat, obwohl eigentlich auf dem Falz gar nichts zu erkennen ist. Das gibt’s doch nicht, diese Deppen. Das hat er überhaupt nicht geschrieben, niemals, nie schreibt er sowas, so einen Scheiß schreibt er nicht und so weiter.

Er übersprang dann die fehlende Zeile, verlas sich aber, nachdem er sich schon vorher die ganze Zeit verlesen hatte, immer noch mehr, worüber er immer noch wütender wurde. Arschlöcher, schrie er, Deppen, Schwachköpfe, aber man wusste nicht genau, wen er überhaupt meinte.

Die Rundfunkleute zogen sich die Kopfhörer vom Kopf und fragten sich gegenseitig, ob das jetzt auf Sendung, aber die Kollegen wussten auch nicht, ob voll auf Sendung. Schließlich ist nicht jeder Techniker zugleich ein vollausgebildeter Literaturwissenschaftler. Sie zuckten mit den Schultern, beschlossen aber stillschweigend und gleichzeitig mit den zuckenden Schultern, mit den Köpfen nickend, vorläufig auf Sendung zu bleiben. Machten aber verstörte Gesichter.

Plötzlich haute Herbert Achternbusch in den Tisch, mitten zwischen die heißen Scheiben des Disc Jockeys hinein: und überhaupts, schrie er, und dass es, das möchte er schon einmal gesagt haben, dass es eine Sauerei ist, eine riesengroße Sauerei sei, diese Deppen, diese Arschlöcher, diese Sauköpfe, und dass er hier für 100 Mark, das muss er schon sagen, dass sie ihn dafür am Arsch lecken könnten. Schrie’s und draußen war er, auf der Lindwurmstraße, und ab durch die Unterführung.

Gerd Holzheimer


Friedrich Köllmayr/Edgar Liegl/Wolfgang Sréter (Hg.), Soblau. Kulturzustand München, München 1992, 56 ff.

Überraschung

Jahr: 1969
Bereich: Kunst/Kultur

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